OWEP 3/2019
Schwerpunkt:
30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
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Editorial
Im November 2019 jährt sich die Öffnung der Berliner Mauer, wohl das markanteste Ereignis im wahrlich schicksalhaften Jahr 1989, zum dreißigsten Mal. Damit ist seither mehr als eine Generation vergangen, eigentlich kein langer Zeitraum, aber doch auch wieder lang genug, um im Gedächtnis Europas allmählich zu verblassen. Es ist müßig daran zu erinnern, was seither alles geschehen ist – man denke nur an den 11. September 2001 und dessen Folgen weltweit, aber auch an die vielen Krisen, die Europa als Ganzes, also nicht nur die Europäische Union, erfasst haben. Die weitere politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents ist, man kann es wohl so vorsichtig umschreiben, von Unsicherheit und Zukunftsängsten geprägt.
Welche Rolle spielen angesichts dieses Befundes die Ereignisse des Jahres 1989 und die vorhergehenden Prozesse, die den Wandel und die (nicht überall) friedlichen Revolutionen überhaupt erst möglich gemacht haben, für die Gegenwart? Die vorliegende Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven wird nicht den Anspruch erheben, einen analytisch ausgereiften Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu liefern. Das Heft enthält einen Essay, der die damaligen Ereignisse kritisch würdigt, und ein Interview mit einem deutschen Politiker, der in den achtziger und neunziger Jahren an verantwortlicher Stelle eine wichtige Position einnahm. Vor allem aber enthält das Heft 22 Kurzbeiträge von Zeitzeugen wie von Nachgeborenen, in denen vieles von dem, was damals und bis heute die Menschen bewegt hat, zu Wort kommt.
Mehrfach ist in dieser Ausgabe von „Bilanz“ die Rede. Wir würden uns freuen, wenn sich die Leserinnen und Leser im Anschluss an die Texte ihre eigenen Gedanken über das Jahr 1989 und seine Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft machen. Die Bilanz wird sicher gemischt ausfallen, aber lohnen wird sie sich auf jeden Fall.
Die Redaktion
Kurzinfo
Angesichts aktueller Krisen und Konflikte in Europa muss man festhalten: Die Erinnerungen an die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Mittel-, Ost- und Südosteuropa vor 30 Jahren verblassen allmählich. Für Deutschland bildet die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 das Kerndatum, andere Länder haben ihre je eigenen Erinnerungsdaten und -orte. Was alle betroffenen Länder – auch die neuen deutschen Bundesländer – in je unterschiedlicher Gestaltung verbindet, war und ist die seitherige Entwicklung. Es legt sich nahe, bei allen Unterschieden auf das Gemeinsame der bewegten „Wendejahre“ zurückzublicken. Die aktuelle Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven enthält dazu einen einführenden Essay und lässt danach Zeitzeugen und Nachgeborene zu Wort kommen.
Mit den Worten „Wahnsinn“ lässt sich, wie der Osteuropahistoriker Prof. Dr. Karl Schlögel zugespitzt formuliert, die Stimmung in den entscheidenden Tagen des Jahres 1989 kurz und bündig charakterisieren. Ein anderes vielzitiertes Diktum sprach vom „Ende der Geschichte“: In Europa, ja in der ganzen Welt sollten alle Gräben überwunden und so etwas wie der ewige Friede ausgebrochen sein. Mit wenigen scharfen Worten entlarvt der Autor diese Illusion, denn gerade in Europa brachen blutige Kriege aus (Musterfall: Jugoslawien), und wenige Jahre nach der Osterweiterung von NATO und EU ist Europa alles andere als ein Ort von Friede und Einigkeit. Angesichts dieses Befundes bleibt, so das ernüchternde Fazit, nur Mut zu Realismus und ein Gefühl für das Machbare, wenn die Zukunft des Kontinents einigermaßen gedeihlich verlaufen soll.
