Die Kirchen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert

aus OWEP 1/2018  •  von Thomas Bremer

Prof. Dr. Thomas Bremer unterrichtet Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster und ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Zu den Folgen des Ersten Weltkriegs gehört auch die Neuorientierung der Kirchen nach dem Ende der Monarchie in Russland, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Einerseits gingen die Rechte und Pflichten als Staatskirche verloren, andererseits konnten sich katholische und evangelische Christen nun in vielen europäischen Ländern offener als zuvor mit den Herausforderungen der Moderne auseinandersetzen. Vor ganz andere Probleme sahen sich die zumeist orthodoxen Christen in der Sowjetunion gestellt, wo die neue Staatsordnung kirchliches Leben massiv einschränkte. Der nachfolgende Beitrag zeichnet die Entwicklung der Kirchen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zwischen Tradition und Aufbruch nach.

Kalendarisch begann das 20. Jahrhundert am 1. Januar 1901 – doch im Sinne der Rede vom „kurzen“ 20. Jahrhundert, das von Gewaltregimen, massiver Unterdrückung und einer politischen Neuordnung geprägt war, begann es im Spätherbst 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Imperien, die bisher die Mitte und den Osten Europas dominiert hatten, zerfielen und änderten ihre politischen Systeme, zahlreiche neue Staaten entstanden, und viele gesellschaftliche Entwicklungen, die symbolisch für den Anbruch einer neuen Epoche stehen, brachen sich jetzt Bahn. Das 20. Jahrhundert war nicht mehr geprägt durch die anscheinend stabilen Monarchien seines Beginns, sondern durch demokratische Aufbrüche, Rückschläge und Neuanfänge. Die vermeintlich lineare Entwicklung der Geschichte endete 1918 in vielfältiger und irreversibler Differenzierung.

Klar ist, dass diese Ereignisse und Entwicklungen auch Folgen für die Kirchen und Religionsgemeinschaften hatten. Die Kontexte und Strukturen, in denen sie lebten und tätig waren, änderten sich, und das hatte zum Teil massive Folgen für sie selber, bis hin zu großen strukturellen Veränderungen. Kirchen mit einer besonderen Nähe zu den staatlichen Strukturen waren in besonderem Maße betroffen, wenn sich diese Strukturen änderten.

Die folgenden Überlegungen sollen die Bereiche darstellen, in denen die Religionsgemeinschaften am meisten Umbrüchen unterworfen waren – oder, wie es im Fall der ökumenischen Beziehungen der Fall war, Umbrüche aus eigener Entscheidung in Angriff nahmen. Dabei wird der Schwerpunkt auf den christlichen Kirchen liegen.

Unabhängigkeit vom Staat

Wenn man von nicht anerkannten Minderheitskirchen absieht, erkannten alle Kirchen in Europa die vor dem Ersten Weltkrieg bestehende Ordnung auf dem Kontinent zumeist vorbehaltlos als gegeben an. Die großen Kirchen waren überall dort, wo sie in der Mehrheit waren, Unterstützerinnen der politischen Systeme. Die katholische Kirche verlangte von katholischen Staaten die Durchsetzung der kirchlichen Lehre auch im staatlichen Bereich; das führte zu Konflikten wie etwa im Verhältnis zu Italien, das aufgrund von liberalen und nationalen Gründen (und gegen den Kirchenstaat) gegründet worden war. Doch hielt die Kirche die Monarchie für die gottgewollte Staatsform. In nichtkatholischen Staaten hingegen verlangte die katholische Kirche die Anerkennung der Religionsfreiheit für Katholiken (die man Andersgläubigen in katholischen Staaten zu gewähren nicht bereit war).

Die evangelischen Kirchen zeichneten sich ebenfalls durch eine große Nähe zum Staat aus. In der Regel waren die Staatsoberhäupter, also fast überall die Monarchen, auch die formalen Oberhäupter der Kirche. Die faktische Kirchenleitung lag in den Händen von Amtsträgern und Gremien, doch verstanden sich die Herrscher als Schutzherren des Glaubens und der Kirche; umgekehrt wurden sie auch von den Kirchen als solche anerkannt und hatten manchmal weitreichende Privilegien. Das führte im Deutschen Reich zu solch absurden Gegebenheiten, dass etwa der jeweilige (katholische) König von Bayern auch der „summus episcopus“ der evangelischen Kirche war, auch wenn diese faktisch von einem Konsistorium geleitet wurde.

