Theologische Hintergründe im Konflikt zwischen Moskau und Rom*
*Es handelt sich um den deutschen Erstabdruck. In italienischer Sprache ist der Beitrag erschienen in: La civiltà 153 (2002), S. 531-541, in russischer Sprache in: Sibirskaja katolitscheskaja Gaseta, Nr. 5/2002, S. 16-21.
Die Errichtung einer Kirchenprovinz mit vier Diözesen im Bereich der Russischen Föderation durch den Heiligen Stuhl wurde in einer Erklärung des Patriarchen der Russisch-orthodoxen Kirche, Alexij II., und der Heiligen Synode der Russisch-orthodoxen Kirche als unfreundlicher Akt bezeichnet, welcher die Aussichten auf bessere Beziehungen zwischen beiden Kirchen untergräbt. Das russisch-orthodoxe Patriarchat hat daraufhin die offiziellen Beziehungen zum Heiligen Stuhl – hoffentlich vorübergehend – suspendiert und den bereits vereinbarten Besuch einer Delegation abgesagt.
Ein grundsätzliches Problem wurde offensichtlich
Aus der Sicht der katholischen Kirche handelte es sich bei der Errichtung der vier Diözesen nicht um einen außerordentlichen Vorgang, schon gar nicht um eine Herausforderung oder um einen feindseligen Akt gegenüber der Russisch-orthodoxen Kirche, sondern um einen Akt der Normalisierung, d.h. des Übergangs von der vorläufigen Struktur Apostolischer Administraturen zu der Normalstruktur, in welcher die katholische Kirche überall in der Welt, wo sie in dauerhafter Form präsent ist, strukturiert ist. Die Russisch-orthodoxe Kirche dagegen hat diesen Vorgang als einen Akt bezeichnet, der auf Aggression, Ausdehnung, Missionierung, kurzum auf das hinausläuft, was in ihrer Terminologie Proselytismus heißt.
Auf die schwerwiegenden historischen wie kanonistischen Fehlurteile und Missverständnisse, welche sich in der russisch-orthodoxen Argumentation finden, haben Erzbischof Kondrusiewicz und Vatikansprecher Navarro-Valls inzwischen hingewiesen. Auf sie soll hier nicht nochmals eingegangen werden. Im Folgenden sollen die grundsätzlichen Probleme und Positionen behandelt werden, die sich hinter dem Vorwurf des Proselytismus verbergen.
Bei einer Analyse der vom russisch-orthodoxen Patriarchat vorgebrachten Argumente fällt auf, dass sie ganz und gar nicht neu sind. Sie finden sich seit der politischen Wende von 1989/90, als die griechisch-katholische Kirche in der Westukraine wieder ins öffentliche Leben zurückkehrte, sowie 1991 und 1999, als die bisherigen Apostolischen Administraturen in Russland errichtet wurden. Sie fanden sich wieder anlässlich des Besuchs von Papst Johannes Paul II. in der Ukraine im Juni 2001.
Die Tatsache, dass jetzt genau dieselben Argumente, welche in den letzten Jahren und Monaten fast gebetsmühlenartig oft und oft zu hören waren, nochmals wiederholt werden, zeigt, dass durch die Errichtung der vier Diözesen keine grundsätzlich neue Situation entstanden sein kann, welche einen so weitgehenden Schritt wie die Suspension der Beziehungen begründet. Vielmehr ist jetzt ein schon länger schwärendes grundsätzliches Problem zu Tage getreten. Deshalb geht es um weit mehr als um die Frage des diplomatischen Geschicks, die Errichtung der vier Diözesen früher oder später, vor oder nach dem Besuch einer Delegation des Heiligen Stuhls in Moskau vorzunehmen. Die Reaktion und die Argumente wären dieselben gewesen. Der Eklat, zu dem es jetzt kam, hat ein grundsätzliches Problem offengelegt, das grundsätzlich geklärt werden muss.
Die Klärungen sind, obwohl kritisch, von einem ökumenischen Anliegen geleitet, freilich von einem Ökumenismus nicht der unverbindlichen Freundlichkeiten, sondern der Wahrheit und der Ehrlichkeit.
