Deutsch-polnische Gedächtnisblockaden – Krise und Chance
Es scheint, als seien die deutsch-polnischen Beziehungen an einem wahrhaft historischen Tiefpunkt angelangt – jedenfalls wenn man der veröffentlichten Meinung vor allem in Polen, zum Teil aber auch in Deutschland, Glauben schenkt. Und wenn man den ohne Gegenstimmen gefassten Entschluss des polnischen Parlamentes liest, der die eigene Regierung in die Pflicht nimmt, von Deutschland Reparationen für die Kriegszerstörungen einzufordern, die die Nationalsozialisten in Polen angerichtet haben –, eine Entschließung, die vor allem als Reaktion auf die Entstehung der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) sowie der so genannten „Preußischen Treuhand“ zu sehen ist. Beide Initiativen, die aus dem Mitglieder- und Unterstützerkreis des „Bundes der Vertriebenen“ (BdV) hervorgingen, wurden von der polnischen Seite dabei insofern überbewertet, als sie nicht selten als Repräsentanten Deutschlands und seiner Bevölkerung erscheinen, einer Rolle, von der diese privaten Initiativen de facto weit entfernt sind, auch wenn sie anderes anstreben mögen. Aber diese Einschätzungen sprechen für sich und verdeutlichen ernst zu nehmende Kommunikationsblockaden, die den Elitendiskurs in den deutsch-polnischen Beziehungen derzeit prägen.
Dabei hatte nach 1989 zunächst alles so gut ausgesehen. Eine Verständigung der beiden Gesellschaften mit ihrer konflikterfüllten beziehungsgeschichtlichen Vergangenheit schien auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Die Welt hatte sich 1989 grundlegend verändert – nicht zuletzt wegen der Anstrengungen der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność –, und Deutschland profitierte davon in besonderem Maße, konnte es doch in der Folge unverhofft und überraschend seine Teilung überwinden. Mit der definitiven Regelung der Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen im Grenzvertrag von 1990 und den Folgeverträgen über gute Nachbarschaft schien es, als habe Deutschland die gegenüber Polen negativen Anteile seiner preußischen Staatstraditionen endgültig abgelegt – vor allem die „negative Polenpolitik“, die im 18. Jahrhundert in der mit Russland gemeinsam durchgeführten Zerschlagung des polnischen Staates begann, sich im 19. Jahrhundert in der Unterdrückung der polnischen Unabhängigkeitsbewegung fortsetzte und im 20. Jahrhundert im Hitler-Stalin-Pakt gipfelte, schien zu einem Ende gekommen zu sein. Sie sollte sogar durch eine „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“ ersetzt werden. Diese Formel prägten 1991 die beiden damaligen Außenminister, Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski. Diese Interessengemeinschaft scheint mit den jüngsten Verstimmungen ein vorläufiges Ende gefunden zu haben.
Die diskursiven Kommunikationsblockaden haben vielfältige Ursachen, auch jenseits des ZgV und der „Preußischen Treuhand“ und der Ängste, die diese Initiativen in Polen ausgelöst haben (und die ernst zu nehmen durchaus präventiv hätte wirken können). Dazu gehört die von Wojciech Pięciak in diesem Heft erwähnte ausgebliebene Diskussion in Deutschland über das Verhältnis zu den Polen. Dazu gehören die geteilten Meinungen über das richtige politische Vorgehen im Irak sowie bei der EU-Verfassung; auch das Streben Deutschlands nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat und die damit einhergehende Proklamierung einer „Normalisierung“ deutscher Außenpolitik mag zu Irritationen führen. Nicht zuletzt eignen sich antideutsche Argumente in Bezug auf die Vergangenheit in einer nationalistisch interpretierten Form für die national-katholische politische Rechte in Polen für den Versuch, Wählerstimmen zu gewinnen – die somit ausgelöste Hysterie verstärkt vorhandene Ängste und ist verantwortungslos. Aber auch gemäßigtere politische Kräfte in Polen verfallen derzeit in antideutsche Rhetorik. Wenn es um die Ablehnung des ZgV oder, noch verständlicher, die Restitutionsansprüche aus den Kreisen der „Preußischen Treuhand“ geht, herrscht eine Einmütigkeit in der polnischen Öffentlichkeit, die auf tiefer im Gedächtnis verankerte Ursachen verweist.
Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Vergangenheit sollten dabei nicht vor allem als geschichtswissenschaftliche oder politische Kontroversen betrachtet werden. Sie dienen vielmehr der Gegenwart als ein Bezugsrahmen, der Orientierung zu geben vermag und Identität(en) stiften kann, je nachdem, wie sie aufgenommen und verarbeitet werden. Kontroversen sind unverzichtbarer Bestandteil politischer Kultur und ein Gradmesser nicht nur für ihre Existenz, sondern auch für ihre Qualität. Langfristig könnten sie eine Chance darstellen, wenn es gelingt, die heutigen Inkompatibilitäten national engführender Erinnerung zu überwinden. Im Aushandeln der unterschiedlichen Erinnerungen und Gedächtnisse von Deutschen und Polen eröffnet sich jedenfalls eine Chance für die Beziehungen zwischen beiden Ländern, eine Chance auf einen offenen, nichts verdeckenden oder beschönigenden Dialog zwischen zwei demokratisch verfassten Gesellschaften.
Im Moment haben wir es in Europa mit der Rückkehr einer ganzen Anzahl von ungleichzeitigen und untereinander konkurrierenden nationalen Erinnerungen zu tun, die nicht in einem einzigen europäischen Gedächtnis harmonieren. Erinnerung und Gedächtnis stehen dabei in einem komplementären Verhältnis zueinander – die individuelle Erinnerung ist ein Teil des Gedächtnisses, aus dessen Dispositionsmasse sie sich wiederum bedient, sie aktualisiert und aus ihr auswählt, wie vor allem Jan Assmann festgehalten hat. Das „kollektive“ oder „kulturelle“ Gedächtnis, also das Gedächtnis, das aus kulturellen Repräsentationen besteht und dem es im Unterschied zum „kommunikativen“ Gedächtnis an der Unmittelbarkeit erlebter Erinnerung fehlt, ist dabei immer sozial bedingt. Es hängt von zahlreichen anderen sozialen Gedächtnissen ab – es wird das erinnert, was erinnert werden soll. Darauf versuchen verschiedene Akteure, wie zum Beispiel der BdV, Einfluss zu nehmen. Das Paradigma des Gedächtnisses hat dabei in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, ja, es ist zu einem wichtigen Mittel bei der Suche nach Verstehen, Gerechtigkeit und Wissen geworden. Durch seinen konstruierten und konstruierenden Charakter ist es vielseitig einsetzbar und auch instrumentalisierbar; nicht zuletzt eignet es sich, nationale Identitätskonstruktionen aufzubauen und zu festigen. Die beiden zu nennenden Daten sind hier das Wendejahr 1989 sowie die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Shoah.
Mit dem Beginn des Kalten Krieges wurden nationale Gedächtnisse in Europa zugunsten eines ideologisierten Konfliktes zwischen Ost und West, zwischen westlichen Freiheitsvorstellungen und dem östlichen Versuch, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit im Rahmen der staatsozialistischen Systeme aufzubauen, vor allem in Ostmittel- und Osteuropa unterdrückt. Die Gedächtnisse der europäischen Völker, die sich vor und im Zweiten Weltkrieg überkreuzten und verwoben hatten, wurden vom Konflikt des Kalten Krieges neutralisiert. Vor allem Dan Diner hat auf diese Konstellation wiederholt hingewiesen. Die Erinnerung an die Shoah, an den Zweiten Weltkrieg und an seine Vorgeschichte verschwand oder wurde, wie es zum Beispiel in Polen der Fall war, ritualisiert bzw. in eine national verstandene Strategie von Heroismus und Martyrologie deformiert, das der kommunistischen Konzeption eines ethnisch homogenen Nationalstaates entgegenkam. Diese Konzeption, die bereits in den Vorstellungen politischer Eliten der Vorkriegszeit bedeutsam war, spielt weiterhin eine nicht unwichtige Rolle in nationalen Gedächtniskonstruktionen.
