OWEP 3/2003
Schwerpunkt:
Migration
Editorial
„Migration“ heißt der Schwerpunkt dieser Ausgabe unserer Zeitschrift. Mit diesem Begriff wird das Phänomen bezeichnet, dass Menschen ihre angestammten Wohnstätten verlassen und sich an anderen Orten niederlassen. In den seltensten Fällen geschieht das freiwillig, meistens werden die Menschen vertrieben oder sie sehen sich durch widrige Umstände gezwungen, das Glück für sich und ihre Familien woanders zu suchen.
Migration ist keine neue Erscheinung. Seitdem es das Bemühen gibt, die Bewohner von Territorien durch einheitliche religiöse oder nationale Zugehörigkeit zu homogenisieren, werden Menschen zur Umsiedlung gezwungen. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg sind ebenso wenig neu wie die „ethnischen Säuberungen“ auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien in den Kriegen der neunziger Jahre. Auch die „Gastarbeiter“ oder sogar der moderne Tourismus sind zu diesem Phänomen zu zählen.
Die Beiträge in dieser Nummer zeigen, dass Migration eng mit dem Begriff „Heimat“ verbunden ist. Auch wenn die Lebensumstände im neuen Kontext besser sein mögen, so gibt es doch immer eine besondere Beziehung eines jeden Menschen zu dem Ort, den er als Heimat empfindet. Neben Beiträgen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Problematik beschäftigen, sind daher in dieses Heft einige „Erfahrungen“ von Heimat aufgenommen. Sie zeigen trotz ihrer unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Verankerung, dass sich durch die vermeintlich freiwillige oder auch gewaltsame Umsiedelung von Menschen weder wirtschaftliche noch andere Probleme lösen lassen. Doch dessen ungeachtet ist Migration eine Wirklichkeit, der sich nicht nur die Politik, sondern auch die Kirchen stellen müssen. Auch davon lesen Sie in diesem Heft.
Die Redaktion
Kurzinfo
Seit Beginn der Menschheitsgeschichte gehen Menschen auf Wanderschaft. Die Motive dafür sind unterschiedlichster Art, etwa Hunger, Krieg und Seuchen, aber genauso auch wirtschaftliche und persönliche Gründe. Nicht immer können freiwillige und erzwungene Wanderschaft bzw. – so der Fachbegriff – „Migration“ scharf voneinander getrennt werden: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von Millionen von Menschen ziehen sich wie ein roter Faden durch das 20. Jahrhundert und werden, wenn sich die weltpolitische Lage nicht grundlegend ändert, auch im 21. Jahrhundert ein globales Phänomen bleiben. Bereits im letzten Heft „Roma in Mittel- und Osteuropa“ wurden Menschen vorgestellt, die seit Generationen immer wieder auf der Flucht sind. Das vorliegende Heft knüpft daran an und spannt den Bogen noch weiter.
Wenn Menschen aufbrechen, verlassen sie ihre Heimat und machen sich auf die Suche nach einer neuen. Der schillernde, in seiner eigentlichen Wortgestalt nur im Deutschen vorhandene Begriff „Heimat“ bietet, wenn man entsprechende literarische Zeugnisse in den Ländern Mittel- und Osteuropas untersucht, einen guten Ansatzpunkt, über den Umgang des Menschen mit seinem Vaterland, dessen Geschichte und Tradition nachzudenken. Prof. Dr. Alfred Sproede, Ordinarius für Slavistik und Baltistik an der Universität Münster, verdeutlicht dies an Beispielen aus Polen, Litauen und der Ukraine. Von ganz anderer Warte nähert sich der Völkerrechtler Prof. Dr. Wolfgang Seiffert, Hamburg, dem Phänomen „Verlust der Heimat“. Sein Beitrag gilt der völkerrechtlichen Bewertung von Vertreibung, im Mittelpunkt steht das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen.
Mit Polen kommt ein Land in den Blick, dessen Menschen wie in kaum einem anderen europäischen Land im 20. Jahrhundert Flucht, Vertreibung und Umsiedlung erlebt haben. So verwundert es nicht, dass in einem Staatsgebilde, das mehr als ein Jahrhundert von der europäischen Landkarte verschwunden war und später gewaltsam nach Westen verschoben worden ist, diese Themen bis heute immer wieder Diskussionsstoff im privaten wie öffentlichen Leben bilden. Die Journalistin Agnieszka Sabor, Krakau, geht diesen Fragen in ihrem Essay „Polen: Migration zwischen Realität und Mythos“ nach. Ergänzend dazu enthält das Heft vier persönlich gehaltene Skizzen, die gebündelt die Erinnerung an die Heimat und an deren Verlust in je eigener Form widerspiegeln. Autoren sind der jüdische Emigrant Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Riehen/Basel, die polnische Journalistin Józefa Hennelowa, Krakau, der orthodoxe Erzbischof Jeremiasz von Breslau und Stettin, und Dr. Joachim Wanke, Bischof von Erfurt.
Hilfe für Menschen auf der Flucht, Sorge für das Leben und Überleben in der neuen Umgebung, Abwehr von Misstrauen und Vorurteilen seitens der angestammten Bevölkerung: Der Pastoral bietet sich im Anschluss an die Worte des Evangeliums, wonach der Unterdrückte und in Not Befindliche der besonderen Fürsorge bedarf (vgl. Mt 25,35-40), ein großes, kaum zu überblickendes Arbeitsgebiet. Pater Hans Vöcking, Sekretär der Kommission Migration der CCEE, stellt unter dem Titel „Migration und Pastoral“ wesentliche Aspekte zusammen. Wie Hilfe für Migranten und Flüchtlinge in der Praxis aussieht, geht aus den anschaulichen Erfahrungsberichten von Schwester Maria Christa Färber über ihre Arbeit mit Inlandsflüchtlingen in Nordalbanien und von Gabriele Feyler und Elena Poslantschik über die Tätigkeit der Caritas in Moskau hervor.
Zu den in Europa bis heute von Flüchtlingselend betroffenen Regionen zählen die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, besonders Bosnien-Herzegowina. Das Themenheft enthält Auszüge eines Dokumentes, worin katholische und orthodoxe Bischöfe sich zur Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen äußern. Ein Interview mit dem langjährigen Präsidenten des deutschen Caritasverbandes Prälat Dr. Georg Hüssler, Freiburg, führt den Leserinnen und Lesern noch einmal die weltweite Dimension der „Migration“ und der damit verbundenen Probleme vor Augen. Außerhalb der Schwerpunktthematik, jedoch höchst aktuell sind die Ausführungen des polnischen Journalisten Marcin Lipnicki, Stettin, über die Haltung der katholische Kirche Polens zum EU-Beitritt.
Dr. Christof Dahm