Ähnlich war es in der Orthodoxie. Sowohl in Russland als auch in den jüngeren südosteuropäischen Staaten, die sich seit dem 19. Jahrhundert allmählich vom Osmanischen Reich emanzipiert hatten, waren die Monarchen selbstverständlich orthodox, und die Orthodoxie war Staatsreligion. Der Austritt aus der orthodoxen Kirche war zumeist nicht möglich.

Diese strukturellen Ähnlichkeiten hatten Auswirkungen in vielen Bereichen. An erster Stelle ist hier das Schulwesen zu nennen, das fast überall von den Kirchen kontrolliert wurde oder auf das sie wenigstens wesentlichen Einfluss nehmen konnten. Kirchliche Unterstützung politischer wie militärischer Unternehmungen gehörte ebenso dazu wie die religiöse Verbrämung staatlicher Identitätsstiftungen – historische Ereignisse, auf die sich die Staaten zur eigenen Legitimierung beriefen, wurden also in einer religiösen Perspektive interpretiert.

Über allem stand die seit dem 19. Jahrhundert immer stärker gewordene Idee der Nation. Das nationale Bewusstsein wurde dominanter, und es unterstützte und stärkte die Zusammengehörigkeit zwischen Bevölkerung, Kirche und Staatsführung. Soziale Schichtungen und Spannungen existierten natürlich nach wie vor, doch wurden sie vom Nationalgefühl überlagert. Erst nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich das, und in vielen Staaten traten die sozialen Unterschiede in den Vordergrund.

All das änderte sich nun. Die Abschaffung der bisherigen Herrschaftssysteme brachte auch das Ende der bisherigen festgefügten Beziehungen zwischen den staatlichen Strukturen bzw. den Herrschern und den Kirchen. Die evangelischen Kirchen entwickelten Modelle zu ihrer Verwaltung in Selbstverantwortung, die zumeist einen obersten Geistlichen (Landesbischof, Kirchenpräsident, Superintendent) als Oberhaupt vorsahen. Das bisherige „landesherrliche Kirchenregiment“ bestand nicht mehr. Synoden, in der Zeit der Reformation als Provisorium betrachtet, übernahmen nun die Verantwortung für die Kirchenleitung.

In einer ähnlichen Lage befand sich zunächst die Orthodoxie in Russland, wo der Zar nach der Februarrevolution 1917 abgedankt hatte. Wenige Monate später, im August 1917, konstituierte sich ein Landeskonzil der russischen Orthodoxie, das im Oktober die Leitungsstruktur der Kirche änderte und das Amt des Patriarchen wieder einführte, das es seit zwei Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Die Kirche verlor jedoch praktisch gleichzeitig, im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution und den damit einhergehenden massiven Veränderungen, alle Privilegien und praktisch ihren gesamten Besitz. Anfang 1918 wurde ein Dekret veröffentlicht, das Kirche und Staat voneinander auf allen Ebenen und in allen Bereichen trennte. Sofort setzte eine massive Verfolgung von Kirchenvertretern und Gläubigen ein, die die einst so mächtige Kirche im Laufe der Jahre auf wenige Reste reduzierte.

Die katholische Kirche wusste sich lange Zeit mit den neuen Verhältnissen nicht anzufreunden. Viele Bischöfe hielten – in Übereinstimmung mit dem päpstlichen Lehramt des 19. Jahrhunderts – die Demokratie für eine falsche Staatsform, die dem göttlichen Naturgesetz widerspreche. Katholische Laien, die ihr Engagement in den Aufbau einer besseren und gerechteren demokratischen Gesellschaft setzten, mussten das nicht selten gegen den expliziten Willen der Hierarchen tun. Papst Benedikt XV., der von 1914 bis 1922 amtierte, hatte durch intensive Friedensinitiativen versucht, den Krieg zu beenden, ohne damit Erfolg zu haben. Seine vorsichtigen Versuche einer Anerkennung der neuen Realitäten (etwa 1919 die Aufhebung des Verbots für italienische Katholiken, an Wahlen teilzunehmen, oder die Annäherung an das laizistische Frankreich) hatten jedoch kaum Auswirkungen auf den Rest des Kontinents.