Das Prinzip des kanonischen Territoriums
Ein Argument, das von russisch-orthodoxer Seite immer wieder vorgebracht wird, ist der Verweis auf ihr „kanonisches Territorium“. Bereits dieser Begriff legt einen wesentlichen Unterschied offen. Denn die katholische Kirche kennt den Begriff des kanonischen Territoriums nicht. Zwar ist auch sie – von Personalstrukturen wie Orden, Personalprälatur, Militärseelsorge u.a. abgesehen – territorial gegliedert. In ihrem Binnenbereich gilt die altkirchliche Regel, dass ein Bischof sich nicht in Belange außerhalb des Bereichs seiner Diözese einmischen darf. Doch die katholische Kirche als solche versteht sich als universale Kirche mit einem universalen Auftrag entsprechend dem Wort des auferstandenen Herrn: „Geht hinaus zu allen Völkern“ (Mt 28,19). Von einer Aufteilung der Welt in kanonische Territorien ist hier nicht die Rede.
Auch die orthodoxe Kirche bezeichnet sich als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Die Russisch-orthodoxe Kirche hat auf ihrer Synode in Moskau vom 13.-16.08.2000 in dem Dokument „Grundlegende Prinzipien für die Einstellung der Russisch-orthodoxen Kirche zu den anderen christlichen Konfessionen“ den universalen, alle Grenzen der Rasse, der Sprachen und der sozialen Unterschiede übersteigenden Charakter der Kirche ausdrücklich betont (Nr. 1.4).
Entscheidend ist freilich, dass dieses Dokument sofort hinzufügt, dass die universale Kirche in der Welt in verschiedenen Ortskirchen existiert (Nr. 1.7). Dies ist nicht nur in dem Sinn gemeint, den diese Aussage im Rahmen der katholischen Ekklesiologie hat. Denn auch die katholische Kirche existiert „in und aus Ortskirchen“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, 23). Doch im Bereich der Orthodoxie hat diese Aussage einen weiterreichenden Sinn. In dem auf derselben Synode von 2000 verabschiedeten Grundlagenpapier zur Soziallehre der Russisch-orthodoxen Kirche wird der Begriff „Ortskirche“ im Sinn von „autokephalen nationalen Kirchen“ präzisiert (Nr. II.2). Diese autokephalen Nationalkirchen haben jeweils ihr national umschriebenes Territorium, das freilich besonders im Zusammenhang politischer Umbrüche oft umstritten ist.
Die Verwurzelung in der jeweiligen Nation und ihrer Kultur hat ihre Stärken, aber sie ist – wie auch orthodoxe Theologen sagen – zugleich die große Schwäche der Orthodoxie und Grund für vielfältige Spannungen zwischen den orthodoxen Kirchen. Trotz aller Spannungen und gelegentlich harter Töne stehen die autokephalen orthodoxen Kirchen unter sich geistlich in Kommuniongemeinschaft. Deshalb braucht und darf eine autokephale Kirche auf dem Gebiet einer andern nicht tätig werden und dort keine eigene Hierarchie errichten. Jede autokephale Kirche hat vielmehr die territoriale Integrität der anderen zu achten. In diesem Sinn findet unter den orthodoxen Kirchen das altkirchliche Prinzip Anwendung, wonach in einer Stadt nur ein Bischof sein soll.
Das Prinzip des kanonischen Territoriums hat demnach seine Gültigkeit zwischen orthodoxen Kirchen, welche unter sich in voller Kommuniongemeinschaft stehen. Es wird aber von den orthodoxen Kirchen selbst nicht auf ihr Verhältnis zu nicht-orthodoxen Kirchen angewandt, mit denen keine Kommuniongemeinschaft besteht.
Das gilt nicht nur für das Verhältnis zur katholischen Kirche, sondern auch im Verhältnis zu den altorientalischen Kirchen. So gibt es in Jerusalem und in Konstantinopel nicht nur einen griechisch-orthodoxen, sondern auch einen armenischen Patriarchen (außerdem einen lateinischen Patriarchen bzw. einen katholischen Bischof), im Bereich des Patriarchats Alexandrien neben dem griechisch-orthodoxen Patriarchen den koptischen Papst-Patriarchen und einen armenischen Erzbischof (außerdem den katholisch-koptischen Patriarchen), im Bereich von Antiochien neben dem griechisch-orthodoxen Patriarchat das syrisch-orthodoxe Patriarchat (außerdem das melkitische und das maronitische Patriarchat). Im Bereich der Diaspora der orthodoxen und altorientalischen Kirchen gehen die Jurisdiktionen vollends unkoordiniert nebeneinander her. Es ist den orthodoxen Kirchen bisher nicht gelungen, diese Frage, welche seit langem auf der Tagesordnung des geplanten panorthodoxen Konzils steht, einer Klärung zuzuführen.
