„Wenn der Vogel kein Nest mehr hat“
Seit zwei Jahren arbeite und lebe ich im Norden Albaniens, in der Stadt Shkodra. Ich leite zwei Projekte für Caritas Deutschland mit einheimischen Partnern und bin als Vertreterin der Spirituellen Weggemeinschaft, einer katholischen Ordensgemeinschaft aus der Schweiz, hier im Einsatz. Zur Zeit sind wir dabei, in Dobrac-Zooteknike, einem Vorort von Shkodra, ein spirituelles Zentrum aufzubauen, das zum großen Teil von Renovabis finanziert wird.
In Albanien leben und arbeiten bedeutet für mich Folgendes: „Ich bewege mich ständig zwischen und in Extremen“:
- Da ist eine uralte Kultur und Tradition, das „Gesetz der Berge, der Kanun“.
- Die Menschen hier leben entweder relikthaft (z. B. wenn es um das Thema Blutrache geht) nach diesem Gesetz – oder einzelne Clans sind noch völlig im Kanun „verhaftet“.
- Da ist die bis ca. 1990 fast 50 Jahre dauernde Diktatur und Gewaltherrschaft eines Enver Hodscha, mit allen Folgen der Unmündigkeit und der nicht verarbeiteten Vergangenheit (mit Verrat an Freunden, mit massivem Misstrauen, mit Kadavergehorsam und Heuchelei und mit einem ungeheuren Angst- und Aggressionspotenzial).
- Da ist die junge Demokratie, die noch beherrscht wird von postkommunistischen Einflüssen wie Korruption, wenig „Bewegung von unten“ und auch Interesselosigkeit vonseiten der Jugend für demokratisches Denken und dessen Strukturen.
- Da ist das Jahr 1997 mit dem Ausbruch eines aggressiven Bürgerkriegs und der Zerstörung von vielen Bauten, Fabriken, Strukturen sowie der Volksbewaffnung, die noch anhält (die meisten haben eine Waffe).
- Da ist der Kosovokrieg 1999/2000 mit einer großen Flüchtlingswelle, die Albanien auch heute noch nicht verkraftet hat. (A)
- Da ist der Einfluss des modernen Westens, dem Albanien bedenkenlos zu erliegen scheint, aber eigentlich vom Entwicklungsstand noch gar nicht verkraftet.
Als Vertreterin des „Traumlandes Deutschland“ versuche ich bei meinem Leben und Arbeiten hier die Reaktionen, Lebens- und Verhaltensweisen meiner albanischen Schwestern und Brüder aus der Sicht dieser Hintergründe zu verstehen und konstruktiv damit umzugehen. Letztlich kann ich mir immer wieder nur die „liebenden Augen Jesu“ dafür leihen.
Ich schreibe oft in Gedanken folgende Überschrift über die Probleme in Albanien und seine Menschen: „Ein vergessenes Volk, das seine Identität verloren und noch nicht wiedergefunden hat“. Kollektive Depression, Orientierungslosigkeit und Paranoia sind „Symptomkomplexe“, mit denen ich bei all meinen Ansätzen von spiritueller und psychosozialer Arbeit ständig konfrontiert bin.
Dobrac-Zooteknike, ein Ort der Inlandsflüchtlinge
In dieser Zone entsteht unser Kloster und spirituelles Zentrum. Ich bin bereits seit über einem Jahr dort im Einsatz. Dobrac-Zooteknike ist ein Stadtrandgebiet von Shkodra, direkt am Shkodrasee gelegen. Dobrac hat noch einen Kern von Ortsansässigen, sonst siedeln sich in dieser Gegend von Tag zu Tag mehr Inlandsflüchtlinge aus den Bergen an.
Meine Arbeit beschränkt sich hauptsächlich auf die Integration der Menschen aus den Bergen. Bei diesen Menschen, die im eigenen Land „Flüchtlinge“ sind, kumulieren sich die oben genannten Probleme auf enorme Art und Weise. Und die Problematik des „Verlustes von Heimat“ mit all ihren auch traumatischen Folgen kommt hinzu. Umso mehr bedürfen diese Menschen der Hilfe zur Selbsthilfe.
Folgende Situation finde ich in Dobrac-Zooteknike: Die Armut ist massiv und sichtbar mit all ihren bekannten Folgeerscheinungen. Ein Programm zur Armutsbekämpfung existiert noch nicht, wäre aber dringend erforderlich.