Es gab auch eine Gruppe von Kirchen, die die Befreiung von der staatlichen Bevormundung als positive Entwicklung sahen, nämlich diejenigen, die vorher als Minderheiten unterdrückt waren und jetzt frei agieren konnten. Das betrifft etwa die katholische und einige evangelische Kirchen in Russland. Sie begrüßten zunächst das Ende der Monarchie und die (vermeintliche) Religionsfreiheit. Die bolschewistische Regierung unterstützte anfangs sogar solche Kirchen, um die Macht der Orthodoxie brechen zu können. Nach kurzer Zeit traf jedoch auch sie die allgemeine Religionsverfolgung, und sie wurden entweder erheblich dezimiert bzw. ganz vernichtet, oder sie konnten nur noch im Untergrund weiterexistieren.

Neue Abhängigkeit vom Staat

Neben der Freiheit vom Staat entwickelten sich praktisch gleichzeitig auch neue Abhängigkeiten der Kirchen von den Staaten, in denen sie nun lebten. Das gilt nicht für das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches, weil die Weimarer Verfassung die Selbstständigkeit der Religionsgemeinschaften festschrieb und die Beziehungen zwischen ihnen und dem Staat nach und nach in Konkordaten und Staatsverträgen regelte. Für die Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs war die Situation sehr unterschiedlich: Im überwiegend katholischen Österreich, in der Tschechoslowakei mit den zwei unterschiedlichen Landesteilen, in Ungarn und im religiös gemischten Jugoslawien entwickelten sich verschiedene Modelle des Staat-Kirche-Verhältnisses. Die Redeweise von einer „neuen Abhängigkeit“ gilt wohl am ehesten für die orthodoxe Kirche in Serbien, die nun für das ganze Staatsgebiet des neugeschaffenen Jugoslawien zuständig war und sich auch als Staatskirche in dem Sinne verstand, als der König orthodox war und die Zwischenkriegsregierungen (wie auch die anderen staatlichen Strukturen) ebenfalls vorwiegend orthodox geprägt waren. Ähnliches gilt für die Balkanstaaten Bulgarien und Rumänien, wo orthodoxe Monarchien in enger Verbindung mit den orthodoxen Kirchen des jeweiligen Landes standen.

Die Situation in der jungen Sowjetunion war besonders bemerkenswert: Die neuen Herrscher haben sehr rasch mit einer brutalen Kirchen- und Religionsverfolgung begonnen. Zu den administrativen Einschränkungen gehörte, dass der Staat die Kirchen nicht mehr als Religionsgemeinschaften betrachtete, sondern sie sich vielmehr unter dem allgemeinen Vereinsrecht organisieren mussten. Außerdem erkannten die Herrscher nicht die bischöfliche Struktur der Kirche an, sondern nur die einzelnen Gemeinden, die sich jeweils bei den Behörden registrieren lassen mussten und die formal die Arbeitgeber der Priester waren. Diese Maßnahmen ermöglichten dem Staat einen einfacheren Zugriff auf die Kirchen, aber es zwang diese auch, sich mit dem Staat zu arrangieren, wollten sie nicht in der Illegalität wirken (wie es einige Gruppen vorzogen, die aber zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen). Auch das lässt sich als eine Art von Abhängigkeit vom Staat beschreiben – dieses Mal allerdings als sehr einseitige und machtlose Abhängigkeit von einem antireligiösen Staat, der seine Macht skrupellos gegen die Kirche ausnutzte.

Das Abhängigkeitsverhältnis sollte sich später in besonderem Maße zeigen, als der Sowjetstaat nach dem Zweiten Weltkrieg die orthodoxe Kirche nicht mehr gewaltsam bekämpfte, sondern sie für seine Zwecke nutzen wollte. Die Statements von Kirchenvertretern im Ausland, die die sowjetische Politik verteidigten, legen davon Zeugnis ab. Es ist allerdings eine schwierige moralische Frage, welches Verhalten in dieser Situation angemessen gewesen wäre, zumal die Sowjetunion für ihre Bewohner durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg erheblich an Legitimierung gewonnen hatte. Die grundsätzliche Zustimmung zum Staat brachte der Kirche die Möglichkeit, existieren und in engen Grenzen wirken zu können. Der Preis, den sie dafür zahlte, war die Verleugnung von Religionsverfolgung im Lande.