Auch die Russisch-orthodoxe Kirche hat nicht gezögert, im lateinischen Westen, der zweifellos nicht zu ihrem kanonischen Territorium gehört, nicht nur eine Art kirchlicher Administraturen einzurichten, sondern auch kanonisch vollgültige Diözesen (Eparchien). So gibt es etwa einen russisch-orthodoxen Erzbischof von Berlin und Deutschland, einen Bischof von Wien und Budapest, einen Bischof von Brüssel und Belgien.
In Russland selbst existierte schon längst vor der Revolution von 1917 die katholische Diözese von Mohilew; sie wurde nicht etwa von Rom aufgezwungen, sondern 1773 von Kaiserin Katharina II. ohne vorhergehende Konsultation mit Rom errichtet und 1782 zur Metropolie für ganz Russland gemacht. Später kamen die Diözese Tiraspol und die Diözese Wladiwostok sowie ein Apostolisches Vikariat für Sibirien hinzu.
Heute kann man nicht mehr einfach auf diese vorrevolutionären Strukturen zurückgreifen. Die seelsorgerlichen Notwendigkeiten haben sich seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 und seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem aufgrund der von Stalin befohlenen gewaltsamen Deportationen dramatisch verändert. Es leben heute in allen Teilen Russlands katholische Christen, die russische Staatsbürger sind. Sie haben ein Recht auf pastorale Betreuung, und sie können darin gegenüber den orthodoxen Christen nicht benachteiligt werden. Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der katholischen Kirche, den neuen pastoralen Notwendigkeiten durch „normale“ kirchliche Strukturen im Bereich der heutigen Russischen Föderation Rechnung zu tragen.
Um die Empfindlichkeiten der russisch-orthodoxen Seite nach Möglichkeit zu berücksichtigen, ist der Heilige Stuhl bei der Ausübung dieses Rechts wie seiner Pflicht bei der jüngsten Erhebung der Apostolischen Administraturen zu Diözesen sehr taktvoll vorgegangen. Er hat bewusst keine Erzdiözese von Moskau parallel zum Patriarchat von Moskau errichtet oder gar mit der Absicht dieses zu verdrängen, wie man in Moskau fehlinterpretiert hat; er hat vielmehr die „Erzdiözese der Mutter Gottes in Moskau“ errichtet. Der Name der Erzdiözese ist also nicht auf die Stadt Moskau, sondern auf den Namen der Kathedrale bezogen (entsprechend Diözesen in Saratow, in Nowosibirsk, in Irkutsk). Damit ist dem altkirchlichen Prinzip „eine Stadt – ein Bischof“, soweit dies in der Situation der Spaltung möglich ist, Rechnung getragen.
Die leider notwendige Existenz von kanonischen Parallelstrukturen ist also im Bereich der Orthodoxie, auch der Russisch-orthodoxen Kirche, ganz und gar nichts Unbekanntes und nichts Neues, sondern eine seit Jahrhunderten von allen Kirchen geübte Praxis. Eine Lösung dieses Problems wäre nur ökumenisch, d.h. durch die Wiederherstellung voller Kirchengemeinschaft möglich. Man kann deshalb nicht so genannte Parallelstrukturen beklagen, die wegen der Kirchenspaltung leider notwendig sind, und gleichzeitig den ökumenischen Dialog verweigern.
Was heißt Proselytismus?
