Das mittlere und östliche Europa – 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
Zusammenfassung
Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Ende der 1980er Jahre trafen trotz mancher Vorzeichen die Menschen unerwartet und haben Europas Gestalt unwiderruflich verändert. Rückblickend ist aber festzuhalten, dass sich viele Hoffnungen nicht erfüllt haben, vielmehr die Schatten der Vergangenheit weit ins 21. Jahrhundert hineinragen und Europas Zukunft bedrohen. Angesichts dieses krisenhaften Befundes warnt der Autor vor Hysterie und rät zu Besonnenheit und Geistesgegenwart.
I.
Jubiläen und Jahrestage haben etwas Merkwürdiges, Irritierendes an sich – ob es sich um 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Novemberrevolution oder den Versailler Vertrag handelt, um nur Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zu zitieren. Runde Daten erklären gar nichts. Sie sind im schlimmsten Fall Anlässe, um den Kulturbetrieb in Gang zu halten – Festtage, Gedenktage, Buchproduktion, Konferenzen –, im besten Falle Anlässe innezuhalten, Augenblicke der Nachdenklichkeit, der Reflexion. So ist es auch mit dem 30. Jahrestag des Falls der Mauer in diesem Jahr oder mit dem 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes samt Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aber was wäre zu 30 Jahren Mauerfall zu sagen, was nicht schon gesagt worden ist!
In dem Augenblick, als die Mauer fiel – oder etwas weiter gestreckt: der Eiserne Vorhang zerfiel –, wussten alle, dass etwas Ungeheuerliches geschah. Die Vokabel des Augenblicks lautete: Wahnsinn. Niemand konnte glauben, was doch geschehen war: dass in einem Augenblick die gesamte politische Landkarte sich verändert hatte, dass man freien Fußes eine Grenze überschreiten konnte, die bis gestern noch nur unter Todesgefahr überwunden werden konnte. Das Undenkbare war über Nacht geschehen. Und alle, die den „historischen Augenblick“ miterlebt hatten, wussten: Nichts würde mehr so sein, wie es einmal gewesen ist. Auch dies ein Satz, der die Runde machte, ein Gemeinplatz, der keines weiteren Beweises bedurfte. Ja, alle wussten, dass „nichts bleibt, wie es gewesen war“.
Und obwohl alle es wussten, waren doch die meisten überrascht, als der alte Zustand abgewickelt und der neue Zustand eingetreten war. Selbst jene, die den „historischen Augenblick“ herbeigesehnt hatten – ja, solche gab es nach einer jahrzehntelangen Teilung des Landes und des Kontinents –, waren überrumpelt, als es so weit war. Viele hatten sich schon auf ein „Ende der Geschichte“, wie ein populärer Buchtitel von Francis Fukuyama in den späten 1980er Jahren hieß1, eingerichtet, nun wurden sie hineingerissen in eine Geschichte, die sich rasend in Bewegung setzte. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die Wiedervereinigung des geteilten Kontinents, das Ende der ost-westlichen Teilung der Welt – mit einem Mal war all das Wirklichkeit geworden. Es ging eigentlich nur noch um die Modalitäten, um die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, kaum aber um eine Rückkehr zum status quo ante: Die Nachkriegszeit war zu Ende, ja das „Jahrhundert der Extreme“ war beendet.
II.