Fehlende Infrastraktur
Die Menschen aus den Bergen siedeln sich „schwarz“ an, bauen die Häuser ohne Baugenehmigung, somit sind sie auch nicht und nirgends mehr registriert. Sie sind im Prinzip ohne Identität. Die Stadt Shkodra hat keinerlei Kontrolle.
Manchmal haben die Menschen Angst, dass – wie in der letzten Zeit öfters passiert – einfach die Planierraupen kommen und die illegal gebauten Häuser zerstört werden. Die Straßenverhältnisse sind äußerst schlecht, die Wege sind mit unzähligen Schlaglöchern versehen und bei Regen teilweise nicht begeh- und nicht befahrbar.
Strom- und Wasserversorgung sind katastrophal, teilweise gibt es tagelang weder Strom noch Wasser. Die Menschen holen dann das Wasser aus dem Kanal und trinken es auch. Der sich anhäufende Müll am Seeufer und in den Wasserkanälen führt zu einer ökologischen Katastrophe für den Shkodrasee. Dies wird aber bis jetzt hartnäckig ignoriert.
Eine medizinische Versorgung gibt es im Prinzip dort nicht. Außerdem können die Menschen die Arztbesuche und die dann verordnete Medizin meistens überhaupt nicht bezahlen. (Dabei ist zu beachten: Die Arztbesuche sind zwar vom Gesetz her kostenlos, doch werden Patienten ohne Zuzahlung meist gar nicht behandelt.)
Die Arbeitslosigkeit ist immens hoch, vor allem die jungen Menschen die aus den Bergen kommen, lungern nur den ganzen Tag herum. Es wird von bis zu 90 % Arbeitslosigkeit gesprochen.
Die älteren Männer bebauen wenigstens manchmal noch ein Stück Land um das Haus oder weiden Tiere. Oft haben die „Bergler“ – wie sie hier genannt werden – ihre Weidetiere und alles Hab und Gut in den Bergen verkauft, um hier in Zooteknike ein Stück Land zu kaufen, jedoch ohne gültige Dokumente, die das Eigentum sichern würden. Das Haus kann dann oft nicht fertiggestellt werden, weil letztlich das Geld ausging.
Der Traum von Arbeit geht für die meisten nicht in Erfüllung. Eine staatliche soziale Sicherung gibt es nicht bzw. diese funktioniert nicht. Hier in Zooteknike sind viele der Migranten hoch verschuldet, teilweise droht dann der Gläubiger, wenn nicht bezahlt werden kann. Ich erlebe Familien, die Angst haben, dass ihre Töchter vom Gläubiger in die Prostitution entführt werden.
Familien, die aus Angst vor Blutrache geflüchtet sind, leben sowieso in noch extremerem Elend. Es ist nicht möglich, z. B. auf die Weide zu gehen, um noch Vieh zu hüten. Die Angst, dort erschossen zu werden, ist zu groß.
Das Bildungsniveau der Menschen aus den Bergen ist in der Regel sehr niedrig, viele haben keinen Schulabschluss der Primarschule. Die schlechte schulische Infrastruktur der letzten Jahre (Abwanderung der Lehrer, im Winter kein Zugang zu den Schulen) hat das Bildungsniveau weiter gesenkt. In Dobrac gibt es nur eine Primarschule.
Viele Kinder besuchen jedoch die Schule nur sporadisch oder überhaupt nicht. Nicht begehbare Wege im Winter, Isolation durch Blutrache, hohes Gewaltpotenzial in den Schulen oder einfach Nachlässigkeit der gestressten Eltern sind die Gründe dafür. Eine steigende Analphabetisierung ist die Folge.
Das Problem der Entwurzelung
In Dobrac-Zooteknike erlebe ich eine große Orientierungslosigkeit. Die Perspektivlosigkeit führt schnell nach dem Zuzug aus den Bergen zu einer Depression der gesamten Sippe. Viele haben sich relativ unkritisch in die Stadt begeben, mit der fatalistischen Hoffnung, dass dann alles besser werden wird, wenn man erst mal raus ist aus den Bergen. In den meisten Fällen bringt der Umzug mehr Probleme mit sich, als bewältigt werden können: Ein Zurück ist nicht mehr möglich, weil alles Hab und Gut verkauft wurde.
