Pionierarbeit

Duale Berufsausbildung im Kosovo
aus OWEP 2/2019  •  von Axel Bödefeld

Pater Dr. Axel Bödefeld SJ leitet seit vier Jahren das Loyola-Gymnasium in Prizren/Kosovo.

Zusammenfassung

Viele junge Menschen im Osten und Südosten Europas verfügen zwar über eine gute Schulbildung, häufig sogar über einen Universitätsabschluss, finden jedoch oft keine Arbeit in ihrer Heimat, weil ihre Qualifikation nicht auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts abgestimmt ist. Der folgende Beitrag skizziert die Planungen zu einer dualen Berufsausbildung im Kosovo, die das Problem lösen könnte.

Trotz guter Ausbildung – keine Perspektive!

Jährlich verlassen weit mehr als einhundert junge Frauen und Männer mit dem Zeugnis der erfolgreich bestandenen staatlichen Matura das Loyola-Gymnasium. Sie dürften schon allein aufgrund der umfangreichen Stundentafel zu den bestausgebildeten Abiturienten ihres Landes gehören: Im Fremdsprachenunterricht Deutsch besteht die Möglichkeit, das deutsche Sprachdiplom Stufe B2/C1 zu erreichen, im Fremdsprachenunterricht Englisch die Möglichkeit, einen TOEFL-Vorbereitungskurs1 zu belegen. In Fach Wirtschaft gibt es ein freiwilliges Tutorium, im Fach Informationstechnologie kann der europäische Computerführerschein ECDL („European Computer Driving Licence“) erworben werden. Und zu all dem gibt es verstärkten Unterricht in Mathematik, der Muttersprache Albanisch und Latein.

Einbindung im Text:

Blick auf das Loyola-Gymnasium (2015) [Foto: Renovabis-Archiv]

Doch was passiert danach? Eine gute voruniversitäre Erziehung kann ihre Augen nicht davor verschließen, ob die vermittelte Bildung und Erziehung für ein eigenständiges Leben fruchtbar gemacht werden kann. Ihre praktische Nützlichkeit ist nicht das entscheidende Kriterium für eine Gymnasialausbildung. Aber es ist verantwortungslos, junge Menschen zu Höchstleistungen anzustiften, aus denen dann nur sehr schwer Perspektiven für die eigene Lebensgestaltung gewonnen werden können.

Genau das ist die Situation junger Menschen im Kosovo, auch derer mit einer soliden Schulausbildung. 40 Prozent der Bevölkerung des Landes, die insgesamt etwa 1,6 Millionen Menschen umfasst, sind jünger als 25 Jahre. Die Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Altersgruppe liegt bei 55 Prozent.

Jedes Jahr wächst die Zahl unserer Abiturienten, die für eine Berufsausbildung oder ein Studium nach Deutschland gehen. Deutsche Unternehmen und auch Wohlfahrtsverbände kommen und umwerben die zahlreichen Interessenten, weil sie eine vielversprechende Entschärfung des westlichen Fachkräftemangels darstellen. Gleichzeitig wird die Situation im Land immer schwieriger, weil künftige Verantwortungsträger abwandern und eine fragile Gesellschaft zurückbleibt. Wirtschaftlich hängt sie am Tropf der Transferleistungen aus dem Ausland, nach Regierungsangaben aus dem Jahr 2017 in Höhe von jährlich etwa 1,5 Milliarden Euro.

Ursachen der verfahrenen Situation

Sicher gibt es viele Gründe dafür, warum Investitionen zur Belebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in größerem Ausmaß ausbleiben. Da ist die Sorge im Ausland vor der Sicherheitslage. Dem ist jedoch als klares Signal der weitgehende Abzug der deutschen KFOR-Truppen aus dem Kosovo zum Jahresende 2018 entgegenzuhalten. Da ist ferner die unbestritten verbreitete Korruption, wenn auch das Voranrücken des Kosovo auf dem Korruptionsindex von Transparency International Anlass zu verhaltenem Optimismus gibt.

Da ist aber vor allem der nicht erfüllbare Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Das ist überraschend bei einer in Gesamtbetrachtung geschätzten Arbeitslosigkeit von mindestens 30 Prozent. Selbst die technischen Gymnasien vermögen aufgrund veralteter Ausstattung und eklatanter Unterfinanzierung nicht die Qualifikationen zu vermitteln, die der fragile Arbeitsmarkt für seine Erstarkung benötigt. So wächst das enorme Außenhandelsdefizit immer weiter, weil der Binnenmarkt viel zu wenig produziert und verarbeitet, sondern sich auf Dienstleistungen und Handel beschränkt.

Zahllos sind die großen und auch kleineren Studien, die in den letzten Jahren unternommen wurden, um dieses Problem zu analysieren, und sie alle kommen zu dem gleichen Ergebnis: Die Belebung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt benötigt hochwertige berufliche Qualifizierung in enger Absprache mit den Unternehmen. Akademische Abschlüsse werden im Übermaß vergeben, aber es gibt im Land keine berufspraktische Ausbildung nach westlichen Vorbildern. Genau das haben wir uns vorgenommen.