Für Deutschland kann man für die Zeit unmittelbar nach dem Krieg schon aufgrund der völlig unterschiedlichen Ausgangsposition im Vergleich zu Polen – dort ein überfallenes Land, das einen großen Teil seiner Bevölkerung verloren hat, hier ein besiegtes Land mit einer nicht zu relativierenden Schuld, die große Teile der Bevölkerung auf sich geladen hat –, nur von einem anders, aber gleichfalls deformierten Gedächtnis sprechen. Die Deutschen waren nicht in der Lage, Trauer oder Empathie für die ermordeten Juden oder andere Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aufzubringen, wie Hannah Arendt unmittelbar nach dem Krieg und später Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ beschrieben haben. Angesichts deutscher Opferdiskurse möchte man dieses Werk ebenso wie Karl Jaspers „Schuldfrage“ heute wieder zur verstärkten Lektüre und Einsicht über das Fundament, das die politischen Mentalitäten der Bundesrepublik geprägt hat, empfehlen. Die fünfziger Jahre waren in Deutschland nicht die Jahre, in denen über eine schuldhafte Vergangenheit und über das Verhältnis der Deutschen zu den Opfern des Nationalsozialismus, den Juden oder den Polen, diskutiert wurde – es waren eher die Jahre, in denen die großangelegte „Dokumentation der Vertreibung“ unter Mitwirkung so namhafter Historiker wie Hans Rothfels, Werner Conze, Theodor Schieder, Martin Broszat und Hans-Ulrich Wehler entstand. So, wie das Werk damals ohne den letzten Band, der die historische Kontextualisierung der Vertreibungsvorgänge vornehmen sollte, veröffentlicht wurde, war es nicht dazu geeignet, die Vertreibungsvorgänge in den notwendigen historischen Kontext des Nationalsozialismus zu stellen.
Die Frage der Vertreibung war jedoch in der frühen Bundesrepublik nicht tabu, im Gegenteil – das Schicksal der Vertriebenen stand in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mindestens bis zum Ende der sechziger Jahre im Mittelpunkt des kulturellen Gedächtnisses der jungen Bundesrepublik. Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass es bis in die siebziger Jahre üblich gewesen sei, sieben Millionen Vertriebene gegen sechs Millionen ermordete Juden aufzurechnen – ein Vergleich, der heute ganz und gar unmöglich erscheint. Aber diese Unmöglichkeit ist erst allmählich entstanden. Dazu beigetragen hat die Etablierung eines weltweiten Gedächtnisses an die Shoah, das überwiegend aus den USA inspiriert wurde. Zuvor bereits war es die 68er Generation, die begann, die Elterngeneration nach der Schuld für den Krieg zu fragen, nicht danach, ob sie möglicherweise Opfer des Krieges waren. So wanderte die Erinnerung an Flucht und Vertreibung allmählich aus dem Zentrum an die Peripherie des Gedächtnisses, weil sich die Rahmenbedingungen für die Erfahrungsgemeinschaft der Vertriebenen geändert hatten.
