OWEP 2/2019
Schwerpunkt:
Bildung in Mittel- und Osteuropa – Stand und Perspektiven
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Editorial
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa wurde es in den vormals kommunistischen Ländern möglich, auch die Bildungssysteme zu überwinden, die ideologisiert und auf Nützlichkeit ausgerichtet waren. Beim Neuanfang wurde jedoch schnell klar, dass es keine Bildung ohne eine Begründung von Werten geben kann. So besann man sich vielerorts erneut auch auf Religionsgemeinschaften. 30 Jahre nach den politischen Umbrüchen, in deren Folge nicht selten auch „Bildungsrevolutionen“ einhergingen, die im Westen viel zu wenig Beachtung finden, ist es Zeit für eine Bilanz. Das vorliegende Heft zeichnet diese Entwicklungen nach. Das katholische Hilfswerk Renovabis widmet ihnen 2019 eigens sein Jahresthema!
Die Beispiele aus Bulgarien, Estland, Polen, Rumänien und weiteren Ländern belegen eindrucksvoll, wie hoch die Erwartungen nach 1989 an die Überwindung von Ideologie und Nationalismus waren bis hin zum Traum von Bildung als von „einer besseren Welt“ im ehemaligen Jugoslawien. Dabei wurden auch Fehler gemacht und Enttäuschungen bewirkt, die sich jetzt mancherorts in einem „roll back“ bemerkbar machen. Unübersehbar ist auch das Spannungsfeld zwischen westlichem konfessionsneutralem Bildungsideal und den konfessionsgebundenen Bildungszielen mancherorts im Osten. Entscheidend bleibt die Freiwilligkeit eines konfessionsgebundenen Unterrichts. Hoffnungsvoll stimmt es, wenn Bildung als Möglichkeit verstanden wird, die Folgen von gewaltbelasteter Vergangenheit und Traumata zu überwinden und ein friedliches Zusammenleben von Konfessionen und Ethnien zu ermöglichen, oder die zunehmende Rolle der Erwachsenenbildung und der dualen Ausbildung als Grundlage für selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung vor Ort.
Schließlich ist auffällig, wie wenig die bevorstehenden technischen Revolutionen (Stichwort: Digitalisierung) und die Notwendigkeit einer stärkeren Internationalisierung der Bildungssysteme im 21. Jahrhundert thematisiert werden. Hier bleibt noch viel zu tun, aber es bieten sich auch Anknüpfungspunkte – für eine Zusammenarbeit mit westlichen Bildungsträgern, und insbesondere im Rahmen der Kirchen, deren ethisch begründete Stimme bei der Gestaltung der technischen Herausforderungen der Zukunft auch im Bildungsbereich unentbehrlich ist und für die internationale Zusammenarbeit kein Fremdwort ist.
Die Redaktion
Kurzinfo
Der Mensch lernt sein Leben lang, oder anders gesagt: „Man lernt nie aus.“ Lernen, sich bilden und erzogen werden sind wesentliche Aspekte des Menschen, damit im eigentlichen Sinne des Wortes Menschenrechte. Alle Formen der Bildung und Erziehung wollen den Menschen zu einem selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Teil der Gesellschaft machen. Von daher ist es nachvollziehbar, dass die Gesellschaft, der Staat als Ganzes und selbstverständlich auch die Religionsgemeinschaften auf Formen und Ziele von Bildung und Erziehung schon immer Einfluss genommen haben – in allen Kulturen und überall auf der Erde. In Mittel-, Ost- und Südosteuropa hat der Kommunismus unter dem Leitmotiv, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, schwerwiegende Eingriffe in das überkommene Bildungssystem vorgenommen, deren Folgen bis heute nachwirken. Dreißig Jahre nach den friedlichen Revolutionen ist es daher angebracht, Zustand und Perspektiven von Bildung und Erziehung auf den Prüfstand zu stellen. Die vorliegende Ausgabe versucht dies anhand von grundsätzlichen Beiträgen und Beispielen aus verschiedenen Ländern.
