Was Bildung bedeutet

aus OWEP 2/2019  •  von Hans Maier

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Maier, Politikwissenschaftler und Publizist, war von 1970 bis 1986 Kultusminister von Bayern, außerdem langjähriges Mitglied und zwischen 1976 und 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Zusammenfassung

Bildung „ist das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir einmal lernten“. Was aber genau ist „Bildung“, was umfasst „Erziehung“? Der Autor setzt in der Antike an, hebt die besondere Rolle der Kirche für das abendländische Bildungsideal heraus und leitet sodann zu den modernen Formen der Vermittlung von Bildung über. Ein Blick auf aktuelle heutige Problemfelder und die Zukunft der Bildung rundet den Querschnitt ab und führt zu den einführenden Gedanken zurück, denen zufolge Bildung mehr als nur Wissensanhäufung ist, vielmehr Orientierung bieten und den Menschen zu einer Gesamtpersönlichkeit formen soll.

Menschen kommen nicht einfach fertig auf die Welt – sie werden erst in einer Folge von Jahren zu Erwachsenen, die „erzogen“ und „gebildet“ sind. Durch Eltern und Erzieher werden sie „herausgeführt“ aus ihrer anfänglichen Unmündigkeit: Das Wort herausführen, lat. educere, wurde zum Grundwort für Erziehung und Bildung in den slawischen, angelsächsischen und romanischen Sprachen (edukacja, education, educazione). Das Deutsche teilt den pädagogischen Prozess in zwei Begriffe auf: einmal in Erziehung, die auf die jungen Menschen einwirkt, sodann in Bildung – die lebenslange Begegnung des Menschen mit der Welt und mit sich selbst. Steckt hinter „Erziehen“ ein nüchternes Programm der Einübung von Haltungen, der körperlichen und geistigen Schulung, des Lesens, Schreibens, Rechnens, Miteinander-Umgehens, so klingt in den Worten „Bilden“ und „Bildung“ (sie entstammen ursprünglich der Sprache der Mystik!) ein Appell, ein Aufruf an. Hier geht es um nichts Geringeres als um das Erleben und Aneignen der Welt im Ganzen – und damit letztlich um die „Menschwerdung des Menschen“ (Max Scheler).

Bildung = Orientierung in der Welt

Bildung leistet dem einzelnen in der sich stetig wandelnden Welt einen unentbehrlichen Dienst: Sie bietet Orientierung. In die Fülle der Eindrücke, Daten, Informationen, die auf den Menschen schon im jugendlichen Alter einwirken, soll Ordnung gebracht werden. Das Bildungswesen ist für die Menschen, die ins Leben treten, ein orientierendes Geländer. Es trägt bei zur „Ordnung der Vorstellungswelt“ (Theodor Wilhelm): eine wichtige Aufgabe in einer Zeit, in der die Erkenntnisse von Wissenschaft und Forschung sprunghaft gewachsen sind und in der die Wissensweitergabe in Gestalt der Digitalisierung globale Formen angenommen hat. Eine schwierige Aufgabe zugleich, weil alte Erziehungstraditionen und -gewohnheiten schwächer geworden sind, weil heute neben dem Elternhaus viele Miterzieher – voran die Medien – stehen und weil Schulen und Hochschulen längst die frühere zentrale Rolle in der Vermittlung des Wissens verloren haben.

Wer darf sich in einer Zeit der Wissensexplosion noch „gebildet“ nennen? Wohl nur diejenigen, die sich ernsthaft um ein Verhältnis „zum Ganzen“ mühen. Bildung ist keine willkürliche Anhäufung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Einsichten. Sie sucht immer das Verbindende von Welt und Mensch. Allgemeinbildung geht weit über das Zweckgebundene spezieller Einzelinformationen hinaus; sie wendet sich an den ganzen Menschen.

Ursprünge der Bildung – die Rolle der Kirche

Umrisse der Bildung, frühe Formen und Inhalte haben sich zuerst in der Kirche entwickelt. Jahrhundertelang bestimmten kirchliche Einrichtungen die Weitergabe von Wissen und Erfahrung. Zwar gab es neben der auf Schriftlichkeit beruhenden kirchlich-klerikalen Bildung stets auch eine ritterlich-laikale Bildung des Reitens, Tanzens, Fechtens, des höflichen Umgangs und der Geselligkeit auf Burgen und Schlössern – sowie auch eine handwerklich-bürgerliche praktische Bildung rings um die weltlichen Berufe in Städten und Gemeinden. Aber Schule – zweckgerichtetes Lernen – gab es nur im Rahmen der Kirche. Das ist bis heute hörbar im kirchlich-pädagogischen Doppelsinn des Wortes Schola/Schule und im Gleichklang der Worte Kleriker und Gebildeter (clark, clerc) in vielen europäischen Sprachen. Die Vermittlung des Wissens geschah lange Zeit – fast ein Jahrtausend lang – in kirchlichen Formen, in geistlichen Orden, durch Mönche und Priester. So wurde das Weiterleben antiker Texte gesichert durch die Schreibarbeit der Klöster; die „sieben freien Künste“ als letzter Lehrplan des Altertums lebten weiter im Trivium und Quadrivium der Kathedralschulen; antike Philosophie und Rhetorik prägten die Universitäten und Schulen des Mittelalters.

