OWEP 4/2004
Schwerpunkt:
Schwierige Nachbarschaften
Editorial
„Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben/Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, heißt es in Schillers „Wilhelm Tell“, und tatsächlich sind wir Menschen geneigt, die Ursachen für Schwierigkeiten und für Unfrieden mit den Nachbarn bei diesen zu suchen. Das gilt im privaten Bereich, aber es gilt auch für benachbarte Staaten und Nationen: Bei entstehenden Spannungen und Konflikten wird mit Vorliebe zunächst das betrachtet und betont, das sich auf die andere Seite bezieht.
Die Redaktion thematisiert im vorliegenden Heft die Problematik von schwierigen Nachbarschaften. Es gibt eine ganze Reihe von Nachbarschaftskonflikten im mittel- und osteuropäischen Raum – es gibt sie übrigens auch in Westeuropa; das soll nicht verschwiegen werden. In Mittel- und Osteuropa sind sie jedoch häufig durch die politischen Veränderungen der letzten fünfzehn Jahre entstanden oder erneut an die Oberfläche gekommen. Einige von ihnen brechen immer wieder auf, trotz guter oder wenigstens korrekter politischer Beziehungen, wie sich das in den letzten Monaten im deutsch-polnischen Verhältnis gezeigt hat; andere sind bei uns nicht so bekannt, so etwa die jüngsten Spannungen zwischen Slowenien und Kroatien, denen wir einen Beitrag widmen.
Wir haben versucht, diese und andere schwierige Nachbarschaftsverhältnisse nicht nur in ihrer Entstehung zu erfassen, sondern auch Perspektiven für eine Verbesserung der jeweiligen Beziehungen aufzuzeigen. Nachhaltig verbessern lassen sich solche Konflikte ja nur, wenn verstanden wird, dass der Nachbar nicht der räumlich nahe Wohnende ist, neben dem man leben muss, sondern dass er auch der Nächste ist, mit dem man leben möchte.
Die Redaktion
Kurzinfo
Zwischen Nachbarn bestehen aus unterschiedlichen Gründen nicht immer ungetrübte Beziehungen. Das gilt im zwischenmenschlichen Bereich, aber auch zwischen Völkern. Das Individuum hat es vielleicht etwas einfacher – es kann wegziehen, zwischen sich und den ungeliebten Nachbarn einen größeren Abstand setzen. Völker können es überhaupt nicht, sie sind oft „auf Gedeih und Verderb“ einander ausgeliefert. Animositäten müssen sich dabei nicht unbedingt zu Kriegen auswachsen. Dennoch zeigt die europäische Geschichte, leider auch im beginnenden 21. Jahrhundert, dass alte Nachbarschaftskonflikte weiter wirken, Vorurteile tief sitzen und oft buchstäblich Sprachlosigkeit herrschen. Hier setzt das vorliegende Heft an: Anhand einiger markanter Beispiele zeigt es Ursachen und Entwicklung schwieriger Nachbarschaften in Europa. Die Fälle beschränken sich auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa, könnten aber ohne weiteres auf Westeuropa erweitert werden. Für die meisten Probleme gibt es keine Patentlösung, aber die Beiträge zeigen doch Wege auf, die – wenn sie beschritten werden – zu einer Verbesserung der Situation beitragen können.
Eröffnet wird das Heft mit zwei Beiträgen zum deutsch-tschechischen Verhältnis. Der Publizist Dr. Tomáš Kafka, Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, hält ein Plädoyer für die Freiwilligkeit, denn nur so, ohne „von oben“ verordnete Verständigung, kann es zwischen Deutschen und Tschechen auf Dauer zu einem Einvernehmen kommen. Den Kontinuitäten und Brüchen in den beiderseitigen Beziehungen geht Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, Osteuropahistoriker an der Universität München, nach. Nur eine genaue Kenntnis der Geschichte vermag, so sein Fazit, die Gräben zu überbrücken.
Tiefer noch als zwischen „Berlin“ und „Prag“ sind derzeit die Spannungen und Risse zwischen „Berlin“ und „Warschau“. In den letzten Monaten waren die bilateralen Ziehungen Belastungen ausgesetzt, die vieles, was in den letzten vierzig Jahren mühsam an Verständigungsarbeit geleistet worden ist, wieder in Frage stellen. Der polnische Journalist Wojciech Pięciak fragt in seinem Beitrag nach einem Ausweg aus der Sackgasse; Dr. Katrin Steffen, Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Warschau, sieht in den Vorgängen Krise und Chance zugleich.
Drei weitere Beiträge des Heftes gelten Problemfeldern, die zwar keine großen Schlagzeilen machen und aus deutscher Warte auch etwas fernab liegen, nichtsdestoweniger jedoch „vor Ort“ von eminenter Bedeutung sind. Natalija Bolschakowa, Vorsitzende der Alexander-Men-Stiftung in Riga/Lettland, widmet sich dem schwierigen Verhältnis zwischen Russen und Letten im heutigen Lettland. Prof. Dr. Silvo Devetak, Soziologe an der Universität Maribor/Slowenien, geht den Spannungen zwischen Kroatien und Slowenien nach. Peter Bognar, Korrespondent der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ in Budapest, beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Ungarn und Rumänien.
Abgeschlossen wird das Heft durch zwei Beiträge, in denen noch einmal Polen bzw. das deutsch-polnische Verhältnis im Mittelpunkt stehen. Der Historiker Dr. Robert Zurek skizziert den Besuch deutscher Katholiken in Auschwitz im Jahre 1964, der dazu beitrug, erstmals die durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs entstandene Mauer des Schweigens zwischen den Völkern zu durchbrechen. Die Situation der katholischen Kirche in Polen fünfzehn Jahre nach der Wende, ihr Umgang mit den Veränderungen in der Gesellschaft und ihre Zukunftsperspektiven stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Prof. Dr. Adam Przybecki, Pastoraltheologe an der Universität Poznań.
Dr. Christof Dahm