OWEP 1/2018

OWEP 1/2018

Schwerpunkt:
Weichenstellungen in Europa

Editorial

Als „Epochenjahr“ charakterisiert diese Ausgabe unserer Zeitschrift das Jahr 1918, mit dem zumeist vor allem das Ende des Ersten Weltkriegs verbunden wird, jenes Krieges, der auch als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird.

1918 – ein „Epochenjahr“? Häufiger wird ja eher das Vorjahr, nämlich 1917, so bezeichnet, weil in diesem Jahr die Revolutionen in Russland stattfanden und die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten. Beide Ereignisse hatten in der Tat epochale Folgen für die Weltgeschichte. Aber mehr noch als 1917 steht das Folgejahr für eine echte Zeitenwende. Denn nun zerfallen in Europa die großen Imperien, die Habsburgermonarchie, das Deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich. Die beiden Kartenausschnitte auf der folgenden Seite zeigen die gewaltigen geopolitischen Veränderungen. An die Stelle der zuvor vermeintlich stabilen großen Monarchien treten nun zahlreiche Nationalstaaten.

Mit der Etablierung dieser neuen Nationalstaaten beginnt das so genannte „kurze 20. Jahrhundert“, ein „Jahrhundert politischer Gewalt und des mühsamen Aufstiegs der Demokratie“, wie es der Politologe Dieter Segert in seinem Beitrag zu unserem Heft formuliert. Doch auch wenn sich vor allem die Machtverhältnisse und Grenzziehungen mit dem „Epochenjahr“ 1918 gravierend veränderten, so hatten schon zuvor diverse Wandlungs- und Modernisierungs-, ja auch Demokratisierungsprozesse eingesetzt, die sich nun ihren Lauf bahnten.

Die Beiträge in diesem Heft beleuchten sehr verschiedene Facetten der Zäsur des Jahres 1918 und auch der damit verbundenen „Weichenstellungen“, die nicht nur für Europa, sondern für die Weltordnung im Ganzen ihre Konsequenzen hatten. Nach dem Ende des großen Krieges brach nun keineswegs eine dauerhafte Herrschaft des Friedens an, vielmehr zeigten sich in der „Nachkriegsordnung“ bereits die Vorboten künftiger Konflikte. Andererseits waren Prozesse in Gang gekommen oder wurden beschleunigt, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso wie im Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der Kultur und Technik auf den Anbruch einer neuen Epoche, auf die Entstehung des gegenwärtigen Europa hindeuten.

Die Redaktion

Kurzinfo

1918, vor 100 Jahren, endete der Erste Weltkrieg, den viele Historiker als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen. Diese pointierte Formulierung umschreibt, was den damals lebenden Menschen in Europa nur zu klar war, heute aber oft vergessen wird: Seit Herbst 1918 schwiegen zwar die Waffen zwischen der Entente und den Mittelmächten, und an die Stelle des Kriegs trat die Diplomatie, die zu den Friedensschlüssen der kommenden Jahre führte; vielerorts gingen die Kämpfe in Europa jedoch weiter, teils zwischen den Staaten, teils als Bürgerkrieg. Zugleich waren die folgenden Jahre trotz der materiellen und geistigen Verwüstungen, die der Weltkrieg hinterlassen hatte, eine Zeit des Aufbruchs, der kulturellen und wissenschaftlichen Blüte, die unter dem Schlagwort „Goldene zwanziger Jahre“ die breiten Massen allerdings kaum erreichte und letztlich nur von kurzer Dauer war.