Berufspraktische Ausbildung als Weg aus der Krise

Ausgangssituation

Nach Kontakten mit über siebzig Unternehmen im Land und persönlichen Interviews in über dreißig Betrieben waren wir überzeugt, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studien, insbesondere von Weltbank, UNDP und ALLED2, in der Tat richtig liegen: Zur Förderung des produzierendes Sektors werden hochqualifizierte Mechatroniker benötigt. Mechatronik ist ein vergleichsweise junger Beruf, der Elemente aus Mechanik, Elektrik, Elektronik und Informatik verbindet und insbesondere bei der Steuerung digitalisierter Fertigungsanlagen unverzichtbar ist. Die wenigen Unternehmen in Kosovo, die schon über solche Produktionsanlagen verfügen, beklagen die hohen Wartungs- und Reparaturkosten, weil Experten aufwändig aus dem Ausland anreisen müssen. Andere investitionswillige Unternehmen zögern mit der Realisierung der Investition, weil kein kompetentes Personal für die Steuerung und Instandhaltung zur Verfügung steht.

Inzwischen haben wir annähernd zwanzig Unternehmen, die im Kosovo aktiv sind, für eine Zusammenarbeit gewinnen können. Das bestärkt uns, weiter voranzuschreiten.

Wir streben eine duale Berufsausbildung an, also mit den beiden Lernorten „Ausbildungsbetrieb“ und „Berufsschule“/ „Überbetriebliches Ausbildungszentrum“. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten und Ausstattung nicht weniger unserer Ausbildungsbetriebe kommt dem überbetrieblichen Ausbildungszentrum, das wir einrichten und leiten werden, eine besondere Bedeutung zu. Innerhalb der dreijährigen Ausbildung werden die Auszubildenden jährlich voraussichtlich drei Monate in ihren Betrieben und die übrige Zeit in Schule und Ausbildungszentrum verbringen. Zugleich sind die Ausbildungsbetriebe von Beginn der Planung an in die Entwicklung der Inhalte und Lehrpläne einbezogen, um eine möglichst umfassende Übereinstimmung mit deren realem Kompetenzbedarf zu erzielen. Dabei haben wir uns gemeinsam entschieden, für die Phase der Ausbildung bis zum ersten Teil der Abschlussprüfung vollständig den entsprechenden deutschen Rahmenlehrplan zu übernehmen. Damit steht mehr als ein Jahr praktischer Erfahrung mit der Ausbildung zu Verfügung, um dann darauf aufbauend Entscheidungen über Akzente, Anreicherungen oder Spezialisierungen zu treffen. Aufgrund der erwähnten hohen Ausbildungsanteile im Ausbildungszentrum steht dafür ausreichend Zeit zur Verfügung.

Aufnahme und betriebliche Vereinbarung

Aufnahmevoraussetzung ist das kosovarische Abitur, denn die Ausbildung wird erhebliche englischsprachige Anteile haben, um eine europäische Anschlussfähigkeit zu sichern. Darüber hinaus wird auch die Berufsschule mit einem eigenen Curriculum verstärkt Mathematik und Englisch, aber auch Wirtschaft und Betriebsführung vermitteln. Die Absolventen sollen angeregt und ermutigt werden, nach einigen Jahren selbst unternehmerisch aktiv zu werden, Arbeitsplätze zu schaffen und so zum Aufbau eines Mittelstandes beizutragen. Deshalb wird auch keine unmittelbare Anerkennung des beruflichen Diploms in Deutschland angezielt. Die für Kosovo zuständige Außenhandelskammer in Makedonien wird die Ausbildungs- und Prüfungsstandards nach deutschen Kriterien überwachen und zertifizieren. Weil aber eine Ausbildung für den kosovarischen und nicht für den ausländischen Arbeitsmarkt angezielt ist, wird eine Anerkennung in Deutschland Nachschulung im Umfang von sechs bis zwölf Monaten benötigen.

Vor Ausbildungsbeginn schließt jeder Ausbildungsbetrieb mit uns als Schulträger eine Kooperationsvereinbarung ab. Die Auszubildenden erhalten keine Ausbildungsvergütung, aber die Betriebe bezahlen abhängig von ihrer Mitarbeiteranzahl einen monatlichen Beitrag für die Ausbildungsleistung an uns. Als Nichtregierungsorganisation arbeiten wir nicht gewinnorientiert, und der gesamte Zweig der Berufsausbildung wird ebenso wie unsere anderen Bildungseinrichtungen ein spendenabhängiger Zuschussbetrieb sein. Die kosovarische Regierung hat uns bislang einen Investitionszuschuss erstattet sowie die Teil-Refinanzierung des Personals und einen laufenden Betriebskostenzuschuss in Aussicht gestellt. Ein gemeinsamer Vertrag von Ausbildungsbetrieb, Auszubildendem und uns als Schulträger beschreibt die jeweiligen Verpflichtungen und Rechte. Schließlich empfehlen wir den Betrieben, noch eine weitere Vereinbarung mit den Auszubildenden abzuschließen, die regelt, was passiert, wenn der Auszubildende die Ausbildung nicht abschließt oder nach Abschluss nicht im Betrieb bleiben will.