Aus polnischer Sicht bedeutete dies allerdings keine Änderung, da über polnische Opfer auch weiterhin nicht gesprochen wurde. Die deutsche Zeitgeschichte begann sich langsam auf den Nationalsozialismus zu konzentrieren und auf den Versuch herauszufinden, wie Täterschaft möglich geworden war. Die Forschung hingegen zu den konkreten Lebenswelten der Opfer und ihren Vorgeschichten, den Lebenswelten also der Juden und anderer Bewohner Ostmittel- und Osteuropas, wurde kaum zu einem Schwerpunkt deutscher Zeitgeschichtsforschung. Dies führte unter anderem dazu, dass im Bewusstsein vieler Deutscher bis heute ein stereotypes und klischeehaftes Bild vom Osten zu herrschen scheint. Zu dieser Vorstellungswelt gehört der Kaftan und Schläfenlocken tragende sowie fiedelnde „Ostjude“ ebenso wie ein mythologisiertes Bild vom deutschen Osten, das aus entrückten idyllisierten und weitläufigen Landschaften besteht. Solche Bilder zeugen von einer anhaltenden mangelnden Differenzierung in der deutschen Wahrnehmung des östlichen Europas, die die deutsche Gesellschaft heute vor eine neue Herausforderung stellt: Wenn echte Partnerschaft zwischen Deutschland und Polen entstehen soll, ist ein stärkeres Interesse der Deutschen unabdingbar.
Die Erforschung der Geschichte der Vertreibung jedenfalls wanderte im Zuge dieser Verlagerung der Rahmenbedingungen allmählich fast ausschließlich in die Hände des „Bundes der Vertriebenen“, der ihm nahestehenden Einrichtungen sowie der nach Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes geförderten wissenschaftlichen Institutionen, die der Pflege des deutschen Erbes im Osten verpflichtet sind. In der DDR hingegen wurden die Narrative der Vertriebenen ebenso wie in anderen Ländern des Ostblocks unterdrückt, wie auch die Vertriebenen aus den ehemals polnischen Gebieten jenseits des Bugs, die nach 1945 der Sowjetunion zugeschlagen wurden, in Volkspolen kein Gehör fanden.
Die Rückkehr der Erinnerung
In den neuen Demokratien, den neuen politischen und kulturellen Landschaften, die nach 1989 in Ostmitteleuropa entstanden, drängen unterdrückte Erinnerungen nun an die Oberfläche und wollen offen verhandelt werden. Die Ukrainer, die von den Polen vertrieben wurden, die Polen, die ihrerseits ihre angestammte Heimat jenseits des Bugs verlassen mussten, die vertriebenen Deutschen – sie alle wollen gehört werden. Dies verbindet sich mit einer Rückkehr des Raumes, mit dem die Zeit zurückkehrt, die an diesen Raum gebunden ist. Während die Zeit des Kalten Krieges langsam aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet, rückt die Zeit von vor 1945 wieder näher, besonders aber die Zeit des Zweiten Weltkrieges und die unmittelbare Zeit danach. Dan Diner hat diese Zeitrückkehr mehrfach beschrieben und auf den engen Zusammenhang der jetzt geführten Restitutionsdebatten mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, wie sie massiv in das Gedächtnis zurückdrängt, aufmerksam gemacht. Die moralisch und juristisch komplexen Fragen des Privateigentums im Osten Europas, die sich für die dortigen Staaten mit Furcht vor Restitutionsansprüchen der früheren Besitzer verbindet, verursacht in dieser Region, in der das Gedächtnis während des Kalten Krieges wie eingefroren war, jetzt einen Prozess des Auftauens – die Grundbücher zum Beispiel erweisen sich als Erinnerungsspeicher, denen man nicht entfliehen kann. Sie zeigen die vorherigen Eigentümer, zeigen, wem das Land gehört hatte, zeigen den Raum und seine Grenzen auf. Die Tatsache, dass in Polen Deutsche noch immer als Eigentümer in den Grundbüchern eingetragen sind, verschärft nicht nur den Konflikt um die Erinnerung, sondern auch den um handfeste materielle Güter. Die so genannte „Preußische Treuhand“, die gegründet wurde, um Restitutionsansprüchen ehemaliger deutscher Eigentümer auf dem Gerichtswege zum Erfolg zu verhelfen, spielt dabei in ihrer englischen Namensform „Prussian Claims Society“ in mehr als peinlicher Weise auf die „Jewish Claims Conference“ an – als könne sie vertriebene Deutsche oder deren Nachfahren, deren Schicksal in erster Linie von Deutschen selbst verursacht wurde, mit den Nachfahren der ermordeten Juden gleichsetzen. Diese skandalöse Namensgebung passt sich in die derzeitige Globalisierung und Universalisierung von Moral und Leid ein, die die Vertriebenen für sich zu nutzen wissen. Die Restitutionsdebatte spielt also eine wichtige Rolle bei der Rückkehr von Erinnerung.