Die Bildung dieser Zeit war schriftgebunden – sie ging aus von literarischen Texten, biblischen und profanen, sie setzte Schriftkenntnis und Schriftgebrauch voraus. Da aber die damalige Gesellschaft zum überwiegenden Teil aus nicht lese- und schreibkundigen Menschen bestand, blieb der Stand der Gebildeten strikt abgegrenzt, lange Zeit war er mit dem der Geistlichen identisch; erst langsam erweiterte er sich durch den Einschluss bürgerlicher Schichten. Große Bereiche des Fühlens und Empfindens entwickelten sich daher außerhalb des literarisch-schulischen Bildungswesens in anschaulichen und symbolischen Formen: Wo die Bibel nicht gelesen werden konnte, regierte die biblia pauperum, die Sprache der Skulpturen und Bilder an Kirchenportalen und Altären – und diese Sprache verstanden alle. So lässt François Villon seine Mutter, „die nie Geschriebenes las“, in ihrer Pfarrkirche in Paris die Gemälde des Himmels und der Hölle sehen – „das eine macht mich froh, das andere bange.“ Auch die Architektur sprach zu den Besuchern: So symbolisierten der Klerus im Chor und die Laien im Kirchenschiff das kontemplative und das aktive Leben; die Fenster erinnerten an die Kirchenlehrer, durch die das himmlische Licht in die Kirche kam – und viele Analogien mehr.

Moderne Bildung – der staatliche Lehrplan

Als der Staat in den neuzeitlichen Jahrhunderten die Bildung aus der Hand der Kirche übernahm, waren entscheidende Veränderungen vor sich gegangen. Der Buchdruck hatte die Verbreitung des Wissens vom Akt des Schreibens gelöst. Das wissbegierige Publikum war breiter geworden; längst reichte es über die enge Schicht der clerici hinaus. Die einheitsschaffende Symbolkraft der Anschauung wich dem analytischen Drang nach Untersuchung des Einzelnen; die modernen Wissenschaften brachten Bewegung in den jahrhundertealten Kanon schulischer Wissensvermittlung und gestalteten die alten artes mit ihrer Balance des Intellektuellen, Musischen und Praktischen zu kognitiven Lernfächern mit enger Beziehung auf die Wissenschaften um.

So entstand in der neuzeitlichen Pädagogik in Europa oben ein wissenschaftszentrierter Kanon von Schulfächern, unten eine volkstümliche Grundbildung „für alle“. In dieser Doppelheit und Differenzierung erfüllte der moderne Staat die Forderung moderner Erziehung „Alle sollen alles lernen“ (Amos Comenius). Die vom Staat verwaltete und umhegte Bildung bemühte sich, eine gleichmäßige Sockelhöhe der Bildung für alle zu schaffen. Schule wurde jetzt eine Sache der Allgemeinheit; alle, nicht mehr nur die „happy few“, besuchten diese Schule, die sich zurecht den Namen „Schule des Volkes“, Volksschule, oder Normalschule („scuola normale“) zulegte. Die Schule wurde zum Ort, wo die Allgemeinheit der Staatsbürger sich traf, wo sich so etwas wie ein bürgerliches Bewusstsein vorbereitete. Und immer mehr Menschen gewannen mit der Zeit auch den Zugang zu weiterführenden Bildungsgängen, die früher nur wenigen vorbehalten waren.

Dies alles ging freilich langsam vor sich und brauchte Zeit. Noch in der Schule des 19. Jahrhunderts, welche die Egalisierung große Schritte vorantrieb, sprachen Herkunft, Standesunterschiede, Indigenat, Konfession und nicht zuletzt das Einkommen der Eltern beim Bildungsschicksal des Einzelnen mit. Erst unsere Zeit verhalf der egalisierenden Funktion der allgemeinen Bildung zum Durchbruch. Stufen auf diesem Weg waren Schulgeldfreiheit, Lernmittelfreiheit, Schulwegkostenfreiheit und Ausbildungsförderung. Die alten Bildungsbarrieren – des Lernorts, der Herkunft, des Geschlechts, der langen Schulwege, der Regionalsprachen – wurden auf diese Art zwar nicht einfach beseitigt, aber doch weitgehend gesenkt und eingeebnet – ein Vorgang, an den sich zumindest die westliche Welt so rasch gewöhnt hat, dass uns das Außergewöhnliche dieser Entwicklung heute kaum mehr vor Augen steht.