Zu Beginn muss die Frage stehen, was „Bildung“ und „Erziehung“ eigentlich genau bedeuten und wie sich beides in Europa entwickelt hat. Der frühere bayerische Kultusminister Prof. Dr. Hans Maier schlägt in einem Essay einen weiten Bogen von der Antike über das christliche, besonders von den Klöstern geprägte Bildungsideal des Mittelalters hin zu modernen Formen, bei denen die Aufklärung Pate gestanden hat, und zur gegenwärtigen Situation, in der sich die Gesellschaft als Ganzes mit neuen Herausforderungen wie Globalisierung und Digitalisierung auseinandersetzen muss. Damals wie heute ist die Anhäufung von Wissen wichtig, aber letztlich muss man wohl dem Autor zustimmen, wenn er am Ende seines Beitrags bemerkt: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir einmal lernten.“
Welche Veränderungen haben sich nach der „Wende“ 1989/90 in den ehemals kommunistischen Ländern im Bildungsbereich ergeben – was war neu, was ist geblieben, gibt es neben Fortschritt auch Rückschritt? Im Beitrag „Alte Antworten auf neue Fragen?“ analysiert der am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig tätige Literaturwissenschaftler Dr. Marcin Wiatr die Bildungsreformen in Polen und in der Ukraine seit den neunziger Jahren. In beiden Ländern lässt sich besonders in den gesellschaftswissenschaftlichen Schulfächern, also im Geschichts- und Politikunterricht, erkennen, wie die Politik in den letzten Jahren verstärkt Einfluss nimmt und u. a. längst überwunden geglaubte Feindbilder wiederbelebt. Es gilt, solchen Tendenzen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen zu treten.
Allen Säkularisierungstendenzen zum Trotz spielt das Christentum im gesamteuropäischen Bildungskanon bis heute eine wichtige Rolle, und ganz selbstverständlich hat daher der Religionsunterricht seinen Platz in den allgemeinbildenden Schulen – gerade auch in den Ländern des ehemaligen „Ostblocks“. Allerdings gibt es, wie an drei Länderbeispielen deutlich wird, erhebliche Unterschiede, wenn es um die praktische Umsetzung dieser Vorgabe geht. In Bulgarien spielt der Religionsunterricht, dessen Wiedereinführung und Entfaltung nach dem Ende des kommunistischen Systems Prof. Dr. Bojidar Andonov, Professor für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Sofia, beschreibt, eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis einer christlich-orthodox geprägten Nation in Südosteuropa. In Estland hingegen, ursprünglich evangelisch dominiert, heute jedoch eines der Länder mit dem niedrigsten christlichen Bevölkerungsanteil in Europa, war die Wiedereinführung eines konfessionellen Religionsunterrichts nach 1989 im öffentlichen Schulwesen nicht möglich. An seine Stelle ist, wie die Religionspädagogin Silja Härm, Doktorandin an der Universität Tartu, darlegt, das Modell eines überkonfessionellen Ethikunterrichts getreten. Im nach wie vor stark katholisch geprägten Polen wiederum spielt der Religionsunterricht, wie Dr. Szymon Stułkowski, Rektor des Priesterseminars der Erzdiözese Poznań, erläutert, noch immer eine wichtige Rolle für religiöse Heranbildung der jungen Generation.