Als ebenso wichtig erscheint die Abfolge der Generationen – mit dem langsamen Verschwinden der Erlebnisgeneration, der Überlebenden der Shoah, der Zwangsarbeiter, der Veteranen, die im Zweiten Weltkrieg selbst gekämpft haben, und auch der „tatsächlich“ Vertriebenen, die sich an die Vertreibung selbst erinnern können, geht das „kommunikative Gedächtnis“ der erlebten Erinnerung allmählich in das „kulturelle Gedächtnis“ über. Die erlebten Erinnerungen wollen jetzt gehört werden, um im kulturellen Gedächtnis weiterzuleben. Dies verbindet sich nicht selten mit dem Versuch, die partikulare Erinnerung einer Gruppe, der Vertriebenen zum Beispiel, zu einer nationalen Erinnerung zu machen und als solche im kulturellen Gedächtnis zu verankern – nichts anderes ist der Versuch, ein nationales „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten. Zur Zeit leben in den Familien noch diejenigen, die aus unmittelbarem Erleben selbst berichten können, und nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Nachkommen versuchen, diese Erzählungen zu retten, zu konservieren. In Deutschland schafft diese Form der Erinnerung darüber hinaus eine Art Verbindung zwischen dem Osten und dem Westen, indem eine neue, emotional eingefärbte Erzählung der Deutschen als Opfer entsteht. Stiftung ZgV, große Fernsehdokumentationen über Flucht und Vertreibung, Familiensagas und die Bestseller über die Bombardierung deutscher Städte sind Themen einer gerade noch lebendigen Erinnerung, die unwiederbringlich verschwinden wird. Der Prozess einer Integration dieser Erzählungen in das kulturelle Gedächtnis muss nicht automatisch darin enden, dass die Narrative von der Shoah und der deutschen Schuld ausnahmslos ersetzt werden. Es scheint, dass bestimmte Normen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, der Verantwortung für diesen Krieg und seine Opfer und der Akzeptanz von Schuld auch in der Zukunft weiter funktionieren werden. Daneben ist es aber möglich, dass das Erinnerungsnarrativ der Deutschen als Opfer ebenfalls zu einem national akzeptierten Narrativ wird und in das kulturelle Gedächtnis eingeht – man wird diese Familienerzählungen nicht unterdrücken können und sollte dies auch nicht tun, schließlich gehören auch diese Erfahrungen zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Dass sich verschiedene Vergangenheitsinterpretationen aneinander reiben und die kulturellen Gedächtnisformen umstritten sind und bleiben, gehört ohnehin zur Pluralität des kulturellen Gedächtnisses in einer Demokratie. Die Vertriebenen wiederum haben ein legitimes Interesse daran, den Erinnerungen über ihre Erfahrungen Anerkennung zu verschaffen. Nur müssen sie, und das gilt besonders für ihre politische Repräsentanz, Erwartungen von anderen – unter anderem der mitbetroffenen Polen – an ihre Erinnerung gerecht werden, die ebenso legitim sind: Sie müssen Formen der Erinnerung finden, die den Zusammenhang der Vertreibung mit dem deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg beachten und die Vertreibungsvorgänge entsprechend kontextualisieren. Dies wurde bei der Konzeption des ZgV nicht hinreichend beachtet. Wenn jetzt die Initiative um das ZgV zu einer Prüfung für die deutsch-polnischen Beziehungen geworden zu sein scheint, dann steht dahinter nicht mangelnde Empathie oder Anerkennung seitens der polnischen Bevölkerung für deutsches Leid. Das Problem liegt zum einen darin, wie die Idee transportiert wurde, zum anderen darin, dass natürlich auch in Polen Erinnerungen zurückkehren.