Weitere Planungen

Wir planen den Bau von sechs Werkstattbereichen, von denen jeweils zwei durch einen gemeinsamen Unterrichtsraum für Fachtheorie und ein Lager für Verbrauchsmaterial miteinander verbunden sind. Hinzu kommen eine Schweißer-Werkstatt und ein IT-Bereich. Mit Hilfe deutscher Partner und Unterstützer wollen wir einen hochmodernen Werkstattbereich einrichten, der – anders als die universitäre Ausbildung – stark praktisch und handlungsorientiert ist. Die Fachtheorie soll in unmittelbarer Nähe der Werkstätten unterrichtet werden. Für den nicht berufsbezogenen Unterricht der Berufsschule wird es eigene Klassenräume geben. Eine Klasse soll nicht mehr als 25 Auszubildende haben. Wir hoffen auf einen erheblichen Anteil weiblicher Auszubildender, und wir sind nicht auf junge Schulabsolventen festgelegt. Vielmehr hoffen wir auch auf langjährige Mitarbeiter von Unternehmen, die diese für komplexere Aufgaben qualifizieren wollen.

Zur Bedeutung des Projekts innerhalb Kosovos

Mit diesem Projekt sind wir Pioniere. Es gibt mehrmonatige berufliche Kurzzeit-Qualifikationen, und es gibt Versuche, 18monatige Programme im Bereich der Kfz-Mechatronik zu installieren. Obwohl allenthalben gefordert und als Lösung lanciert, gibt es im Land noch keine duale Berufsausbildung. Wir wollen uns deshalb bemühen, in allen Punkten wie Lehrplänen, Ausstattung und Didaktik modellhaft vorzugehen und zu zeigen, dass und wie berufliche Ausbildung auch im Kosovo möglich ist. Dabei war und ist auch für uns die Schlüsselfrage die nach kompetentem Lehrpersonal. Aufgrund der Pioniersituation gibt es ja eben noch keine erfahrenen Lehrer oder Anleiter für mechatronische Fachpraxis und dergleichen im Land. Wir haben uns entschieden, eine junge Absolventin des Master-Studiengangs Mechatronik an der Universität der Hauptstadt anzustellen. Sie ist fachtheoretisch hochqualifiziert. Vor Beginn ihrer Lehrtätigkeit im September durchläuft sie eine fünfmonatige Hospitation in Deutschland, in der sie in verschiedenen Ausbildungszentren, Lehrwerkstätten und Unternehmen erleben wird, wie Fachpraxis und Fachtheorie im dualen Ausbildungssystem unterrichtet werden. Sie macht also eine Art Referendariat in komprimierter Form. Dabei helfen uns viele Partner, Unternehmen und Industrie- und Handelskammern von Hannover bis München. Darüber hinaus kooperieren wir mit dem Senior Expert Service der deutschen Wirtschaft, um insbesondere für die Anfangssituation möglichst umfassende Kompetenz einzuholen. Consulting Agenturen, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und das Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM) zählen wir zu unseren weiteren Partnern. Seit Monaten ist ein junger kosovarischer Jurist damit beschäftigt, alle Dokumente für die Akkreditierung und Lizenzierung durch die kosovarischen Institutionen zusammenzustellen – eine enorme Bürokratie.

Lernen ist Leben – wo gilt das unmittelbarer als im Feld der beruflichen Bildung, wenn das Lernen den Lebensunterhalt sichert? Wir hoffen, durch unsere Anstrengungen und die unserer Partner und Förderer beitragen zu können, dass junge Kosovarinnen und Kosovaren ihr Land nicht mehr verlassen müssen, wenn sie sich eine berufliche Perspektive aufbauen wollen. Wir hoffen, mit unserem Berufsschulprojekt sehr bald Nachahmer zu finden. Und wir hoffen, so einen kleinen Beitrag zur Entwicklung besserer Lebensbedingungen für viele Menschen der Region zu leisten.


Fußnoten:


  1. TOEFL bedeutet „Test of English as a Foreign Language“. Darunter ist ein standardisierter Test zu verstehen, der die Kenntnis der englischen Sprache von Nicht-Muttersprachlern überprüft. Viele Universitäten im englischsprachigen Raum, insbesondere in den USA, erkennen ihn als Zulassungsvoraussetzung an. ↩︎

  2. UNDP steht für „United Nations Development Programme“, ALLED für „Aligning Education with Labour Market Needs“ (www.alledkosovo.com). ↩︎