Auch inhaltlich brachte der moderne Staat als Verwalter der Bildung Vereinheitlichungen mit sich: So kehrte sich die „höhere“ (gymnasiale) Bildung vom umfassenden Bildungsideal der Standes- und Fachschulen des ancien régime entschieden ab und drängte auf einfache, übersichtliche Formen: Ein Wilhelm von Humboldt träumte davon, einen Wissenskanon aufzubauen allein aus Mathematik und alten Sprachen. Auch die Volksschule, aus dem Geist Rousseaus und Pestalozzis erwachsen, versuchte Weniges und Notwendiges in systematisierter Form an die Kinder heranzubringen: Lesen, Schreiben, Rechnen vor allem, dazu Heimatkunde, Geschichte – und vor allem: Religion. Denn auch die staatliche Schule der Neuzeit gab bis zur Schwelle der modernen Revolutionen – und in vielen europäischen Ländern darüber hinaus – die kirchliche und christliche Überlieferung an die jungen Menschen weiter. Sie blieb bekenntnisgebundene, später christliche Schule mit Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach. Die staatliche Neutralität als eine „offene“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde) gab der Kirche den Raum staatlicher Bildung frei – auf diese Weise blieb die ursprünglich in der Kirche entstandene und entwickelte Bildung auch in der säkularen Öffentlichkeit der Moderne gegenwärtig. (Ähnliches vollzog sich auf der Hochschulebene, wo die Theologischen Fakultäten in den meisten europäischen Ländern bis in die Gegenwart hinein fester Bestandteil der Universitäten blieben.)

Immer wieder drängten auch die „Realien“ in die Schule. Sie brachten im 19. Jahrhundert in den deutschsprachigen Ländern einen eigenen erfolgreichen Schultyp hervor, die Realschulen, die freilich dem Konzept der Allgemeinbildung verpflichtet blieben. Dagegen reicherte das im 20. Jahrhundert breit entfaltete berufliche Bildungswesen die Lehrpläne mit Elementen der Praxis an und stellte das Lernen unter das Gebot der Konsequenz. Und schließlich wuchs in den „Heimvolkshochschulen“ (zuerst in Dänemark) die Bildung über die Schulen hinaus: Sie wurde zur Erwachsenenbildung, zum „lebenslangen Lernen“. Das schloss die Freiheit ein, das Lehrangebot selbstständig zu gestalten, die Lehrenden auszuwählen und den Betrieb der Einrichtungen autonom zu regeln – durch Genossenschaften und Vereine, nicht mehr durch den Staat.

Bildungsreformen in der Gegenwart

Im Jahr 1957 schoss die Sowjetunion – als erster Staat – einen künstlichen Satelliten, den Sputnik, in eine Umlaufbahn um die Erde. Das löste vor allem in den Vereinigten Staaten eine Welle der Betroffenheit aus. Man fürchtete im Westen, im internationalen Wettstreit zurückzubleiben. Das Bildungswesen wurde als zentraler Antrieb für Innovationen erkannt. Unter dem „Sputnikschock“ kamen in den folgenden Jahren in Amerika, in Europa, schließlich in der ganzen Welt eingreifende Bildungsreformen in Gang. Während zahlreiche Entwicklungsländer den Schritt zu Alphabetisierung und Schriftkultur taten, weitete sich in den entwickelten Ländern das Schul- und Hochschulwesen aus: Es war – vor allem in Europa – die größte Gründerzeit seit Humanistentagen. Mehr und bessere Bildung für immer mehr Menschen: So lautete die Parole. Sie wurde in vielen Ländern zu einem parteiübergreifenden Programm. Vorübergehend beherrschte die Bildungspolitik die Innenpolitik – einen Augenblick lang sogar die Finanzpolitik. „Du willst Geld? Sag education!“ lautete ein ermunternder Spruch in amerikanischen Stiftungskreisen, der bald auch in Europa galt.