Doch zunächst zu dem kommunikativen Wie des ZgV: Dass dem BdV, dem Ideengeber für das Zentrum, in Polen nur wenig Sympathie und vor allem kein Vertrauen entgegengebracht wurde und wird, dürfte niemanden verwundern. Die BdV-Präsidentin Erika Steinbach hat im Jahr 1990 als Abgeordnete des Deutschen Bundestages gegen den deutsch-polnischen Grenzvertrag gestimmt, wodurch sie sich klar gegen eine deutsch-polnische Verständigung ausgesprochen hat – wie kann sie Vertrauen erwarten? Das Konzept der Stiftung konnte ein solches Vertrauen ebenfalls nicht aufbauen. In Kreisen der Vertriebenen werden hartnäckig Erträge der historischen Forschung ignoriert, die polnische und deutsche Wissenschaftler in den letzten Jahren erbracht haben und die unter anderem darauf verweisen, dass das Vertriebenenschicksal der Deutschen nicht so einzigartig war, wie es ihre Funktionäre gerne darstellen würden. Vertreibungen waren ein wesentlicher Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts, und die Idee, dass Konflikte zwischen Nationen durch Austausch, Vertreibung oder Ermordung von Teilen der Bevölkerung, die zudem meist Minderheiten und somit den schwächeren Part bildeten, gelöst werden könnten, verband sich mit der Idee des modernen Nationalstaates. Sie waren ein Produkt der Moderne und als solche gehören sie zu unterschiedlichen Gedächtnissen, die in diesen Fragen zu oft national und monokausal konzeptionalisiert werden. An Vertreibungen muss zweifellos erinnert werden, aber die Erinnerung sollte die Bahnen eindimensionaler Begründungen und nationaler Engführung in pathetisch konzeptionalisierten Gedenkrotunden verlassen.
Die Verfechter der Idee des Zentrums stützen sich heute intensiv auf moralische Argumentationen wie die Unteilbarkeit der Menschenrechte, weil doch ernsthaft niemand der Meinung sein könne, dass Vertreibung nicht Unrecht sei, kein Leid verursache und nicht kompensiert werden müsse, um historische Gerechtigkeit zu erzeugen. Solche Argumentationen passen sich vorzüglich in das Schema von der Universalisierung der Menschenrechte ein, von menschlichem Leid und von Restitutionspolitiken, von einer neuen Moral der Nationen, die im Namen der Zivilgesellschaft freiwillig ihre Schuld akzeptieren, sich entschuldigen und Reparationen bezahlen, wovon Elazar Barkan in seinem Buch „Völker klagen an. Eine neue internationale Moral“ berichtet. So werden die Interessen um das ZgV unter dem Deckmantel einer zivilgesellschaftlich ausgerichteten, auf die Menschenrechte gestützten Initiative verborgen – schließlich kann ja niemand etwas gegen die Zivilgesellschaft haben, auch wenn niemand so genau weiß, was sich dahinter verbirgt. Dabei spielt das Etikett des Opfers die entscheidende Rolle. Mit dem Wort „Opfer“ verbindet sich tatsächlich immer zunächst eine Art Unschuldsvermutung – aber waren es nicht auch die später vertriebenen Deutschen im Osten, die einen Teil der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft bildeten? Haben die Vertriebenen nicht am Nationalsozialismus mitgewirkt, sondern waren sie nur seine Opfer? Eine solche Kontextualisierung und vor allem ein kritisches Hinterfragen der eigenen Rolle fehlen bei der Konzeption des ZgV und bei den Argumenten seiner Unterstützer fast vollständig. Man kann die Vertreibung aber nicht dem historischen Kontext entreißen, indem man das Leid der Opfer menschenrechtlich universalisiert. Hier besteht die Gefahr, dass in dieser Entkontextualisierung die Opfer von ethnischer Säuberung oder Vertreibung nicht mehr von denen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik unterschieden werden, dass alle Unterschiede eingeebnet werden und die spezifischen Kennzeichen der NS-Politik gegenüber Juden, Polen und anderen Opfergruppen allmählich verschwinden. Zudem werden die Polen als so genannter „Vertreiberstaat“ im Kontext des Zweiten Weltkriegs in einer Art und Weise zu „Tätern“ gemacht, die völlig außer Acht lässt, wie sehr das Land unter der deutschen Besatzung gelitten hat. Historisch stünden sie auf diese Weise in einer Reihe neben Hitler und Slobodan Milošević, was historisch falsch und moralisch für die Polen nicht akzeptabel ist. Und die Auslassungen über das „deutsche Leid“ und die Traumatisierung ganzer Flüchtlingsgenerationen und ihre schweren gesundheitlichen Folgen, wie sie zur Unterstützung des ZgV angeführt wurden, hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack, beschäftigt man sich mit der Verarbeitung der Erlebnisse der Shoah bei Überlebenden oder ihren Kindern.