30 Jahre danach sind wir schlauer. An Besserwissern, die schon im Augenblick der Wende alles hatten kommen sehen, was dann kam, fehlt es nicht. In der Euphorie des Gelingens gab es keinen Raum für die dunklen Seiten des Endes der Nachkriegsordnung. Die Auflösung der Ordnung: der politischen Ordnung, der sozialen Ordnung, der moralischen und kulturellen Orientierungen. Das Verschwinden der Großen Grenze ging einher mit neuen Grenzziehungen. An die Stelle der Supermacht-Imperien traten (wieder) die Nationalstaaten. Das Ende des „ideologischen Zeitalters“ endete oft in der Wiedergeburt alt-neuer Ideologien und Mythen. Was zuvor hochgehalten worden war, wurde jetzt nieder gemacht – ganz gleich, ob es sich um Textbücher oder Denkmäler handelte. Eine große „Umwertung der Werte“ ging über den östlichen Teil des Kontinents hinweg. Alte Hierarchien zerfielen, neue bauten sich auf – ein Autoritarismus neuen Typs. Es geschah etwas, was es in Europa mehr als ein halbes Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte: Krieg. Der Krieg war zurückgekehrt nach Europa: als vielerorts aufflammender Bürgerkrieg an der Peripherie des Sowjetimperiums, als ethnischer Krieg in Jugoslawien, in dem ein Dutzend Nationen ein halbes Jahrhundert mehr recht als schlecht miteinander ausgekommen waren. Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung, Kriegsgräuel – darauf war Europa nicht gefasst.
Was „theoretisch klar“ war – dass nichts bleiben würde, wie es war – war in der Lebenswirklichkeit nur schwer zu verkraften, denn es ging um Existenzen und Schicksale: um den Verlust des sozialen Status, um das Ende von Lebensplanungen und Sicherheit, um einen zweiten Anfang, der alle erdenkliche Kraft erforderte, um den Verlust von Gewissheiten und die Anstrengung, sich noch einmal „ganz neu aufzustellen“. Keine Sphäre des Alltagslebens blieb davon verschont: nicht die Berufswelt, nicht die Bücher, die man in der Schule zu lesen bekam, nicht die Fernsehprogramme. Jahre, Jahrzehnte der Turbulenzen, in denen das Neue und das Alte, die neue Bewegungsfreiheit und die Sehnsucht nach dem Alt-Vertrauten Hand in Hand und ein tiefer Riss mitten durch Familien und Freundschaften gingen – Verlierer und Gewinner in nächster Nachbarschaft. Daher ist es auch nicht möglich, einen idealen Durchschnitt heraus zu präparieren. Das gilt schon für die verschiedenen Staaten und Gesellschaften: Die Polen hatten andere Erfahrungen als die Tschechen, die Ungarn andere als die Rumänen, die DDR-Deutschen andere als die Sowjetbürger usf. Man kommt heute mit einem „allgemeinen Überblick“ nicht mehr weit.
Der Eintritt in eine Zeit des Tumults und der Wirren war angesichts der tektonischen Verwerfungen und Verschiebungen das nächst Liegende, auch wenn es schwer fiel, sich dies einzugestehen. Dies gilt vor allem für das westliche Europa, in dem man – eine Weile wenigstens – in der Illusion weiterleben konnte, dass alles beim Alten bliebe. Während man dem Osten riet, alles Mögliche nachzuholen – die Modernisierung, den Liberalismus, die Demokratie, die life-style Revolution – ging das Leben in der westlichen Komfortzone weiter. Es dauerte eine Weile, bis die in der gesicherten Nachkriegswelt aufgewachsene und friedensverwöhnte Generation merkte, dass die Änderungen nicht an der alten Grenze Halt machten. Unbehagen löste die happy end-Stimmung ab.
Die ganze Welt war im Umbruch begriffen. Aus der bipolaren Welt von Ost-West war die polyzentrische Welt der global players geworden, in der die Verteilung von Einflusszonen neu ausgehandelt wurde. Was einmal Weltmacht oder Supermacht war, und sei sie noch so mächtig, musste sich anschicken, sich „neu aufzustellen“ – ob es sich um die Sowjetunion, die Supermacht von einst, um das mächtige Amerika, um die Europäische Union oder China im Aufstieg handelte. Es gab nicht überall „Helden des Rückzugs“, die so dringend gebraucht wurden. Verschiebungen der Kraftzentren im beginnenden 21. Jahrhundert gingen nicht ohne Infragestellung der bis dahin geltenden Orientierungen und Koordinaten ab. Nichts und niemand war ausgenommen von einer Neubegründung der je geltenden und verfochtenen Ansprüche und Werte. Die Weltunordnung wurde der angemessene Ausdruck einer Welt im Übergang, und die einzige Frage war und ist, in welcher Form sich dieser (unvermeidliche) Übergang vollzieht: kriegerisch oder zivil und diplomatisch moderiert, tentativ und defensiv in Kompromissen oder unter Einsatz von Druckmitteln bis hin zum militärischen Ernstfall.