Freilich geriet die Bildung in dieser Zeit auch in neue Abhängigkeiten. Vor allem die Schule wurde jetzt vorwiegend unter sozialpolitischen und ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet: Sie wurde verantwortlich gemacht für den sozialen Aufstieg, den beruflichen Erfolg des einzelnen, seinen ökonomischen Status, sein Lebenszeiteinkommen. Der Blick wurde einseitig auf die Zukunft gerichtet. Die Gegenwart, der fruchtbare pädagogische Augenblick, die gemeinsame Suche nach Erkenntnis, das alles trat zurück; die Schule drohte zu einer Präparandenanstalt ausschließlich für Künftiges zu werden – eine offenkundige Enteignung.

Nichts ist bezeichnender für diesen Wandel als die zeitgenössische Umdeutung einer auf Seneca zurückgehenden lateinischen Maxime. Sie ist uns heute vertraut in der Fassung: Non scholae sed vitae discimus – wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben. Das klingt gut. Ursprünglich hieß der Satz jedoch genau umgekehrt: Non vitae sed scholae discimus – was man frei so übersetzen könnte: Wir lernen in erster Linie um der Muße, um der Bildung willen – und erst in zweiter Linie im Hinblick auf die spätere Lebenspraxis.

Zweifellos war die Entdeckung der Lebensdienlichkeit der Schule wichtig – wird doch unser Lebensschicksal von den Jahren, die wir auf Schulbänken, in Hochschulseminaren, in der beruflichen Bildung zubringen, aufs stärkste mitbestimmt. Ebenso gewiss ist aber: Wenn Erziehung und Bildung ausschließlich unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit, der Effizienz gesehen werden, muss der Sinn für das Pädagogische schwinden. Dann gerät Bildung in Gefahr, funktionalisiert zu werden: Plötzlich ist sie kein Selbstzweck mehr, kein unmittelbar erfahrbares, gegenwärtiges Glück – sie soll sich ja für später, für das Leben, lohnen. Es gilt nur noch die Langzeitperspektive. Konsequenterweise wird die Schule dann auch – wegen der unbestreitbaren gesellschaftlichen Bedeutung für alle – erbarmungslos verrechtlicht. Am Ende steht eine Schule, die, nach Helmut Schelskys bekanntem Wort, zur „bürokratischen Zuteilungsapparatur von Lebenschancen“ geworden ist, deren Gegenwartsgewicht gering ist, die erst in einer imaginären Zukunft Bedeutung gewinnt.

Auch die östliche Hälfte Europas erlebte in dieser Zeit eine Welle von Bildungsreformen. In der Sowjetunion versuchte Nikita Chruschtschow neuerlich – auf die Anfänge des Kommunismus zurückgreifend – die Trennungslinie zwischen geistiger und manueller Arbeit zu beseitigen. Dazu sollte ein universeller polytechnischer Unterricht dienen. Schule als Formerin des „neuen Menschen“ wurde mit Entschiedenheit gegen Schule als Instrument differenzierter Wissens- und Qualifikationsvermittlung ausgespielt. Doch auf die Dauer ließ sich auch in den Ländern des Ostblocks das Bedürfnis nach spezialisierter Sekundarschulbildung, nach differenzierten Lern- und Studienangeboten in Schulen und Hochschulen nicht unterdrücken – der notwendige Wettbewerb mit dem Westen begrenzte und korrigierte den gesellschaftspolitischen Egalitarismus. Die Kaderauslese und -ausbildung nahm in der sozialistischen Welt vielfach sogar striktere Formen an als im Westen. Und von den alten weltanschaulichen Direktiven und Erziehungszielen, die sich in Jugendweihen, der Schulung der Pioniere und einer Fülle quasi-katechetischer Literatur („Weltall, Erde, Mensch“) niederschlugen, blieb am Ende nur noch der verpflichtend verordnete, aber kaum mehr begründete Atheismus zurück.

Die Zukunft unserer Bildung

Seit seinem Ursprung in der Kirche ist das Bildungswesen eng verbunden mit dem Wertgefühl und den Verhaltensnormen einer Zeit. Und es ist seit seinem Übergang an den Staat ebenso eng verbunden mit den politischen und sozialen Formen des Gemeinwesens. So kann die frühere Regel „Keine Schule außerhalb der Kirche“ heute allgemeiner und umfassender formuliert werden: Keine Bildung ohne Wertbegründung; und so ist andererseits die staatliche Maxime „Alle sollen alles lernen“ heute präziser zu fassen: In aller Spezialisierung und Arbeitsteilung, die den Begriff der allgemeinen Bildung ständig differenziert und überholt, muss ein Konkret-Allgemeines die Bürger verbinden, damit eine Gemeinschaft entstehen und sich politisch legitimieren kann.

