Das Ende der Habsburgermonarchie und die Gründung des ersten jugoslawischen Staates

aus OWEP 1/2018  •  von Fernando Zamola

Dr. Fernando Zamola ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Zusammenfassung

Die Entstehung Jugoslawiens aus dem Zusammenschluss der südslawischen Teile Österreich-Ungarns mit dem Königreich Serbien war von Anfang an durch unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle der Völker innerhalb des neuen Staates, besonders ihrer Autonomierechte, belastet. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung in den Jahren um 1918 nach und vermittelt auch Einblicke in den Forschungsstand zu dieser komplexen Thematik.

I.

2018 wird der 100. Jahrestag des Endes der Habsburgermonarchie und die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen begangen. Wie bei solch bahnbrechenden Jubiläen üblich, bietet es sich an, ein Licht auf die Tragweite dieser Ereignisse für unsere gegenwärtige Gesellschaft und den aktuellen Zeitgeist zu werfen. In einer Epoche wiederauflebender Nationalismen und Zweifel an der Verwirklichung unserer eigenen multinationalen Europäischen Union erscheint eine Neubewertung der Ereignisse von 1918 höchst angemessen. Dieser Artikel bietet einen knappen Überblick über die damaligen Konzepte zur Auflösung und Neubildung von Staaten, sowohl in der gängigen Wahrnehmung als auch in der akademischen Auseinandersetzung. Zudem stellt er einen alternativen Ansatz dar, der darum bemüht ist, die Beharrlichkeit nationaler Interpretationen zu hinterfragen und ein komplexeres Rahmenkonzept zu beleuchten, das sowohl Staaten als auch Nationen als nur bedingte Kategorien ansieht.

Innerhalb des größeren Zusammenhangs, d. h. der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und des damit verbundenen folgenreichen Systemwechsels auf internationaler Ebene, wird das Ende Österreich-Ungarns in den üblichen Narrativen häufig als logische Konsequenz für ein vermoderndes Gebilde beschrieben, das einer bevorstehenden modernen staatlichen Entwicklung nicht gewachsen gewesen wäre. Die multinationale Beschaffenheit wäre für den Fortbestand hinderlich, seine archaischen Strukturen würden letztlich von neuen Staaten abgelöst, die die Völkerschaften vom repressiven und hierarchischen Habsburgerreich befreien würden. Paradoxerweise wird Jugoslawien zunächst als Paradebeispiel für das Modell der „nationalen Selbstbestimmung“ begrüßt, nur um später wegen derselben nationalen Probleme verurteilt zu werden, die letztlich zu seinem Niedergang führen sollten.

Solch ziemlich eindeutige Schlussfolgerungen neigen dazu, auf einer Reihe von theoretischen Annahmen aufzubauen, die „Multinationalität“ als inhärentes Problem und „Nation“ als einzige rechtmäßige Grundlage politischer Herrschaft ansehen. Über den problematischen Charakter dieser Formulierung hinaus erschweren zwei grundsätzliche Hindernisse die Anwendung dieses Rahmenkonzepts auf den konkreten Fall der Habsburgermonarchie und Jugoslawiens.

Einerseits wurde die Vorstellung von nationaler Selbstbestimmung als rechtmäßiges Konzept zur politischen Organisation erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs entwickelt, zunächst 1917 von Lenin formuliert und 1918 im Zuge der Wilson-Administration umgesetzt, allerdings nur bruchstückhaft.1 Es ist also sinnlos zu behaupten, die am Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und an der Schaffung Jugoslawiens beteiligten Akteure hätten während ihres Handelns die Ansicht vertreten, dass rechtmäßige politische Herrschaft nur aus der nationalen Selbstbestimmung hervorgehen könne. Vielmehr erwogen diejenigen Eliten, die nationale Autonomieansprüche formulierten, durch ihre Sprache, Erwartungen und konkreten Ansprüche erstmals genau in diesem Moment eine Souveränität außerhalb des konstitutionellen Gefüges der Monarchie. Den Befürwortern dieses Konzepts war nicht klar, welche Folgen das Konzept der Selbstbestimmung 1918 haben würde, geschweige denn welche Folgen es für diejenigen haben sollte, die ihm unterworfen sein würden.