III.
Das mittlere und östliche Europa ist von diesen Verwerfungen und Verschiebungen nicht unberührt, mehr noch: Es hatte sich für ein halbes Jahrhundert im Schnittpunkt der Interessen der rivalisierenden Supermächte befunden, nur war es plötzlich wieder in die Zwischenzone, in die Unsicherheit einer Peripherie gerutscht – die „shatterzone“2 aus der Zeit zwischen den Kriegen mit allem, was dazugehörte: den neuen Freiheiten, aber auch den Unberechenbarkeiten und Risiken. Alte Konfliktlinien, die in der Zeit des Kalten Krieges überdeckt oder stillgelegt waren, brachen wieder auf, Pfadabhängigkeiten wurden wieder virulent, die longue durée meldete sich zurück, Rivalitäten, die als erledigt angesehen waren, wurden reaktiviert – mutatis mutandis: Denn jetzt gab es etwas Neues, das nach dem Krieg gebaute Europa, ein wesentlich westliches Europa, dem anzuschließen man entschlossen war. Doch auch dieser Fixpunkt – die EU – geriet in Turbulenzen, die sich nach einer so langen Erfolgsgeschichte kaum jemand hatte vorstellen können und die den für selbstverständlich angenommenen Prozess fortschreitender Integration infrage stellten: Wirtschaftskrise, Eurokrise, Anprall der großen Wanderungsbewegung, militärische Bedrohung durch ein neoimperial ausgreifendes Russland, das seine innere Stabilität in der Flucht nach vorn, in der Aggression gegen Nachbarländer – Georgien, die Ukraine – zu gewinnen sucht.
In dieser Situation, in der die Europäer mehr als je zuvor auf sich selbst gestellt sind, ist alles möglich: die Vertiefung der Spaltung, aber auch die Neuaushandlung eines modus vivendi für die neuen Verhältnisse, Panik und Hysterie, aber auch eine Entdramatisierung und Gewöhnung an Krisenbewältigung als das Alltagsgeschäft von Gemeinwesen und Staaten, wenn ein Goldenes Zeitalter vorüber ist. Die Devise für diese Situation ist eher Muddling through, ein „sich irgendwie Durchwurschteln“, und nicht das Entweder/Oder der Utopie – einer immer perfekteren EU – oder der Apokalpyse – Untergang des Abendlandes. Das Ende des Euro wäre nicht das Ende Europas, die Rückgewinnung der Kontrolle über die Binnengrenzen beschneidet zwar ein wenig den Luxus, an den wir uns in Schengen-Europa gewöhnt haben, aber auch das ist nicht das Ende Europas. Es braucht eine neue Elastizität und weniger Beschwörungsrhetorik, mehr Gelassenheit und weniger Hysterie, vor allem aber brauchen wir Aufklärung und Auskünfte, woran wir sind, wenn die alten Koordinaten, mit denen wir groß geworden sind, nicht mehr taugen. Es gibt keinen Automatismus und kein Patentrezept. Was not tut, ist Hellwachheit, Geistesgegenwart, um zur Kenntnis nehmen, was der Fall ist, sich Einstellen auf den Ernstfall, und – so banal das klingt: die Nerven behalten und anständig bleiben in Zeiten, in denen man verführt ist, durchzudrehen und die Schuld für alles und jedes beim anderen zu suchen.