Ein Grundproblem ist die massive Entwurzelung mit dem Verlust der früheren Dorfstrukturen, der Strukturen des Kanuns und der bekannten Rituale. In Zooteknike und Dobrac gibt es noch keine Strukturen, und die Shkodraner grenzen sich massiv von den Bergleuten ab, die für ihre Begriffe kulturlos sind. Die meisten Sippen und Familien machen sich so ihre eigenen Gesetze, holen sich notfalls das, was sie brauchen, mit Gewalt.
Vor allem die jungen Leute haben sich Illusionen über ein Leben in Reichtum gemacht. Die Gefahr der Kriminalisierung ist äußerst hoch. Schnell bedient sich die Mafia dieser „Gestrandeten“. Fälle von Drogenhandel und Frauenhandel sind mir bekannt, die Tötung von anderen ist oft an der Tagesordnung.
Zivilgesellschaftliche Strukturen fehlen fast ganz, einige kleine Ansätze davon sind nach einem Jahr meiner Arbeit dort nun sichtbar.
Sehr viele Familien dort leben in Blutrache. Sie sind deswegen aus den Bergen geflohen. Die potenziellen Opferfamilien leben isoliert, auch oft die Kinder, die potenziellen Täter (nach dem Kanun „Blutnehmer“) leben oft nur einige Häuser weit entfernt. Leben als Wert an sich wird in der Regel eher gering geachtet; jedoch im Falle eines Deliktes oft mit Blut gerächt. Hier geht es jedoch um die Wiederherstellung der Ehre.
Zooteknike entwickelt sich mehr und mehr zu einem typischen Elendsviertel wie in den Drittweltländern.
Bemühungen zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen
Meine Versuche zum Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen bauen auf Wertevermittlung und Aufzeigen von positiveren Lebenskonzepten auf. Prinzipiell gilt für mein Handeln folgender Grundsatz: „Mit den Menschen ihre positiven Ressourcen entdecken und entwickeln“.
Ohne das Gefühl von „Heimat“ ist es schwer für die Menschen, aus der Depression einen Weg zu finden, Elend zu bewältigen. Deshalb ist ein wesentlicher Punkt unserer Arbeit, auch unseres zukünftigen geistlichen Zentrums, dass wir mit den Inlandsflüchtlingen ein „neues Konzept von Heimat entwickeln“ – nach dem Heimatkonzept von Paul Moor: „Heimat ist dort, wo man sich zu Hause fühlt.“ Diese Form von Integration, also das „Suchen und Finden von Heimat“, begleitet alle unsere Interventionen.
Integration bedeutet nicht die zwangsweise Anpassung an die städtische Struktur. Es bedeutet mit diesem Konzept, dass die Menschen durch den Aufbau von gemeinschaftlichen Strukturen und Aktivitäten aus ihrer Isolation kommen, das Gefühl von Fremdheit langsam durch wieder Vertrautwerden mit der neuen Lebenssituation verlieren bzw. Gefühl von Sicherheit in der neuen Umgebung gewinnen.
Dabei ist es wichtig für meine Arbeit, dass ich das frühere Leben der Menschen kennen lerne, ihre Rituale, ihre Traditionen kenne und achte und dass wir gemeinsam das „Alte“ in das jetzt Existierende versuchen zu integrieren oder auch Abschied nehmen von dem, was nicht mehr in der neuen Umgebung lebbar ist. Vor allem ist dies für die Kinder wichtig, die oft klaglos leiden unter dem Verlust von Freunden, vor allem auch dem Leben in einer geschützten Umgebung von Nachbarn, Großeltern, der gesamten Sippe.
Die Frauen leiden vielfach unter Existenzängsten. In den Bergen waren sie es zwar, die das Überleben sicherten durch die Arbeit auf den Feldern und Weiden. Jetzt ist die Existenzsicherung jedoch wesentlich schwieriger geworden. Oft sind es die Frauen, die in der Stadt Shkodra zum Betteln gehen, vor allem an die Türen der recht vielen Klosterpforten klopfen, aber da meistens auch abgewiesen werden. Jeder weiß, dass mit einer einmaligen Gabe das Problem der Armut bzw. der drohenden Verelendung nicht gelöst ist.