„Bilanz ohne Illusion“ ist der nachfolgende Hauptabschnitt des Heftes mit 22 Kurzbeiträgen überschrieben. Darin kommen Frauen und Männer aus der ehemaligen DDR, aus Estland, Lettland, Polen, Rumänien, Serbien, der Slowakei, Tschechien, der Ukraine und Ungarn zu Wort. Viele haben die Zeit vor und um die Ereignisse von 1989 bewusst erlebt, andere waren noch kleine Kinder oder überhaupt noch nicht geboren und können daher nur auf Erzählungen und Erfahrungen der vorherigen Generationen zurückgreifen. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren ist mehr oder weniger zufällig im Blick auf Herkunft, Beruf und Religionszugehörigkeit; auch hätten Länder wie Bulgarien, Kroatien oder Weißrussland ebenso vertreten sein können. Die „Bilanz ohne Illusion“, deren Beiträge sich auch stilistisch stark voneinander unterscheiden, ist nicht repräsentativ, bietet aber doch ein Stimmungsbild, das sich so oder ähnlich in den Empfindungen vieler Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa widerspiegelt. Stellvertretend mögen dafür einige Titel stehen: „Erfüllte Hoffnungen – aber noch nicht für die mittlere und ältere Generation“ (aus der ehemaligen DDR), „Wandern nach der Gefangenschaft“ (aus Ungarn), „30 Jahre zwischen Gewinn und Verlust“ (aus Polen), „Träume werden wahr“ (aus Lettland).
Bei so vielen Stimmen ist es nicht ganz einfach, das Verbindende herauszuarbeiten. Der Autor dieser Zeilen hat einige Schwerpunkte ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt: So haben die Umbrüche viel Neues und Gutes gebracht (Demokratisierung, Reisefreiheit, Pressefreiheit), aber auch Negatives, etwa einen ungezügelten Kapitalismus. Auch sind anstelle alter Trennlinien neue Mauern, Grenzen und Blockaden in den Köpfen und z. T. auch direkt erkennbar – man denke an die Nachfolgestaaten Jugoslawiens – entstanden. Vielfach ist Unsicherheit zu spüren, ja Angst vor der Zukunft, was zur Rückwärtsbewegung in mehrfacher Hinsicht geführt hat. Dennoch überwiegt insgesamt das Positive, der Gewinn, und nicht das Negative, der Verlust. Wiederholt wird das wunderbare Eingreifen Gottes genannt, das den „Traum von 1989“ erst möglich gemacht hat.
Abgeschlossen wird das Heft durch ein Interview mit Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976-1998) und von Thüringen (1992-2003), der als hochrangiges Mitglied der CDU die Ereignisse von 1989 in Deutschland miterlebt und die Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit zum Teil mitgestaltet hat. In seinen Darlegungen lässt er die bewegten Monate zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 Revue passieren und erinnert daran, dass der seither beschrittene Weg der europäischen Integration ein hohes Gut ist, das nicht leichtfertig verspielt werden darf.
Ein Ausblick auf Heft 4/2019, das im kommenden November erscheinen wird: Es ist dem Thema „Die Ukraine fünf Jahre nach dem Majdan“ gewidmet. Neben Beiträgen zur politischen und kirchlichen Situation enthält das Heft eine längere Reportage und mehrere Interviews, die im August dieses Jahres entstanden sind.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
More than a generation has passed since the opening of the Berlin Wall, which was the most significant event for the inhabitants of both German states in the „turnaround years“ 1989/90. Gradually, the memories of the political and social upheavals in Central, Eastern and Southeastern Europe are fading, not least because of the political crises of recent years euphoria has been replaced by disillusionment, often even resignation. In addition to an introductory essay by the East European historian Karl Schlögel, the current issue contains 22 short texts by contemporary witnesses and people of the younger generation in which they convey their own personal impressions and thoughts. The booklet concludes with an interview with Bernhard Vogel, who, as a German politician in a responsible position, reviews the events of those years.