Dass eine solche Form von Erinnerungsdiskurs und -politik in Polen mit Verwunderung, Furcht, Empörung und auch Wut aufgenommen wurde, ist bei aller Überzogenheit der zuweilen hysterisch anmutenden Reaktionen, deren Logik man im Falle der Sejm-Entschließung nicht mehr folgen kann, letztlich auch verständlich. Zum einen spielt dabei sicherlich eine Rolle, dass die Zivilgesellschaft, mit der so gerne argumentiert wird, in Polen erst im Entstehen begriffen ist. Nach 1989 sind es gerade 15 Jahre, dass die Möglichkeit bestand, offene und demokratische Diskurse über die Vergangenheit zu führen. Das ist nicht viel Zeit. Und dennoch ist in dieser Zeit bereits sehr viel geschehen, und damit verbindet sich ein zweiter wichtiger Aspekt: Polen führt seine eigenen Erinnerungsdebatten. Auch in Polen verschwindet langsam die Erlebnisgeneration, und für Polen trifft noch mehr als für Gesamtdeutschland zu, dass sich die eingefrorene Erinnerung ganz unterschiedlicher Natur ihren Weg ins kulturelle Gedächtnis bahnt. Nur leider treffen die polnischen Debatten in Deutschland wiederum oft nicht auf differenzierende Rezeption – wie zum Beispiel die wenig zur Kenntnis genommene offene und lebhafte Debatte über Vertreibung und Verantwortung der Polen Mitte der neunziger Jahre. Mehr Differenz hätte man sich ebenso bei der Perzeption der Debatten gewünscht, bei denen in Polen das konflikthafte und schwierige Verhältnis zu den Juden und der polnische Antisemitismus thematisiert wurde, wozu in jüngster Zeit vor allem die Jedwabne-Debatte gehörte, die umfangreiche Debatte über die Tatsache, dass Polen selbst im Kontext des Zweiten Weltkriegs jüdische Nachbarn ermordet haben. Zuweilen beschleicht einen das Gefühl, in Deutschland denke man: Wenn die, die ermordet wurden, selbst mordeten, dann ist auch die Schuld der Mörder nicht mehr so groß – eine abwegige Denkungsart. Die Debatte muss als Beispiel einer schmerzhaften demokratischen Selbstverständigung gelten, die für viele Polen eine Schockwirkung hatte. Als solche wirkt sie nach und bildete einen emotionalen Hintergrund der Ablehnung des ZgV, was zur Kenntnis genommen, nicht aber auf deutscher Seite entlastend ausgenutzt werden sollte. Es geht nicht darum, dass aus einem normativen Erkenntnisinteresse heraus in Deutschland nicht über polnischen Antisemitismus oder die Vertreibung geschrieben oder nachgedacht werden kann – es kann und es soll, das ist eine Frage des richtigen Tones und des richtigen Kontextes. An beidem mangelt es zuweilen. Wenn in Deutschland Publizisten paternalistisch und kritisch auf den Nationalismus in Polen verweisen, dann fragt man sich schon, ob sie die Geschichte Deutschlands im Verhältnis zu seinem Nachbarland Polen in den letzten 200 Jahren überhaupt zur Kenntnis genommen haben.