Wichtig sind die Gespräche mit den Frauen. Sie müssen ihre Gefühle der ständigen Erniedrigung äußern können, vor allem aber Ideen zur Existenzsicherung entwickeln.
Beispiel eines „Mikrobusiness“
Eine Gruppe von Frauen, die in Blutrache leben und gleichzeitig Inlandsflüchtlinge sind, haben ein so genanntes „saisonales Mikrobusiness“ mit mir begonnen. Wir haben einen Advents- und Weihnachtsmarkt veranstaltet und kürzlich den Ostermarkt vorbereitet. Dabei wurden Geschenkartikel, Weihnachts- und Osterschmuck angefertigt.
Der Markt war in jeder Hinsicht ein voller Erfolg:
- die Frauen hatten ein kleines Einkommen;
- alle haben geäußert, dass sie in dieser Zeit des Arbeitens und Werkens allen Stress und alle Probleme vergessen hätten;
- sie waren stolz auf die Produkte der eigenen Hände und auf das selbst erwirtschaftete kleine Einkommen.
- Daneben habe ich bei jedem „Training“ den Sinn von Symbolen auf „meditative Weise“ erlebbar gemacht.
- Die Gruppenarbeit hat ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und damit von „Heimat“ geschaffen.
So entsteht auf natürliche Weise ein Raum der Vertrautheit, wo die Frauen zu erzählen beginnen und ihre Probleme offenbaren, aber auch Kreativität entfalten und ihre eigene Kraft zum Leben wieder entdecken.
In Zooteknike haben fast alle Familien ein Stück Land um das eigene Haus herum. So plane ich sobald wie möglich mit den Familien den Anbau von Blumen, die in Shkodra sicher einen Absatzmarkt finden. Hier habe ich bereits ein Konzept entwickelt, das auch die Teilnahme an einem gewissen „Entwicklungsprozess“ (z. B. Teilnahme an Trainings zu Basic-Health), eine Spareinlage und ein gemeinsames Zusammenarbeiten regelt.
Die Menschen können durch diese Arbeit mit der Erde an ihre alten Erfahrungen anknüpfen und erleben dann „Sicherheit und Heimat durch Vertrautes“. Der Anbau von Blumen verschönert die trostlose, graue Umgebung und bringt den Menschen die Sorge für die in den Bergen sehr nahe Natur wieder näher. In diese Arbeit können auch die Männer eingebunden werden.
Dies sind einige meiner Interventionen zur Schaffung von „Heimat“ gegen das Gefühl der Heimatlosigkeit und Fremdheit.
Kampf gegen die Blutrache
Die Blutrache ist für mich nach meinen bisherigen Erfahrungen eine zerstörerische Kraft und ein zerstörerisches Gesetz des Kanun. Blutrache ist im Gesetz der Berge, dem Kanun, geregelt. Doch oft wird auch in Bezug auf die Ausführung der Blutrache nur noch ein „Relikt“ davon praktiziert, nämlich die wirklich tödliche, blutige Rache – ohne das mögliche Ritual der Versöhnung in Betracht zu ziehen und damit die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.
Blutrache ist und bleibt geplanter Mord, was den demokratischen Grundsätzen Albaniens auch widerspricht. Leider ist die Justiz zu schwach und zu sehr in Korruption verwickelt, als dass sie hier wirksam eingreifen könnte. Bereits Kinder leben isoliert (in Shkodra ca. 600 in schulpflichtigem Alter).
Isolation bedeutet: im Haus eingeschlossen zu sein, der Garten ist evtl. noch zugänglich, falls eine Mauer gebaut wurde. Die Kinder besuchen dann nicht mehr die Schule, verlieren jeglichen Kontakt zu Freunden und nach außen. Das einzige, das bleibt, ist die Sippe, die ebenfalls isoliert ist und unter großem Stress steht. Die Kinder sind sehr schnell traumatisiert und leiden unter Angstsymptomen, verlieren den Realitätsbezug.
Für eine kleine Anzahl von Kindern und Jugendlichen haben wir eine Gruppe aufgebaut. Diese Kinder bekommen vom Rächer für die Zeit der Gruppenstunde eine so genannte „Besa“, d. h. eine Freistellung vom Erschießen. Wir holen die Kinder mit dem Auto ab. Derzeit mache ich mit den Jugendlichen in Blutrache ein Peacemaking-Training.