Der Schul- und Bildungsbereich Mittel-, Ost- und Südosteuropas zeichnet sich durch eine Vielfalt unterschiedlicher Modelle und, verglichen mit Westeuropa, teilweise interessante Neuansätze aus. Sechs Beispiele aus verschiedenen Ländern stehen stellvertretend dafür. Elena Ajder, Leiterin des Sozial- und Bildungszentrums „Johannes Paul II.“ in Chişinău (Republik Moldau), beschreibt die Entstehung und Entwicklung der katholischen Kindergärten in der Republik Moldau, die von der überwiegend orthodoxen Bevölkerung sehr geschätzt werden. Im Mittelpunkt des Beitrags von Anuţa Gorzo, Lehrerin an der Grundschule „Bischof Dr. Alexandr Rusu“ in Baia Mare (Rumänien), stehen die geistlichen Prinzipien, auf denen nicht nur der eigentliche Lehrplan, sondern auch das Verhältnis zwischen Kindern und Lehrpersonal an dieser Schule, die von der griechisch-katholischen Kirche Rumäniens getragen wird, beruhen. Eine völlig andere Problemlage schildert P. Dr. Axel Bödefeld SJ, wenn er sich dem Thema „Duale Berufsausbildung im Kosovo“ widmet. Das Loyola-Gymnasium in Prizren gehört zu den besten Schulen des Landes, jedoch stehen viele Absolventen vor dem Problem, mit dem erworbenen Abschluss im Lande selbst keinen Beruf finden zu können – daher plant das Gymnasium in Zusammenarbeit mit Firmen im Kosovo die Einrichtung einer berufspraktischen Ausbildung, um die jungen Leute im Lande zu halten. Ein Beispiel des Aufbaues einer geisteswissenschaftlich ausgerichteten Universität in Russland, die nach 1990 aus bescheidenen Anfängen zu großer Bedeutung herangewachsen ist, zeigen die Ausführungen von Dr. Pjotr Malkow über die Orthodoxe Geisteswissenschaftliche Tichon-Universität; er selbst ist dort Dozent für Theologie. Unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ lässt sich der Beitrag von Dr. Sándor F. Szakács, Adél Kiss und Boglárka Péter, Mitarbeiter des Netzwerkes „Pro Educatione“ in Csíkszereda-Miercurea Ciuc (Rumänien), zusammenfassen. In diesem Netzwerk werden Projekte und Initiativen der Erwachsenenbildung koordiniert, die besonders der Bevölkerung in ländlichen Regionen Rumäniens zugute kommen. Der letzte Text der kleinen Reihe gilt der griechisch-katholischen Sozialakademie in Kiew, deren Entstehung, Strukturen und Ziele von Pfarrer Dr. Mykhaylo Melnyk, dem Direktor dieser Einrichtung, beschrieben werden.
Abgeschlossen wird das Heft mit einem Interview, in dessen Mittelpunkt die Schule als möglicher Raum für eine Verständigung zwischen verfeindeten Volksgruppen steht. In einem Gespräch mit Prof. Dr. Michael Albus schildert Weihbischof Dr. Pero Sudar aus Sarajevo die Überlegungen, die zur Gründung der katholischen Europaschulen in Bosnien und Herzegowina geführt haben, und ihre Bedeutung für den Abbau von Vorurteilen und das friedliche Miteinander von Katholiken, Orthodoxen und Muslimen in dem bis heute von Bürgerkriegsfolgen gezeichneten Land.
Ein Ausblick auf Heft 3/2019, das im kommenden August erscheinen wird: Es ist dem Thema „Mittel- und Osteuropa 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs“ gewidmet. Im Mittelpunkt des Heftes werden Kurzbeiträge von Menschen aus vielen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas stehen, die zum einen auf die damaligen Ereignisse zurückblicken, zum anderen zu den seitherigen Veränderungen kritisch Stellung nehmen werden.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
Man learns his life long, or in other words: „Learning never stops.“ Learning, being educated and brought up are essential human aspects, and thus in the true sense of the word human rights. In the course of human history, education and upbringing have experienced very different manifestations. Society, the state and not least the religions claim to define ways and methods as well as norms and goals. This issue traces these developments, especially in view of the changes in Central, Eastern and Southeastern Europe since 1989/90. It becomes clear that the ideals of Christianity will continue to shape education in many European countries in the 21st century as well.