Insgesamt scheinen diese Debatten um das Gedächtnis in Europa heute notwendig zu sein. Sie sind dabei miteinander verwoben, stehen sich zum Teil auch diametral gegenüber, wie es die historischen Ereignisse in Europa ebenfalls waren. Die Debatten sind schmerzhaft, aber es sind Selbstverständigungsdebatten, die, geht es um Deutschland und Polen, den nationalen Rahmen verlassen. Dabei muss um Verständnis dafür geworben werden, dass die in öffentlichen Diskursen gewonnenen Erkenntnisse weder auf einen Freispruch noch auf eine Verurteilung hinzielen. Das gilt nicht nur innerhalb des Bezugsrahmens einer national organisierten Gesellschaft, sondern heute zunehmend in einem europäischen Kontext. Das Ziel ist Einsicht und Verständigung.
Polen und Deutsche stehen jetzt vor der Aufgabe, eine möglicherweise für beide Seiten schmerzhafte Debatte zu führen, bei der beide Seiten Verantwortung für ihre jeweilige historische Rolle zu übernehmen haben, ohne in eine sinnlose und die Gräben vertiefende verbale Opferkonkurrenz zu verfallen. Notwendig ist es, wieder Vertrauen zu schaffen, indem offen und partnerschaftlich die jeweiligen Erinnerungen in Deutschland und Polen zugelassen, in der Öffentlichkeit debattiert und von Handlungsträgern, von Politikern und Publizisten sowie den Gesellschaften anerkannt werden. Auf diese Weise können die unterschiedlichen Erinnerungen in einen – notwendigerweise auch konflikthaften – Dialog zueinander treten, und nicht in den Monologen verharren, in denen sie sich derzeit befinden. Dazu ist die Bereitschaft aller Beteiligten Voraussetzung. Auf lange Sicht aber kann dies den deutsch-polnischen Beziehungen nur nützlich sein. Zudem trägt ein solcher Dialog dazu bei, Formen eines gesamteuropäischen Gedächtnisses mit zu entwickeln, das nicht einförmig oder genormt sein kann, sondern plurale und fluktuierende, veränderliche Kontexte in sich vereinen muss. Dazu besteht nach fast 50 Jahren der Neutralisierung der verschiedenen Gedächtnisse in Europa insofern eine Chance, als die Menschen heute über ihre Erinnerungen kommunizieren und deren Formen aushandeln können. Wenn es heute so aussieht, als seien die Gesellschaften Deutschlands und Polens hinter den Stand der 1990er Jahre zurückgefallen, was gemeinsame Politik oder die gemeinsame Aufarbeitung von Vergangenheit betrifft, so ist dies derzeit sicher nicht ganz falsch und muss ernst genommen werden. Jenseits dieses Krisenszenarios sollte man aber auch etwas mehr Sachlichkeit und Gelassenheit einfordern: Die konflikthaften Debatten sind notwendig, solange nicht ernsthafte Schäden auf einer der beiden Seiten entstehen. In dieser Hinsicht kann man sich nur wünschen, dass der privaten Initiative der „Preußischen Treuhand“ so wenig Erfolg wie nur irgend möglich beschieden sein wird. Zum anderen sollte der Blick in die Regionen gelenkt werden, in die deutsch-polnischen Grenzregionen, und auf eine Vielzahl von Projekten, in denen Zusammenarbeit politischer oder wirtschaftlicher Natur funktioniert, sowie auf Initiativen, in denen Deutsche und Polen gemeinsam längst über die vereinenden und trennenden Elemente der Vergangenheit debattieren.