„Weichenstellungen in Europa“ lautet der Titel, den die Redaktion der ersten Ausgabe des Jahres 2018 gegeben hat. Damit soll deutlich werden, dass die politisch-gesellschaftliche Gestalt Europas, wie sie sich heute darstellt, auf die Veränderungen nach Ende des Ersten Weltkriegs zurückgeht. Vier große Monarchien, das Deutsche Kaiserreich, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und – bereits 1917 – das Russische Zarenreich brachen zusammen, vor allem in Mittel-, Ost- und Südosteuropa entstanden neue Staaten mit z. T. strittigen Grenzen, die den Keim für neue, oft bis in die Gegenwart reichende Konflikte legten. Es ist leider nicht zu leugnen: Viele Probleme der heutigen Europäischen Union hängen mit kaum oder gar nicht gelösten Krisensituationen jener Umbruchsphase zusammen, weshalb es wichtig ist, sich mit dieser Zeit etwas näher zu befassen. Die Beiträge des aktuellen Heftes wollen dazu ein wenig beitragen.

Die beiden ersten Beiträge des Heftes führen die Leserinnen und Leser in die Geschichte des Ersten Weltkriegs und ziehen daraus Linien zur heutigen Lage Europas. Vorgeschaltet ist eine Skizze, die die politische Landkarte Europas um 1913 und nach 1920 zeigt. Mit dem Aufsatz „1918 – Eine Welt im Umbruch“ vermittelt der an der Universität Jena tätige Historiker Dr. Jochen Böhler in knappen Strichen einen Überblick zu Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs speziell für Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Direkt daran an schließen die Überlegungen des emeritierten, zuletzt an der Universität Wien lehrenden Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Dieter Segert. Im Mittelpunkt seines Beitrags steht die weitere Entwicklung der vier großen im Gefolge des Ersten Weltkriegs untergegangenen Monarchien (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Russisches Reich), wobei er deren Weg bis in die Gegenwart verfolgt und unter dem Leitgedanken „Entwicklung zur Demokratie“ analysiert.

Die folgenden drei Texte des Heftes richten den Blick auf drei Länder, deren Geschichte vor einhundert Jahren eine unerwartete Wendung nahm. Dr. Kimberly Lamay Licursi, Dozentin für Geschichte der USA am Siena College in Loudonville, NY, schildert das Eingreifen der USA in den Ersten Weltkrieg, das sich nicht nur auf dem militärischen Sektor auswirkte, sondern auch wirtschaftliche und kulturelle Folgen hatte und den Aufstieg der USA zur Weltmacht des 20. Jahrhunderts markierte. Österreich hingegen war einer der Hauptverlierer des „Großen Krieges“ und schrumpfte nach dem Zerfall der Donaumonarchie zu einem Kleinstaat, der unmittelbar nach dem Krieg, wie der Beitrag des an der Universität Wien lehrenden Historikers Prof. Dr. Peter Becker eindringlich aufzeigt, wirtschaftlich und finanziell am Boden lag. Nur durch massive Anstrengungen im Innern und ausländische Unterstützung, teilweise auch aus ehemaligen Kronländern, konnte sich das Land in den zwanziger Jahren erholen. Wieder eine andere Konstellation steht im Mittelpunkt des Essays von Dr. Fernando Zamola, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er blickt auf die südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns und zeichnet ihren Weg zur Vereinigung mit dem Königreich Serbien und damit zur Bildung Jugoslawiens nach dem Ersten Weltkrieg nach, der – so seine These – durchaus nicht zwangsläufig war; vielmehr war das neue Staatswesen von Anfang an mit Problemen belastet, die letztlich zu seinem Zerfall in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts führten.

Wie schon einführend bemerkt, waren die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg von zahlreichen Innovationen in Wissenschaft und Technik geprägt; teilweise wirkte der Krieg regelrecht als Katalysator. Genau diese Veränderungen stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Dr. Thomas N. Kirstein und Alwin Cubasch, beide tätig im Bereich Kultur- und Wissensgeschichte der Technischen Universität bzw. der Humboldt-Universität zu Berlin. Anhand der Bereiche Mobilität, Militärwesen, Produktion von Kunststoffen und Computern zeigen sie, wie technische Entwicklungen jener Jahre das Leben der Menschen im 20. Jahrhundert verändert haben.