Zwischenkirchliche Zusammenarbeit

Das 20. Jahrhundert ist auch das „ökumenische Jahrhundert“ genannt worden, und tatsächlich sind die Beziehungen zwischen den Kirchen erheblich besser geworden, als sie jemals zuvor waren. Die Anfänge der ökumenischen Bewegung sind im 19. Jahrhundert im evangelischen und freikirchlichen Bereich zu finden. Doch schon vor dem Ersten Weltkrieg, nämlich 1910, fand die Weltmissionskonferenz in Edinburgh statt, die gemeinhin als Anfang der ökumenischen Bewegung gesehen wird. Gleich nach dem Krieg entwickelten sich die beiden wichtigsten Richtungen der Ökumene, nämlich die Beschäftigung mit den Glaubensunterschieden in der Bewegung „Glaube und Kirchenverfassung“ sowie die Bemühungen um Zusammenarbeit der Kirchen in sozialen Belangen in der „Bewegung für aktives Christentum“. Jetzt waren – neben den Gründern – nicht nur anglikanische Kirchen beteiligt, sondern auch die Orthodoxie.

Eine der Folgen des politischen Umsturzes in Russland war, dass zahlreiche orthodoxe Gläubige mit ihren Seelsorgern ins Exil gingen – die meisten in andere europäische Länder, nach Deutschland, Bulgarien, Jugoslawien und Frankreich, aber auch nach Übersee. Das führte dazu, dass es nun eine Präsenz von orthodoxer Kirche in verschiedenen Formen im Westen gab: Bistümer, Gemeinden, Klöster, theologische Ausbildungseinrichtungen. Die westlichen Kirchen hatten so die Gelegenheit, das orthodoxe Glaubensleben besser kennenzulernen, und umgekehrt. Vor allem in Paris, wo in den 1920er-Jahren ein orthodoxes theologisches Institut gegründet wurde kam es zu Begegnungen und gegenseitiger Beeinflussung.

Die Beteiligung orthodoxer Theologen an der ökumenischen Bewegung hatte erhebliche Folgen für die zwischenkirchlichen Beziehungen. Einerseits wurde durch die russischen Exil-Theologen die Erinnerung an die in der UdSSR unterdrückte Kirche aufrecht erhalten, sodass sich in vielen ökumenischen Dokumenten der Zwischenkriegszeit Hinweise auf die schwere Situation der Kirche finden – später, nach dem Beitritt des Moskauer Patriarchats zum Weltkirchenrat, gibt es keine derartigen Stellungnahmen mehr. Von noch größerer Bedeutung ist aber der theologische Austausch. Viele Impulse der orthodoxen Tradition haben so Eingang in das westliche theologische Denken gefunden – gerade auch in das katholische, obwohl sich die katholische Kirche erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren offiziell für die Ökumene öffnete. Auch umgekehrt öffnete sich orthodoxe Theologie für westliche Impulse.

Bemerkenswert ist auch, dass angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Friedensthematik von Anfang an eine wichtige Rolle spielte. Im Sommer 1914, unmittelbar vor Beginn des Kriegs, hatten sich in Konstanz kirchliche Vertreter aus zwölf europäischen Staaten zur Gründung eines „Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ getroffen. Diese Organisation konnte den Krieg nicht verhindern und seinen Verlauf kaum beeinflussen, sorgte aber dafür, dass das Bewusstsein für die Verantwortung der Kirchen wach blieb. Gleich nach dem Krieg wurde ein „Friedensbund Deutscher Katholiken“ gegründet, der eng mit dem ökumenischen Gedanken verbunden war. Er konnte – trotz distanzierter Haltung der Bischöfe – bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten existieren. Viele seiner Mitglieder wurden inhaftiert oder hingerichtet.

Die Zeichen der Zeit – die Moderne

Die skizzierten Entwicklungen hatten, wie zu sehen war, konkrete Folgen für die Sozialgestalt der Kirchen, die sich in vielen Punkten den neuen Gegebenheiten anpassen mussten. Dazu gehörten nicht nur die konkreten strukturellen Veränderungen in den jeweiligen Staaten. Von ebenso großer Bedeutung waren die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich bereits vor dem Krieg angebahnt hatten, nun aber mit großer Macht auftraten. Diese Entwicklung ließe sich mit dem schillernden Begriff der „Moderne“ erfassen. Damit ist gemeint, dass mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der bisherigen staatlichen Ordnungen in vielen Regionen Europas ein (wenn auch oftmals erzwungener) gesellschaftlicher Konsens verloren gegangen ist. Er beinhaltete die Anerkennung der Autorität von Institutionen, darunter auch die der Kirchen. Auch wenn die Religiosität bereits vor dem Krieg – in verschiedenen Regionen Europas in unterschiedlichem Maße – zurückgegangen war, und auch wenn sie nach 1918 vielfach noch hoch blieb, so war die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nun nicht mehr selbstverständlich, und vor allem nicht die bedingungslose Anerkennung ihrer Autorität.