Das Thema „Blutrache“ kommt immer wieder durch. Da ist beispielsweise Marrash. Er ist 13 Jahre alt. Nach dem Kanun dürfen die Jungen erst mit 16 Jahren Opfer von Blutrache, so genannte „Blutgeber“, sein. Aber dieses Gesetz gilt längst nicht mehr. Mädchen sind ebenfalls isoliert, weil die Eltern Angst haben, dass sie gekidnappt werden, um einen Erwachsenen freizupressen. Der Onkel von Marrash hat vor acht Jahren zwei Brüder einer anderen Sippe erschossen. Er selber ist dann nach Italien geflohen, aber die eigene Sippe büßt nun hier in Albanien – zwei Menschen für zwei Opfer. Die Familie von Marrash floh dann vor ca. drei Jahren aus den Bergen, weil die Angst vor dem Rächer sie in die Anonymität des Stadtrandes getrieben hat.
Der Bruder von Marrash, Zef, wurde voriges Jahr am 27. April auf offener Straße von zwei jungen Frauen (deren Vater vom Onkel von Marrash getötet wurde) erschossen. Ich habe mit Zef gearbeitet. Er ist an diesem Nachmittag zum ersten Mal wieder ins Freie gegangen. Er hat die Gefangenschaft wohl einfach nicht mehr ertragen. Marrash sah seinen toten Bruder direkt nach der Tat, danach ist er wirklich total durchgeknallt. Ich habe Marrash begleitet, aber Marrash weiß, dass auch er noch potenzielles Opfer ist.
Gleichzeitig ist er aber nach dem Kanun auch „ausersehen“, seinen Bruder zu rächen. Marrash möchte dies auf keinen Fall tun. Wie groß der Druck der eigenen Sippe diesbezüglich auf Marrash ist, weiß ich noch nicht so genau. Ich habe Kontakt mit den Männern und Frauen der beiden verfeindeten Sippen. Wir konnten für ein halbes Jahr eine gegenseitige „Besa“ aushandeln. Während dieser Zeit ist Marrash wieder aufgelebt, jedoch ist er nun wieder isoliert, weil die „Besa“ abgelaufen ist. Meine jetzigen Versöhnungsversuche sind gescheitert. Jede Partei redet sich immer wieder raus: Da ist noch ein Onkel, der angeblich nicht der Versöhnung zustimmt, dann ist es die Frau, die nicht zustimmt. Dann spreche ich mit der Frau und die sagt mir natürlich, dass sie nach dem Kanun nichts zu sagen hat, sondern alles die Männer entscheiden. Ich mache dann aber unmissverständlich deutlich, dass ich weiß, welch großen Einfluss die Frauen diesbezüglich auf die Männer haben.
Die Frau bzw. Mutter des Getöteten hält in der Regel den Hass aufrecht. Jeden Mittag wird vor dem Essen von ihr die Frage gestellt: „Ist schon gerächt?“ Oft wird das blutige Gewand des Getöteten so lange an einem zentralen Ort aufgehängt, bis gerächt ist, weil die Menschen oft noch glauben, dass die Seele erst frei ist, wenn gerächt wurde.
Ich denke, die Menschen sind von einem Gesetz geknechtet, mit einer scheinbar heiligen Pflicht zu rächen. Umso mehr versuche ich auch, die christlichen Werte und Haltungen, letztlich die Beziehung zu einem liebenden Gott, in den Mittelpunkt zu stellen. Die meisten Menschen, die in Blutrache leben, sind Katholiken (in den Bergen leben fast nur Katholiken).
