Die Kirche in Tschechien – Gestärkt aus der Verfolgung?
Die Kirchen in Mittel-Osteuropa haben, wenigstens in der Endphase der kommunistischen Totalität, an ihrem Sturz aktiv gearbeitet. Im Ausstieg aus der Zeit der Unterdrückung schienen also ihre Chancen in der neu aufzubauenden Gesellschaft so gut wie nie zuvor zu stehen und viele, auch Nichtchristen, erwarteten, dass die Kirchen zu wichtigen Kräften des gesellschaftlichen Wiederaufbaus würden. Im historischen Gedächtnis Europas bleibt die Verfolgung der Christen eng mit dem nachfolgenden Aufschwung des kirchlichen Lebens verbunden und viele erwarteten etwas Ähnliches auch nach der Wende. Es ist aber anders gekommen. Die Gründe dafür sind sowohl außerhalb als auch – meiner Meinung nach – größtenteils innerhalb der Kirchen selbst zu suchen.
Zunächst darf man nicht vergessen, dass es in der Tschechoslowakei während der ganzen kommunistischen Periode praktisch keine kirchlichen Strukturen innerhalb der größten, der katholischen Kirche, gegeben hat. Viele suchende Menschen, besonders unter den jungen Intellektuellen, „entdeckten“ damals den Glauben im Kontakt mit einzelnen tapferen, im wahren Sinne des Wortes charismatischen Christen. Nach der Wende gingen diese frisch getauften Christen durch eine schmerzhafte Ernüchterungskur: anstatt mit dem geliebten Meister hatten sie es jetzt mit der Obrigkeit, mit einer bürokratischen Verifikationsmaschine und mit vielen, viel zu vielen Papierregeln zu tun. „Der Geist erstickt darin“, schrieen manche von ihnen verzweifelt laut in die Leere hinein, ohne überhaupt in „diesen Verein“ richtig eingestiegen zu sein. Andere von diesen Tapferen von damals suchen noch jetzt mühsam ihren Platz in der neu organisierten Kirche.
Dann war da die ganze Geschichte mit dem von den Kommunisten beschlagnahmten Kircheneigentum. Bis zur Wende tauchte dieser Ausdruck in den ganzen illegalen christlichen Dokumenten gar nicht auf, vom Anspruch auf Restitutionen war hier nicht der leiseste Hauch zu spüren. Nach der Wende hatte man plötzlich den Eindruck, die Restitutionen seien zum wichtigsten Thema aller kirchlichen und auch theologischen Debatten geworden. Es ist nun egal, bis wohin dieser Streit die katholische Kirche führen wird. Sicher ist, dass diese kirchlichen Forderungen zu sehr die alten austrokatholischen Verhältnisse und Geister ins Gedächtnis und außerhalb der Kirche einen ebenso archaischen, ahistorischen Hass auf die Bühne rufen. „Die wollen ja schließlich immer noch das Gleiche, nämlich Macht und Gut...“
Ein Letztes muss in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden: der fast totale Zerfall des Ordenslebens in einem Lande, in dem es 40 Jahre lang keine funktionierenden Ordensgemeinschaften geben durfte. Man sieht erst jetzt, wie verhängnisvoll diese Unterbrechung der Kontinuität war. Die kleinen, schwächeren Gemeinschaften werden dies wahrscheinlich gar nicht überleben, ähnlich wie eine alte, schwere Maschine keinen länger andauernden Stillstand überlebt. Auch die großen Gemeinschaften suchen, allerdings sehr mühsam, ihren Weg zum Gründungscharisma für die heutige Situation. Sie bleiben vorläufig vielfach noch im vorkonziliaren Kirchen- und Ordensleben verhaftet – dem einzigen, das wenigstens einige von ihnen kurz nach 1945 noch erlebt hatten.
Im Augenblick der Erneuerung der kirchlichen Führungsschichten, nach der Wende, war die Auswahl natürlich sehr beschränkt. Die üblichen Auswahlmechanismen waren unbrauchbar und es ist alles ziemlich schnell gegangen. Zehn Jahre danach darf man eine erste Bilanz ziehen und sagen, dass es den so eingesetzten Frauen und Männern kaum gelungen ist, die anstehenden Probleme richtig anzupacken und neue Wege einzuschlagen oder wenigstens anzuzeigen. Die seltsamen und oft sehr hinderlichen Gewohnheiten der Untergrundkämpfer in der Kirche erhielten dadurch indirekt den Stempel des normal Zulässigen und werden künftig jedem Korrekturversuch um so hartnäckiger Widerstand leisten.
Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, in einer Atmosphäre des geistigen Autismus zu leben: es wird viel und sehr herzlich gelacht in unserer Kirche, es werden keine großen Dummheiten gemacht, man gehorcht besser und williger und ist wahrscheinlich auch frommer als in den Kirchen Westeuropas. Andererseits: man studiert weniger und macht sich weniger Sorgen um die Zukunft und ihre Vorbereitung. Ähnlich wie auch die zivile Gesellschaft neigt unsere Kirche eher zur Mitfahrt als zur Bewegung aus eigenen Kräften.
Ein sehr wichtiges Positivum immerhin: Der Unterschied in der Einstellung zur Kirche zwischen den vorkommunistischen und den heutigen Intellektuellen ist frappierend. Die Ersteren waren entschieden antiklerikal bis antikirchlich, sie waren es, die den Weg ins Land der Bolschewiken im Voraus ebneten. Das Volk, das zunächst noch stark durch den Austrokatholizismus geprägt war, kam nur zögernd nach und es brauchte das Münchner Abkommen, die Befreiung durch die Rote Armee und die folgenden 40 Jahre kommunistischer Propaganda, um wirklich aufzuholen.
Die heutigen tschechischen Intellektuellen sind sicherlich zum großen Teil von der Postmoderne beeinflusst und kümmern sich wenig um die Kirchen. Wahrscheinlich ist aber doch auch eine Spur vom schlechten (historischen) Gewissen dabei, wenn sich heute fast niemand unter ihnen als nicht glaubend bezeichnen lassen will. Alle behaupten wenigstens an etwas (= neco, auf tschechisch) zu glauben und Professor Halik, der Leiter der Christlichen Akademie in Prag, bezeichnet sie daher als Necisten. Sie erheben ihre Stimme leichter zur Verteidigung der Kirche als gegen sie und sind sichtlich über den weitgehenden Verlust der ethischen Orientierungspunkte in der tschechischen Gesellschaft bestürzt.
Ob es sich hier um eine geistige Wende handelt, ist vorläufig noch schwer zu sagen und es wird nicht zuletzt von der künftigen Handlungsweise der Kirchen abhängen. Solange sie vor allem um sich selbst und um ihre eigenen Probleme kreist, interessiert sie niemanden außerhalb des immer enger werdenden Kreises der Eingeweihten.