Das richtig verstandene Prinzip der kanonischen Territoriums kann der Grund der harschen Reaktion Moskaus nicht sein. Der Grund ist vielmehr dessen Umdeutung im nationalkirchlichen Sinn. Um dies richtig zu verstehen, muss man sehen, dass das genannte Grundlagenpapier zur Soziallehre eine doppelte Bedeutung von „Nation“ kennt: Nation als ethnische Gemeinschaft und als Gesamtheit der Bürger eines bestimmten Staates (Nr. II.1). Da die Russisch-orthodoxe Kirche heute die Unterscheidung (nicht Trennung) von Staat und Kirche kennt (Nr. III.3) und ihre Freiheit gegenüber dem Staat betont (Nr. III.5), meint die nationalkirchliche Umdeutung des „kanonischen Territoriums“ nicht ein Staatskirchentum alter Art, sondern die Identifikation mit den Bürgern eines Staates und darüber hinaus mit dem ethnischen Bereich russisch-orthodox geprägter Kultur, der – wie etwa im Fall der Ukraine – über das Staatsgebiet der gegenwärtigen Russischen Föderation hinausreicht.
Nach diesem Verständnis gehören nicht nur alle russischen Staatsbürger, sondern alle dem russischen Kulturraum Angehörigen entweder der Russisch-orthodoxen Kirchen an oder sie sind ihr zuzuordnen – wie die vielen Ungläubigen oder Nichtpraktizierenden, die es im heutigen Russland nach der über 70 Jahre dauernden atheistischen kommunistischen Zwangsherrschaft, Propaganda und Erziehung in großer Zahl gibt. Der Übertritt eines Russen zur katholischen Kirche gilt darum als Verrat.
Es gibt in der gegenwärtigen Russisch-orthodoxen Kirche deutliche Anzeichen einer Wiederaufnahme slawophiler Traditionen, die sich etwa in Bezugnahmen auf Dostojewskij im Unterschied zu dem ökumenischen Pionier Wladimir Solowjew ausdrückt. Diese sich patriotisch gebenden Tendenzen verbinden sich oft mit einem nationalen russischen Chauvinismus, der in Kreisen der gegenwärtigen russischen Gesellschaft verbreitet ist und der sich gegen alles Westliche und gegen alles Römisch-katholische abschotten will. So konnte Patriarch Alexij II. bei der Eröffnung des 6. russischen Weltkonzils am 13.12.2001 sagen: „Die russische Orthodoxie ist zutiefst national.“ Diese Aussage war auf dieser Konferenz mit starker, teilweise unflätiger antiwestlicher Polemik hoher hierarchischer Teilnehmer verbunden, welche letztlich auch den von der Synode 2000 formulierten Prinzipien widerspricht (vgl. Nr. II.4).
Dieses Verständnis des kanonischen Territoriums engt den pastoralen Spielraum der katholischen Kirche – wie auch der anderen Kirchen und Kirchengemeinschaften – erheblich ein. Für die Russisch-orthodoxe Kirche ist die katholische Kirche in Russland kein Partner, keine Schwesterkirche; sie wird vielmehr in eng gezogenen Grenzen nur geduldet. Sie darf sich nach russisch-orthodoxem Verständnis pastoral nur um die von ihrer Tradition her katholischen Gläubigen kümmern. Das ist eine Position, die – von theologischen Gründen ganz abgesehen – den heutigen Realitäten nicht mehr entspricht. Denn die katholischen Christen in Russland sind heute, obwohl ethnisch meist nicht russischer Herkunft, gleichwohl von der russischen Kultur geprägt und sprechen die russische Sprache. Deshalb ist die katholische Kirche im heutigen Russland nicht mehr – wie die Moskauer Reaktion glauben machen möchte – eine Ausländerkirche; ihre Glieder sind laut der Verfassung der Russischen Föderation gleichberechtigte russische Staatsbürger. Die Privilegierung der Russisch-orthodoxen Kirche durch das Religionsgesetz von 1997 und die Diskriminierung der katholischen Kirche wie der anderen Kirchen und Kirchengemeinschaften ist darum historisch ein Anachronismus und verfassungsrechtlich ein Problem.