Nicht was alle lernen, ist dabei die erste Sorge des Staates, sondern dass alle lernen; nicht die spezifischen Inhalte der Bildung detailliert herauszuarbeiten obliegt ihm, sondern die Höhe des für alle Verbindlichen zu bestimmen und durchzusetzen. Immer werden für gleiche oder ähnliche Bildungsziele in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Begründungen geliefert werden. Hier sich festzulegen, seinerseits als Weltanschauungsträger aufzutreten, ist gerade nicht die Aufgabe des Staates. Ihm obliegt jedoch, nicht minder wichtig, die Bestimmung der Formen, in denen das allen Zumutbare seine konkret-historische Gestalt erlangt – und diese Aufgabe, die Sorge für die verpflichtende Kraft des Bildungswesens, kann ihm niemand abnehmen.

Die Aufgabe der Kirche – und der Christen – beginnt jenseits dieser Linie, die der religiös neutrale Staat nicht überschreiten kann: Sie zielt darauf, das Wertgefühl der Gemeinschaft zu festigen, indem sie es sinnfällig begründet. Dies nicht einfach nur aus der Tradition heraus, so wichtig diese ist, vielmehr aus einer Symbiose von Überlieferung und planendem Willen. Eine religiöse Begründung darf daran erinnern, dass alle Bildung nicht nur sprachlich mit dem Bild zu tun hat, dass sie das Geschaffensein nach Gottes Bild und Gleichnis voraussetzt – die Mystik sprach kühn vom „Überbildetwerden des Menschen“.

Im Übrigen kommen neue Herausforderungen auf das Bildungswesen zu. Technische Revolutionen verändern in wachsendem Maß das Umfeld der Bildungsvorgänge. Die neue digitale Welt tritt neben die alte schulische Welt (und dürfte in diese kaum ohne Rest zu integrieren sein). Und endlich internationalisiert sich das Bildungswesen im EU-Raum in immer rascherem Tempo: die alte Gleichung des Nationalstaats: Elternhaus = Muttersprache = Schule geht immer weniger auf. Kindergärten, Schulen, Hochschulen werden in Zukunft verstärkt und dauerhaft auf Kinder, Schüler, Studenten anderer Nationalitäten Rücksicht nehmen müssen. Sprachminderheiten begehren Einlass in die nationalen Bildungssysteme – nicht als Zaungäste, sondern als Partner auf Dauer.

Ein weiteres: Bildung kann in der heutigen Welt nicht mehr von ihren sozialen Prämissen leben. Das gesellschaftliche Magnetfeld rings um die Bildung ist schwächer geworden. „Der Tombola gehen die Preise aus“, so schrieb schon vor Jahren ein Kritiker in der Zeit des beginnenden numerus clausus. Damit dürfte auch die einseitige Betrachtung der Bildung unter ökonomisch-gesellschaftlichen Gesichtspunkten, die „Bildungsökonomik“, wie sie zeitweilig in der Zeit der Bildungsreform vorherrschte, überholt sein.

So ist Bildung zuletzt auf ihre eigene Anziehungskraft angewiesen. Sie kann sich dabei auf ihre alten Antriebskräfte stützen: Neugier, Lust am Entdecken und Erkennen, an Gedächtnisübung, Entfaltung der Sprache – sie sollte aber vor allem offen sein für persönliche Begegnungen, für Gespräche und Erfahrungen mit Menschen. Sie sollte der Anonymisierung in der heutigen Welt entgegenwirken. Denn „alle Erziehung ist Umgang“ (Adalbert Stifter). Im Übrigen hängt Bildung nicht von Reglements, von Abschlüssen und Titeln ab. Es kann durchaus gebildete Ungelernte und höchst ungebildete Gelernte geben. Höflichkeit, Herzlichkeit gehört zur Bildung dazu – soll diese nicht zu einer eitlen Selbstdarstellung werden oder ins Mandarinenhafte abgleiten.

So sei eine paradoxe, aber kluge Definition von Bildung an den Schluss gestellt: Bildung ist „das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir einmal lernten“.

Literaturhinweise

  • Oskar Anweiler (Hrsg.): Bildungsreformen in Osteuropa. Stuttgart 1969.
  • Gerhard Augst: Der Bildungswortschatz. Hildesheim/Zürich/New York 2019.
  • Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte. 3. Aufl. Ratingen 1971.
  • Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt/Leipzig 1999.
  • Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 3 Bände. Berlin 1934-1947.
  • Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim/Basel 1985.
  • Hans Maier: Bildungsreformen in Ost und West – eine Bilanz. In: Horst Bürkle, Gerhold Becker (Hrsg.): Communicatio Fidei. Festschrift für Eugen Biser. Regensburg 1983, S. 35-41.
  • Rudolf Schieffer (Hrsg.): Kirche und Bildung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2001.