Zurück zu Marrash: Draußen vor seinem Haus blüht ein junges Pfirsichbäumchen, das sich Zef noch gewünscht hat. Die Familie ist enorm arm, die Mutter verdient etwas durch Putzen, aber es reicht hinten und vorne nicht. Das Haus ist innen nicht verputzt, im Winter ist es eisig und nass, im Sommer kriecht das Ungeziefer durch den Beton. Jetzt hat die Familie dunkle graue Steine auf „Pump“ gekauft, um endlich eine Mauer zu bauen. Marrash durfte nicht mehr zur Gruppenstunde kommen, nachdem die „Besa“ abgelaufen war. Ich konnte nun vor zwei Wochen endlich aushandeln, dass er wieder kommen darf, wenn ich ihn persönlich mit dem Auto abhole. Nun wartet Marrash auf nichts anderes, als auf jeden Donnerstag um 14.30 Uhr. Er macht sich dann schön und wartet meistens schon eine Stunde vorher, wie mir seine Mutter erzählt hat. Er hat zu mir Vertrauen gefunden und spricht manchmal über seinen Frust, auch darüber, dass er seinen Vater nicht verstehen kann, weil er nicht mehr für die Versöhnung tut. Diese Momente sind aber kurz, dann sagt er sofort: „Mein Vater schützt mich ja, er baut jetzt die Mauer.“
Wir hoffen nun, dass der Versöhnungsprozess erneut in Gang kommt. Pal (Marrashs Vater) hat mir versprochen, noch vor Ostern seine Sippe zusammenzurufen. Ich werde ebenfalls teilnehmen. Ein katholischer Priester hat ebenfalls seinen Vermittlungsdienst zugesagt. Der Franziskaner ist Albaner und weiß auch, wie tief in den Menschen ihr Gesetz der Berge verhaftet ist. Die Kirche macht einige Versuche, es gibt aber bislang kein gängiges Konzept, die Blutrache wirksam zu bekämpfen.
Anfänge von Sozialarbeit
In Dobrac-Zooteknike bin ich in der Sozialarbeit noch allein. Der verantwortliche Priester hat ein sehr großes Gebiet dort zu betreuen, die Schwestern der Mutter Teresa unterstützen ihn dabei mit Katechismusunterricht in einigen Gruppen. Dringend brauchen wir Konzepte zur Gewaltprävention als sicherstes Mittel gegen die Blutrache. Doch das Gewaltpotenzial ist enorm hoch. Die meisten Familien sind bewaffnet, Kinder beherrschen die Kalaschnikow besser als das Alphabet. In fremder Umgebung, wie in Zooteknike, fühlen sich die Menschen aus den Bergen dann noch gefährdeter als sonst, somit ist „Verteidigung mit der Waffe“ immer wie ein Schatten da.
Ich erlebe, dass jemand mit der Kalaschnikow hinter der Türe steht, wenn ich ein Haus betrete. Erst wenn sich die Menschen dann wirklich sicher sind, dass ich keine böse Absicht habe und letztlich auch unbewaffnet bin, räumen sie die Kalaschnikow meistens verstohlen unter das Bett. Dies ist keine böse Absicht oder der Wille, jemanden zu erschießen. Ich werte dies als Symptom der extremen Angst und des Gefühls von Ungeschütztheit. Die neue Umgebung ist fremd, die Menschen sind fremd, aus verschiedenen Bergregionen, auch öfters aus sogar verfeindeten Clans.
Ich habe mit dem Aufbau von Kindergruppen begonnen, jedoch sind der Platzmangel und meine bisherige zeitliche Begrenzung immer wieder ein Hindernis beim Aufbau von weiteren Gruppen. Ein Peacemaking-Training für Jugendliche findet großen Anklang. In diesen Gruppen werden Themen wie „Werte des Lebens“, „eigene Identität“, „Konfliktbewältigung ohne Gewalt“, „Blutrache“ oder „Menschenrechte“ in altersadäquater Weise behandelt. Ich muss immer darauf achten, dass auch Kinder teilnehmen, die nicht lesen und schreiben können.
Für mich wird immer wieder deutlich, wie ganz wenig Allgemeinwissen die Kinder und Jugendlichen haben, in welch „engen“ Strukturen sie leben und welches Gewaltpotenzial sie mit sich tragen. Etliche Kinder sind infolge von Blutrache traumatisiert, im wahrsten Sinne des Wortes haben sie in ihrem bisherigen Leben schon zu viele Leichen gesehen.
Hausbesuche sind sehr wichtig. In Albanien spricht man „draußen“ nicht über familiäre Dinge. Vertrauen aufbauen braucht langen Atem. Die Albaner sagen selbst von sich, dass sie zwei Gesichter haben: eines für drinnen und eines für draußen.