Anderseits ist es eine Fehleinschätzung, Nationen als Handelnde in politischen Prozessen zu bezeichnen. Obwohl in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass man Personengruppen nur sehr bedingt als politische Akteure bezeichnen kann, passt der Versuch, die Rolle von Einzelpersonen samt ihrer Zweifel und Widersprüche nachzuzeichnen, nicht gerade gut zu den eindrucksvollen Narrativen nationaler Emanzipation innerhalb einer niedergehenden Doppelmonarchie.2

Jenseits der volkstümlichen Erzählung führte der augenfällige Zusammenhang zwischen dem Ende der Habsburgermonarchie und der Gründung des ersten Jugoslawien nicht zu einem gemeinsamen Ansatz und damit auch nicht zu einer einheitlichen historiografischen Debatte. So sehr in den Diskussionen über die Zerschlagung Österreich-Ungarns eingeräumt wurde, dass durch seinen Niedergang neue Staaten entstanden, wurde jedoch ihre Entstehung nicht als ein integraler Bestandteil dieses Auflösungsprozesses gesehen. Zur gleichen Zeit bezeichnen Erzählungen zur Entstehung des ersten jugoslawischen Staates den Zusammenbruch der Doppelmonarchie durchaus als unerlässlichen Kontext – die Genese des neuen Staates wird jedoch fast durchgängig als logische Konsequenz eines historischen Prozesses angesehen, ohne irgendeine Reflexion über seine eher zufällige innere Natur.

Im Anschluss an dieses Bündel von Überlegungen ist seit dem letzten Jahrhundert eine internationale Debatte über die Natur des Zusammenbruchs des Habsburgerreiches im Gang, parallel dazu – weniger bekannt, aber auch international – über die Gründung Jugoslawiens. Die Habsburg-Debatte dreht sich um zwei Achsen: Die erste bezieht sich auf die Unvermeidbarkeit des Untergangs aufgrund struktureller Defizite, vor allem infolge des multinationalen Charakters des Reichs, und der Belastungen durch den Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen. Die zweite, die sich darauf bezieht, ob die Monarchie innerlich zusammenbrach oder von außen zerstört wurde, ist im Moment in der historiografischen Debatte etwas in den Hintergrund getreten, hängt allerdings mit der ersten untrennbar zusammen.3

Demgegenüber spannen die Debatten innerhalb Jugoslawiens einen weiten Bogen von der These, die Entstehung sei ein unausweichlicher Prozess gewesen, bis zur These einer Zwangsunion. Folgt man der ersten Version, dann ist Jugoslawien lediglich ein weiteres Beispiel eines breiteren Prozesses der Nationalisierung und Modernisierung des europäischen Kontinents. Ebenso wie italienische und deutsche Eliten Programme zur nationalen Vereinigung ihrer Völker im 19. Jahrhundert entwickelten, bereiteten jugoslawische Eliten trotz des Widerstands reaktionärer Kräfte im multinationalen Habsburgerreich erfolgreich die Bildung ihres eigenen Nationalstaats vor. Verfechter der zweiten Version weisen vehement auf die Mängel innerhalb der neuen Union hin, die die einzelnen Völker ohne Rücksicht auf deren Zustimmung zusammenpferchte. Unabhängig von diesen beiden Modellen gibt es bis heute unter Historikern eine noch interessantere Debatte über die Ursachen der Schwäche Jugoslawiens. Während einige Autoren die Unvereinbarkeit der bereits bestehenden kroatischen und serbischen nationalen Ideologien und Traditionen als Hindernis für das neue Gemeinwesen hervorheben, unterstreichen andere die Unfähigkeit der vorherrschenden Eliten für Kompromisse als Haupthindernis für eine gedeihliche Entwicklung Jugoslawiens zwischen den Weltkriegen.

II.