Erst vor diesem Hintergrund kann der Proselytismusvorwurf richtig verstanden werden. Bei diesem Vorwurf geht es nicht nur darum, dass „Mitgliederwerbung“ mit Methoden, die dem Evangelium und der menschlichen Freiheit nicht angemessen sind (finanzielle Zuwendungen oder andere Vorteile), selbstverständlich untersagt ist. Es geht auch nicht nur darum, dass die katholische Kirche nicht in dem Sinn proselytenmacherisch wirken darf, dass sie orthodoxe Christen „abwirbt“ und zu sich herüberzieht, oder wie man sagt: Schafe von der orthodoxen Herde stiehlt. Als Proselytismus gilt auch jede evangelisierende Tätigkeit, welche sich direkt oder indirekt an die vielen Nichtgläubigen des heutigen Russland wendet, ja sogar jede Form pastoraler Präsenz, welche auf Nichtgläubige attraktiv wirkt oder auch nur wirken könnte.
Die orthodoxe Kirche spürt ihre eigene pastorale und evangelisatorische Schwäche und hat deshalb Angst vor der zahlenmäßig zwar geringen, aber pastoral wesentlich effektiveren katholischen Präsenz. Sie verteidigt ihren traditionellen Kulturraum und will verhindern, dass aus der von ihr als Ausländerkirche betrachteten katholischen Kirche ein zahlenmäßig sowie kulturell und religiös maßgeblicher Faktor wird.
Das Proselytismusproblem ist nicht nur in Russland zu einem die ökumenischen Beziehungen belastenden Problem geworden. Es stellt sich für die katholische Kirche heute etwa in Lateinamerika angesichts des Auftretens neuer Sekten mit aggressiver missionarischer Praxis. Eine Reihe von ökumenischen Dokumenten haben sich mit diesem Problem beschäftigt. Dabei haben sich Übereinstimmungen und auch Übereinkünfte ergeben, welche auch für die Lösung der Probleme in Russland hilfreich sein könnten.
Im Unterschied zu den Sekten besteht zwischen allen so genannten historischen Kirchen Einigkeit in der Ablehnung des im ursprünglichen Sinn verstandenen Proselytismus; man ist sich also einig, dass man nicht mit unlauteren Mitteln für das Evangelium werben darf. Weitgehende Einigkeit besteht inzwischen auch darin, dass zwischen den Kirchen grundsätzlich keine „Abwerbung“ stattfinden soll. Da die katholische Kirche die orthodoxen Kirchen als wahre Kirchen und ihre Sakramente als wahre Sakramente und damit als Heilsmittel für ihre Gläubigen anerkennt, ist eine auf orthodoxe Gläubige bezogene missionarische Tätigkeit fehl am Platz. Dies wurde bereits von Metropolit Andrej Szeptycki (1865-1944), der heute als das große Vorbild der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine gilt, anerkannt.
Es gibt zwar einzelne Übereifrige; doch die gibt es auch in der orthodoxen Kirche wie in allen anderen Kirchen. Um deren Praxis nach Möglichkeit abstellen zu können, haben die katholischen Bischöfe die Russisch-orthodoxe Kirche mehrfach gebeten, konkrete, nach deren Meinung missbräuchliche Fälle zu nennen, damit sie nicht über allgemein gehaltene Vorwürfe sondern über konkrete Fakten sprechen können. Darauf haben sie nie eine Antwort erhalten. Dabei ließe sich in Gesprächen das meiste ohne weiteres klären. Auf diese Weise konnte das Problem etwa im Bereich des antiochenischen Patriarchats durch zweiseitige Absprachen weitgehend entschärft werden.
Auch in der Frage der Bewahrung der von der orthodoxen Tradition geprägten kulturellen Identität Russlands ließen sich mit gutem Willen Lösungen finden. Es kann ja nicht die „Politik“ und die „Strategie“ der katholischen Kirche sein, die gegenwärtige Schwäche der orthodoxen Kirchen auszunützen und aus Russland ein katholisches Land zu machen. Selbst wenn wir das wollten, wären wir dazu nicht in der Lage. Doch es ist gar nicht unsere Absicht. Im Gegenteil, wir wollen der orthodoxen Kirche helfen, ihre missionarische und pastorale Verantwortung besser und effektiver auszuüben.