Zeichen der Hoffnung
Aber es gibt daneben auch wirklich ermutigende Zeichen in Zooteknike. Da ist z. B. die Familie von Pjeter (Name zum Schutz geändert). Pjeter lebt seit 14 Jahren in Blutrache. Er hat eine wunderbare Frau, Ilira. Ilira ist die zweite Frau, die erste Frau von Pjeter ist gestorben und hat zwei Kinder hinterlassen. Miteinander haben sie nun drei Kinder. Pjeter und Ilira haben Jesus kennen gelernt und einfach den Weg des unerschütterlichen Glaubens beschritten.
Pjeter hat sich entschieden, die Isolation durch drohende Blutrache zu durchbrechen, weil er sich in den Händen Gottes weiß. Und er sagt: „Besser dann ich als mein Sohn“. Er hat in Zooteknike großen Einfluss.
Pjeter und Ilira haben ihr Haus für die Kindergruppe geöffnet. Und sie haben im vorigen Jahr Meggi in Pflege genommen. Meggi ist ein behindertes Kind von 2 ½ Jahren. Sie hat eine Chromosomenschädigung mit starker geistiger Behinderung, einem Herzfehler und einer Gaumenspalte. Die leibliche Mutter kam im letzten Jahr zu mir und legte mir Meggi in die Arme mit den Worten: „Ich erwarte das dritte Kind, ich kann sie nicht mehr versorgen. Ich muss sie sonst auf die Straße legen, wenn du sie nicht nimmst.“ So ist Meggi nun in der Familie von Pjeter.
Meggi wiegt höchstens 12 Pfund und kann weder sitzen noch sich artikulieren. Aber sie hat Lachen gelernt und sie fühlt sich wohl. Sie wird sehr geliebt – von uns allen. Die Aufnahme der behinderten Meggi hat in Zooteknike totales Erstaunen ausgelöst. Solche Zeichen der christlichen Nächstenliebe und Solidarität gab es dort noch nie.
Außerdem kümmern sich Pjeter und Ilira, soweit es ihnen möglich ist, auch um Valbona. Valbona ist 21 Jahre. Sie hatte als Kind eine Meningitis und ist seitdem bei den Tieren aufgewachsen. Pjeter hat sie auf allen Vieren in einer Schafherde entdeckt und mich dann gerufen. Wir konnten Valbona das Gehen und das Essen mit einem Löffel beibringen. Regelmäßig kam sie zur Familie von Pjeter. Meine Intervention bei der Familie von Valbona hat wenigstens bewirkt, dass toleriert wird, wenn Pjeter und seine Familie sich etwas um Valbona kümmern. Valbona ist gerne gekommen.
Leider ist sie im letzten Monat zur Schafherde zurückgekehrt. Wir wissen fast sicher, dass sie von Angehörigen ihrer Sippe regelmäßig vergewaltigt wird. In der Herde fühlt sie sich geschützter. Die Schwestern der Mutter Teresa waren bereit, Valbona in ihr Heim aufzunehmen, aber die Sippe hat dies nicht erlaubt. Eine Justiz, die hier eingreifen könnte, gibt es schlichtweg nicht. Im Moment kann ich nur versuchen, den jetzigen Kontakt mit Valbona zu halten, und ihr regelmäßig das Essen bei Pjeter zu ermöglichen. Alles, was wir an Kleidung und vernünftigen Schuhen an Valbona gegeben haben, wurde ihr von der Familie umgehend abgenommen.
Für die Bevölkerung im Norden Albaniens sind behinderte Menschen suspekt, teilweise ist die Vorstellung von Besessenheit noch beherrschend. Behinderte sind „unheimlich“, gefährlich und eine Schande für die Sippe.
Dies sind einige Beispiele aus meiner direkten Arbeit mit den Menschen. Im Herbst werden wir als Spirituelle Weggemeinschaft unser Zentrum in Dobrac-Zooteknike beziehen und beleben. Ich denke, es ist notwendig, direkt mit und unter den Menschen zu leben.
Letztlich ist die spirituelle Armut der Menschen der Grund für viel Elend – und ein Angebot im geistlichen Bereich ist dringend erforderlich. Ich erlebe immer wieder einen großen Durst der Menschen nach Gott (von Christen und Muslimen), nach einer Beziehung zum lebendigen Gott, der das Leben will und nicht den Tod.
Wenn Beziehung aufgebaut werden kann, wenn Beziehung zu Gott mit den Menschen gelebt werden kann, ist Heimat für die jetzt Heimatlosen wieder eine Wirklichkeit. Das ist meine Hoffnung.