In den evangelischen Kirchen hatte die enge Verbindung von Thron und Altar verschiedenen Widerstand in der Theologie hervorgerufen, und unterschiedliche Vorstellungen und Modelle traten auf den Plan, oft gefolgt von Gegenreaktionen. Die katholische Kirche hatte im 19. und im frühen 20. Jahrhundert versucht, ihre Autorität nach innen auszubauen, was nur zum Teil gelungen war. Noch 1917 war das neue kirchliche Gesetzbuch erlassen worden, das weltweite Gültigkeit beanspruchte – nun aber sah sich die Kirche verschiedenen Erscheinungsformen kirchlichen und staatlichen Lebens gegenüber, die sie nicht alle billigte. Doch konnte sie nicht verhindern, dass auch Katholiken sich für den Aufbau demokratischer Staatswesen engagierten. Besonders schwierig war die Situation für die Orthodoxie in den einzelnen Staaten, da sie entweder – in Russland – völlig unfrei war, oder aber – in Südosteuropa – in autoritativen Staatsformen lebte. Doch gerade hier kam es zu bemerkenswerten Modernisierungsprozessen, unter staatlicher Initiative oder als gesellschaftliche Bewegung.

Angesichts dieser Umstände entwickelten sich in den Kirchen Vorstellungen, die heute unser theologisches und kirchliches Selbstverständnis weithin bestimmen. Dazu gehören Dinge wie die Anerkennung des (religiös und national) Anderen, die Anerkennung der Welt als die Kondition, in der Christentum zu leben ist, die weitgehende Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierungen, die Bedeutung der Stimme und des Handelns der Gläubigen und viele andere Elemente. Sie sind natürlich nicht 1918 entstanden, doch konnten sie sich nur aus einer Situation entwickeln, die die Emanzipation des Menschen aus Abhängigkeiten bedeutete – und daher auch die Emanzipation des Christen aus der Abhängigkeit von seiner Kirchenleitung.

Ausblick

Die Frage ist, wie diese Entwicklung zu bewerten ist. Vielfach lässt sich Ablehnung vernehmen, wonach es früher um Kirche und Religion besser gestanden habe, da eben noch alles unhinterfragt gewesen sei. Abgesehen davon, dass sich historische Geschehnisse weder ungeschehen machen noch zurückdrehen lassen, darf doch der positive Aspekt des Eintritts der Moderne nicht übersehen werden, der mit dem Jahr 1918 verbunden werden kann: Die Kirchen konnten sich von Lasten befreien, die nicht zu ihrem eigentlichen Wesen gehörten, und sich auf Aufgaben und Themen konzentrieren, die mit dem christlichen Glauben viel mehr verbunden sind. Das müssen sie auch, weil eben Kirchenmitgliedschaft nicht mehr selbstverständlich ist. Sie müssen ihren Mitgliedern verdeutlichen, warum die Zugehörigkeit zu einer Kirche gut und richtig ist.

Eine weitere Folge der beschriebenen Entwicklungen ist, dass die Kirchen aufmerksamer für den Kontext sind, in dem sie leben. Die Welt wird nicht mehr als feindliche Außenwelt wahrgenommen, sondern als die Bedingung, in die Gott die Kirche zu diesem historischen Moment gestellt hat. Die Kirchen wirken in der Welt und auch für die Welt. Das bedeutet nicht nur eine gewisse Verantwortung, sondern auch einen kritischen Blick auf die Ereignisse und Entwicklungen in der Welt.

Das Jahr 1918 bedeutete also für die Kirchen den Abschied von klar geregelten und vertrauten Verhältnissen – aber auch den Anfang eines neuen Weges, der ihnen Vieles abverlangt, den Kirchen aber auch viele Möglichkeiten eröffnet. Es war und ist nach wie vor an ihnen, diese Möglichkeiten wahrzunehmen und zu gestalten.