Dies geschieht schon seit vielen Jahren und bis heute mit erheblichen finanziellen Beiträgen durch unsere kirchlichen Hilfswerke („Kirche in Not“, „Renovabis“ u.a.), durch zahlreiche Diözesen und katholische Institutionen wie durch die Förderung theologischer Ausbildungsstätten der Russisch-orthodoxen Kirche und durch Stipendien zur Förderung von orthodoxen Priestern, welche von ihrem Bischof zum Weiterstudium in den Westen geschickt werden. Solche Hilfe und Zusammenarbeit könnten ausgeweitet werden. Doch solange die russisch-orthodoxe Seite das Gespräch ablehnt, ist weder die Lösung von Einzelfällen noch die von ihr selbst gewünschte Zusammenarbeit möglich.
Durch den Gesprächsabbruch schadet die Russisch-orthodoxe Kirche sich selbst und ihren wohlverstandenen eigenen Interessen am meisten. Vor allem gibt sie dadurch nicht den besonnenen, sondern den eifernden und übereifrigen Kräften Auftrieb; sie fördert dadurch genau das, was sie so sehr fürchtet und bekämpft.
Es bleibt freilich ein grundsätzliches Problem: Die Konversionen einzelner. Dabei handelt es sich – was selten der Fall ist – um einzelne orthodoxe Christen oder – was häufiger der Fall ist – um einzelne Nichtgläubige, welche sich vom katholischen Glauben und Leben angezogen fühlen und sich nach gewissenhafter Überlegung, aus freien Stücken und aus Gewissensgründen der katholischen Kirche anschließen wollen. Solche Einzelkonversionen sind nicht das Ziel der ökumenischen Bewegung, die auf die volle Gemeinschaft zwischen den Kirchen selbst ausgerichtet ist; sie stehen aber auch nicht im Gegensatz zum ökumenischen Anliegen (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“, 4). Denn keine Kirche kann die Möglichkeit von Einzelkonversionen ausschließen und Menschen, die sich ihr aus ehrlicher Überzeugung anschließen wollen, abweisen. Dies würde der universalen Sendung der Kirche widersprechen. Auch die orthodoxen Diözesen im Westen verhalten sich nicht anders und nehmen ganz selbstverständlich Konvertiten auf.
Sofern die Russisch-orthodoxe Kirche den Proselytismusvorwurf auch auf die relativ wenigen, aber grundsätzlichen Fälle von Einzelkonversionen ausdehnt, misst sie nicht nur mit zweierlei Maß, sie macht auch den Versuch, die katholische Kirche in Russland einer Wesensdimension ihres Kircheseins zu berauben. Dies ist theologisch inakzeptabel. Das Zweite Vatikanische Konzil hat formuliert: „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Missionsdekret „Ad gentes“, 2). Papst Paul VI. hat darauf aufbauend die Evangelisierung als die tiefste Identität der Kirche bezeichnet (Apostolisches Schreiben „Evangelii nuntiandi“ (1975, Abschnitt 14). Papst Johannes Paul II. hat diese missionarische Aufgabe in seiner Missionsenzyklika „Redemptoris missio“ (1990) erneut mit Nachdruck herausgestellt.
Vielerorts hat man inzwischen zwischenkirchliche Absprachen getroffen, wie bei Einzelkonversionen in gegenseitigem Einvernehmen praktisch zu verfahren ist. Das sollte auch in Russland möglich sein. Aber die katholische Kirche kann nicht zulassen, dass ihr im Namen eines missbräuchlich ausgeweiteten Proselytismusbegriffs die missionarische Dimension ihres Kircheseins aberkannt wird. Die Identifizierung der Russisch-orthodoxen Kirche mit einer ethnisch bestimmten Kultur, die hinter einer solchen Ausweitung des Proselytismusvorwurfs steht, führt letztlich in eine ekklesiologische Häresie. Sie hätte eine Säkularisierung der Kirche zur Folge, welche nur in einer tiefen geistlichen Krise der Russisch-orthodoxen Kirche enden könnte.
Die Religionsfreiheit als Grundproblem
Die Konvertitenfrage wirft die grundsätzliche Frage der Religionsfreiheit auf. Gemeint ist das grundlegende Menschenrecht, zu keiner Religion und zu keinem religiösen Akt gezwungen zu werden, sondern seine Religion frei wählen und auch öffentlich ausüben zu können. Der Konflikt zwischen Moskau und Rom ist letztlich ein Ausdruck der russisch-orthodoxen Kritik an den Menschenrechten und insbesondere an dem Menschenrecht der Gewissens- und der Religionsfreiheit.