Dieser Artikel möchte über die bestehenden Debatten hinaus über die Gründung des ersten jugoslawischen Staates nachdenken, indem er sich auf die vielen, auch eher zufälligen und bedingten Prozesse bei der Zerschlagung und Schaffung von Staaten konzentriert – Prozesse, die nicht voneinander getrennt werden können. Hebt man anstelle der Narrative einer Unvermeidbarkeit und zwangsläufigen Entwicklung, egal ob für Habsburg oder für Jugoslawien, greifbare Handlungen und Optionen der in diese Geschehnisse verwickelten politischen Akteure hervor, dann entsteht ein komplexeres Narrativ. Dabei wird es möglich, die individuellen Wahlmöglichkeiten im lokalen Kontext mit den auf internationaler Ebene stattfindenden Transformationen zu verknüpfen. Insofern wäre es vernünftig, den Zeitrahmen der Analyse auf die letzten Kriegsjahre einzuschränken und den Fokus auf die unter dem Hause Habsburg herrschenden Eliten, auf die serbische Regierung und die Führer der im Exil lebenden Südslawen aus Österreich-Ungarn, auf die Entente-Mächte und schließlich auf im Lande selbst agierende Eliten der habsburgischen Südslawen zu legen.

Ebenso wie strukturelle Faktoren, etwa Kriegsmüdigkeit und ihre Folgen, spielen Versorgungsprobleme und nationalistische Agitation im Kontext der 1918 getroffenen Entscheidungen eine Rolle. Dennoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es 1917 noch unmöglich gewesen wäre, diese Geschehnisse vorherzusagen. Mit dem Tod Kaiser Franz Josephs am 21. November 1916 erlitt einer der Pfeiler des Loyalitätsgefüges einen folgenschweren Schlag. Der neue Kaiser Karl sah sich vor die Wahl gestellt, bis zu einem Ende des Kriegs die militärische Kontrolle über die Gesellschaft fortzusetzen und zu verschärfen oder die für die Zeit des Kriegs geltenden Ausnahmemaßnahmen abzuschaffen und zur demokratisch-konstitutionellen Herrschaft im Lande zurückzukehren – er traf aber keine Wahl. Die Lockerung der Zensur und Wiedereinberufung des Reichsrats, also des Parlaments, führte dazu, dass wieder offen über die politische Zukunft des Reichs diskutiert wurde und die seit Langem in fast allen Gesellschaftsschichten herrschende Unzufriedenheit immer stärker zutage trat, was letztlich für den Zusammenhalt der Monarchie fatale Folgen haben sollte. Begrenzte Zugeständnisse mündeten ebenso wie in anderen Teilen Europas in Streiks und Demonstrationen ein, den Vorboten noch größerer sozialer Unruhen. Festzuhalten bleibt: Wien entschied sich, trotz des drohenden Zusammenbruchs der Heimatfront weiterhin die Kriegsführung des deutschen Alliierten zu unterstützen – dennoch ist es, selbst wenn Wien anders entschieden hätte, nicht so einfach zu verstehen, was dann 1918 tatsächlich geschah.

Auf der anderen Seite der Front gab die serbische Exilregierung unter der Führung von Nikola Pašić selbst nach der militärischen Niederlage von 1916 ihre Hoffnungen und Träume nicht auf, nicht nur den österreichischen Angriff zurück zu schlagen, sondern auch die Serben, Kroaten und Slowenen zu befreien und einen jugoslawischen Staat zu bilden, wie es bereits im Dezember 1914 in der Deklaration an das Nationalparlament in Niš festgelegt worden war. Diese Bestrebungen kollidierten allerdings mit territorialen Zugeständnissen der Entente-Mächte an die Regierung Italiens, die auf dem geheimen Londoner Abkommen von 1915 basierten. Die komplizierte Beziehung zu Vertretern des jugoslawischen Komitees in London, ehemaligen habsburgischen Parlamentariern wie Frano Supilo und Ante Trumbić, fügten der Frage nach dem Staatstyp des zukünftigen Jugoslawien einen weiteren Grad an Unsicherheit zu. Bis kurz vor Kriegsende waren der genaue Verlauf der Landesgrenzen und die verfassungsrechtliche Ordnung noch völlig unbestimmt.4

III.