Einem ganz anderen Bereich, in dem es nach dem Ersten Weltkrieg zu einem gesellschaftlichen Aufbruch kam, widmet sich Dr. Kerstin Wolff, Mitarbeiterin des Forschungsinstituts und Dokumentationszentrums AddF – Archiv der der deutschen Frauenbewegung in Kassel. Sie zeichnet den langen Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert nach, das erst mit Ende des Deutschen Kaiserreichs und dem Übergang zur Weimarer Republik eingeführt wurde. Von einer wirklichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern konnte allerdings noch lange keine Rede sein, das Frauenwahlrecht war letztlich nur ein Etappenziel.

Die beiden abschließenden Beiträge, verfasst mit Mitgliedern der OWEP-Redaktion, lenken den Blick auf gesellschaftlich relevante Größen, die ebenfalls vom Epochenwandel berührt wurden. Prof. Dr. Thomas Bremer untersucht die Veränderungen der Kirchen im 20. Jahrhundert. So öffnete z. B. der Wegfall des Summepiskopats in den evangelisch geprägten Ländern des Deutschen Reiches den Weg für neue Strukturen; andere Veränderungen bestimmten die Entwicklung der römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie, wobei letztere in der Sowjetunion seit den zwanziger Jahren aus der Position der Staatskirche in die Lage einer unterdrückten Minderheit geriet. Prof. Dr. Michael Albus befasst sich mit dem Journalismus im frühen 20. Jahrhundert, der damals zu seinen bis heute gültigen Ausdrucksformen gefunden hat. Im Mittelpunkt seines Essays steht eine bedeutendsten Persönlichkeiten jener Jahre, der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch.

Ein kurzer Ausblick auf Heft 2/2018, das im Mai 2018 erscheinen wird: Unter dem Schwerpunkt „Wege zur Versöhnung“ wird das Heft neben grundlegenden Beiträgen zum Begriff „Versöhnung“ Dokumente und Beispiele aus dem weiten Themenfeld „Aussöhnung zwischen verfeindeten Völkern“ enthalten.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

3
1918 – Eine Welt im Umbruch
Jochen Böhler
11
Lernen aus 1918: Bedingungen der Demokratie
Dieter Segert
23
Das Eingreifen der USA in den Ersten Weltkrieg – Meilenstein auf dem Weg zur Weltmacht
Kimberly Lamay Licursi
31
Österreich nach 1918: Aufbruch in eine neue, kleinteilige Welt
Peter Becker
39
Das Ende der Habsburgermonarchie und die Gründung des ersten jugoslawischen Staates
Fernando Zamola
46
1918 – 2018: Wie Technik unsere Welt verändert
Thomas N. Kirstein und Alwin Cubasch
54
„Auch wir wollen die Wahl haben!“ Der lange Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland
Kerstin Wolff
63
Die Kirchen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert
Thomas Bremer
72
Egon Erwin Kisch – Nur ein „rasender Reporter“?
Michael Albus

Summary in English

1918, a hundred years ago, marks the end of World War I which many historians denote as the „great seminal catastrophe of the 20th century“. This trenchant formulation paraphrases what the people of that time exactly knew but what frequently falls into oblivion nowadays. As of fall 1918, the weapons between the Entente and the Central Powers admittedly remained unused and the war was replaced by the diplomacy that led to the peace agreements of the following years. In many places of Europe though, the battles continued, partly between the states partly as a civil war. At once, the following years were, despite the material and spiritual devastations left by the global war, an era of departure, a cultural and scientific heyday. The masses though didn´t really profit from those so-called „Golden Twenties“, ultimately a short lapse of time. The current issue of our quarterly directs the focus to the political upheavals of those years that characterize Europe until today. Alongside with articles emphasizing historic aspects (i. a. regarding the history of Austria after 1918, the emergence of Yugoslavia and the US´ role during World War I) the issue also contains articles addressing the developments in science and engineering, the altered role of the woman within society and new grounds that the churches broke after 1918.