Auch die katholische Kirche hat sich lange schwer getan, bis sie sich zur Anerkennung der Religionsfreiheit durchringen konnte. Die Überzeugung, dass der Glaube seinem Wesen nach ein freier Akt ist, wurde zwar bereits von den Kirchenvätern betont und von den Märtyrern der ersten Jahrhunderte mit ihrem Blut bezeugt. Doch die Freiheit der Religionsausübung war nach der konstantinischen Wende und nach der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius (325) eingeschränkt. Es gab höchstens Toleranz, aber keine Religionsfreiheit. Vor allem mit dem in der neuzeitlichen Aufklärung aufkommenden liberalen Verständnis der Religionsfreiheit konnte sich die katholische Kirche nicht anfreunden. Sie vertrat, dass allein die Wahrheit ein Recht auf Existenz hat, nicht jedoch der Irrtum, und sie verwarf so die liberale Idee der Gewissens- und der Religionsfreiheit.
Erst das Zweite Vatikanische Konzil brachte nach langen und dramatischen Debatten mit der Erklärung „Dignitatis humanae“ einen Durchbruch. Der damalige Erzbischof von Krakau, Kardinal Karol Wojtyła, hielt in der Konzilsaula eine bedeutende Rede, in der er herausstellte, dass Wahrheit und Freiheit gegenseitig aufeinander bezogen sind. Denn die Wahrheit kann nur in Freiheit erkannt und anerkannt werden, umgekehrt findet die Freiheit ihre Erfüllung nicht in inhaltsloser Beliebigkeit, sondern in der Orientierung an der Wahrheit.
Auf dieser Linie der gegenseitigen Bezogenheit von Wahrheit und Freiheit fand die katholische Kirche auf dem Konzil ihren Weg, auf dem sie sich von der konstantinischen Ära verabschieden konnte, ohne dem modernen liberalen Freiheitsverständnis zu verfallen. Sie fand ihre Position zwar in der freiheitlichen pluralistischen modernen Welt, aber nicht in Anpassung, sondern in konstruktiver Auseinandersetzung mit ihr und mit ihrem individualistischen Freiheitsverständnis.
Die Russisch-orthodoxe Kirche ist nach der langen Zeit kommunistischer Unterdrückung erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt mit der modernen pluralistischen Welt konfrontiert. So ist sie verständlicherweise noch auf der Suche nach ihrem Ort. Das erfordert von unserer Seite Geduld. Denn bisher schließt sie sich ab und verurteilt die Religionsfreiheit als Ausdruck westlichen liberalen Individualismus‘. Für sie hat die soziale und kulturelle Einbindung auch in Fragen der Religionsausübung den Vorrang vor der persönlichen Freiheit.
Damit wird der tiefere theologische Hintergrund der Auseinandersetzung um das Prinzip des kanonischen Territoriums und des Proselytismus deutlich. Die Argumentation der Russisch-orthodoxen Kirche hat im Grunde ideologischen Charakter; sie verteidigt nicht nur eine inzwischen nicht mehr gegebene russische Wirklichkeit sondern auch ein theologisch problematisches Kirche-Volk- bzw. Kirche-Kultur-Verhältnis, das darauf zielt, die Vormachtstellung der Russisch-orthodoxen Kirche auf Kosten nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch der persönlichen Freiheit des Einzelnen abzusichern.
Solange die Russisch-orthodoxe Kirche an dieser ideologischen Position fest hält, kann sie mit der modernen Gesellschaft ebenso wenig in einen konstruktiven Dialog eintreten wie mit der katholischen Kirche. Ihre Position ist zwar in sich konsequent, aber nicht zukunftsfähig. Sie täte deshalb gut daran, statt den Dialog mit der katholischen Kirche abzubrechen, ihn aufzunehmen, um aus der Sackgasse, in der sie sich befindet, herauszufinden und in der heutigen Welt, besonders im einswerdenden Europa, kritisch-konstruktiv den ihr zukommenden Platz einzunehmen. Die katholische Kirche ist zu einem solchen Dialog und zur Zusammenarbeit bereit.