Aus Sicht der Entente-Mächte bildeten der Zusammenbruch Russlands als einer der wichtigsten Kriegsbeteiligten nach dem drei Jahre währenden schrecklichen Konflikt und der Kriegseintritt der USA einen Wendepunkt in den Zielen der Allianz gegen die Mittelmächte. Die im Januar 1918 von Woodrow Wilson im Rahmen von 14 Punkten erwogene Neugliederung Osteuropas bekundete zwar die Förderung einer gerechteren und demokratischeren Neuordnung als Teil einer international angelegten Umstrukturierung von Machtbeziehungen, erwähnt jedoch an keiner Stelle die Frage der nationalen Selbstbestimmung oder die ausdrückliche Dekonstruktion der Habsburgermonarchie. Paradoxerweise wurde das Konzept der nationalen Selbstbestimmung von der revolutionären Regierung in Russland seit November 1917 propagiert und erst später von der Wilson-Administration übernommen, zu einem großen Teil aus Furcht, die revolutionäre Bewegung könne sich inmitten des sozialen Chaos, in dem Mittel- und Osteuropa in den letzten Monaten des Kriegs versank, ausbreiten.

Letztlich standen die südslawischen Eliten, die sich während des Krieges in Österreich-Ungarn aufhielten, der unmöglichen Aufgabe gegenüber, ihre langjährigen unerfüllten Aspirationen in Bezug auf politische Autonomie mit der Loyalität gegenüber Wien inmitten des militärischen Konflikts in Einklang zu bringen. Dass sie schließlich die Vereinigung mit Serbien zwischen Oktober und Dezember 1918 fast einstimmig akzeptierten, muss im Zusammenhang mit dem Verlust der Kontrolle über Recht und Ordnung im ländlichen Raum nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Armee gesehen werden. Eine weitere Rolle spielte die Gefahr einer territorialen Zersplitterung der betroffenen Regionen, so wie sie die italienische Regierung unter Premierminister Orlando anstrebte. Das gleichermaßen von Hoffnung und Beklommenheit getragene Gesuch der habsburgisch-südslawischen Delegation (angeführt von Svetozar Pribićević, Anton Korošec und Ante Pavelić), zur Vereinigung der südslawischen Teile des zerbrochenen Staates mit Serbien fand in einem Klima schwindender Optionen statt, in dem die alte Sprache des historischen Staatsrechts für Autonomie durch das neue Konzept der nationalen Selbstbestimmung ersetzt wurde.5

IV.

Weder der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie noch die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen waren letztlich unvermeidbare Geschehnisse. Sie resultierten aus den Entscheidungen der politischen Akteure, die auf Teilwissen basierten und innerhalb eines sich rasch wandelnden Kontextes auf regionaler ebenso wie internationaler Ebene getroffen wurden: Die Eliten Jugoslawiens stimmten aus pragmatischen Gründen einer jugoslawischen Lösung zu. Das aus unterschiedlichen Quellen genährte Konzept des „Jugoslawismus“ schien die logischste und rationalste Alternative in einer höchst instabilen und unvorhersehbaren Gesamtlage zu sein, in der die Gefahr einer sozialen Revolution oder von Gebietsverlusten an andere siegreiche Mächte allgegenwärtig war.

Zweifellos ähnelten die Herausforderungen, denen der neue jugoslawische Staat gegenüberstand, in vielerlei Hinsicht jenen der untergegangenen Monarchie, wenn es um die Integration von Bevölkerungsschichten ging, die bisher von einer demokratischen Mitbestimmung ausgeschlossen waren, oder die Probleme bei der Ausgestaltung von Autonomieforderungen. Es wäre falsch daraus zu schließen, der Streit um die Multinationalität habe letztlich den Niedergang Jugoslawiens eingeläutet – dieselbe Schlussfolgerung ließe sich auch für Österreich-Ungarn ziehen. Ob dieses Fazit für unsere multinationale Realität im heutigen Europa von Bedeutung sein kann oder nicht, muss der Leser für sich entscheiden.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.


Fußnoten:


  1. Zum Konzept der Selbstbestimmung vgl. Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007. ↩︎

  2. Zum Nationswerdungsprozess vgl. Ulf Brunnbauer, Hannes Grandits (Hrsg.): The Ambiguous Nation. Case Studies from South-Eastern Europe in the 20th Century. München 2013. ↩︎

  3. Einen Überblick über diese Diskussion bietet Pieter M. Judson: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge/London 2016. ↩︎

  4. Zu den serbischen Kriegszielen vgl. z. B. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. ↩︎

  5. Einen Überblick über den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Österreich-Ungarn und das drohende Eingreifen Italiens bietet Fernando Veliz: The Politics of Croatia-Slavonia 1903-1918. Nationalism, State Allegiance and the Changing International Order. Wiesbaden 2012. ↩︎