Russland auf der Suche nach einer postsowjetischen und postkommunistischen Identität

aus OWEP 3/2000  •  von Jutta Scherrer

Jutta Scherrer, Professorin für russische Kultur- und Sozialgeschichte an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris.

Geschichte wird in allen Ländern und von allen politischen Kulturen zur Legitimation von Herrschaft genutzt. Ihre Vereinnahmung durch die Politik ist kein Spezifikum totalitärer oder ehemals sozialistischer Staaten. Die mehr als siebzigjährige kommunistische Herrschaft in der vormaligen Sowjetunion hat dort jedoch ganz zweifellos eine Instrumentalisierung der Geschichte bisher unbekannten Ausmaßes gezeitigt und damit einen besonders schwerwiegenden Einschnitt in das historische Bewusstsein der russischen Gesellschaft verursacht. Aus dieser Situation herauszugelangen, erfordert einen langen Prozess der Bewusstwerdung und Aufarbeitung der Vergangenheit. Es wäre utopisch anzunehmen, dass sich der Übergang aus dem ideologischen Zwang sowjetischer Mythen in eine reine "mythenfreie" Zeit gleichsam über Nacht vollzöge. Neue Mythen entstehen, die sich bisweilen nahezu automatisch aus der Ablehnung der alten Mythen ergeben, ja diese oft nur umkehren. Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat von der "Erfindung von Traditionen" ("invention of traditions") gesprochen und diesen Prozess als Folge eines schnellen sozialen Wandels erklärt, der "die gesellschaftlichen Muster, für die die 'alten' Traditionen geschaffen wurden, schwächt oder zerstört". Hobsbawm wies in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Praktiken symbolischer oder ritueller Natur hin, die eine Kontinuität mit einer "brauchbaren" geschichtlichen Vergangenheit herzustellen versuchen.1

Die Perestrojka hat mit ihrer Politik der Glasnost das politische und historische Bewusstsein der russischen Gesellschaft (und keineswegs nur ihrer Eliten und der Intelligenzija) wahrhaft erschüttert. Die zweite Hälfte der achtziger Jahre ist durch einen Boom von Enthüllungen über die Vergangenheit charakterisiert. Gorbatschow selbst hatte gefordert, die "weißen Flecken" der Geschichte zu füllen: das geschah über die Verbrechen der Stalinzeit und des kommunistischen Unrechtsregimes ganz allgemein bis zur Absage an den Leninkult und die Oktoberrevolution. Dadurch, dass die Oktoberrevolution als Staatsstreich abgewertet wurde, verlor auch der Sowjetstaat seine Legitimation, und damit wurde auch die sowjetische Periode der Geschichte Russlands in Frage gestellt.

Nach der Auflösung des Sowjetimperiums Ende 1991 und dem Ende der Herrschaft der kommunistischen Partei galt es, eine neue Identität zu schaffen, die gleichsam das ideologisches Vakuum füllte, das offiziell die marxistisch-leninistische Weltanschauung eingenommen hatte. Die Suche der russischen Gesellschaft nach einer postsowjetischen, postkommunistischen Identität liegt den öffentlichen Diskursen der politischen Eliten zugrunde, sie prägt das Selbstverständnis der verschiedenen politischen Parteien und ihrer Führer. Es handelt sich um einen längst nicht abgeschlossenen Prozess, der steten Wandlungen unterliegt, jedoch zumindest eine Konstante aufzuweisen hat: die neue Identität wird häufig in den Wertvorstellungen des vorrevolutionären Russland gesucht. Symbolisch kommt das auch darin zum Ausdruck, dass Jelzin die kommunistische Staatsflagge mit Hammer und Sichel durch die Trikolore auswechseln ließ, die einst Peter der Große aus Holland mitgebracht hatte, und dass der doppelköpfige Adler der Romanows zum neuen Staatsemblem wurde. Im Folgenden sollen einige Phänomene dieses ideologischen Paradigmenwechsels erörtert werden, der im letzten Jahrzehnt in Russland stattfand.

„Westler“ und „Russophile“

Die seit der Perestrojka und insbesondere in den ersten Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion verbreitete Hoffnung, in der Russischen Föderation in absehbarer Zeit eine Zivilgesellschaft, einen Rechtsstaat und eine Marktwirtschaft nach dem Vorbild des liberalen und demokratischen Westens zu verwirklichen, erwies sich schnell als Trugschluss. Die "Reformer", "Liberalen" und "Demokraten", die diese Politik vertraten, verstanden sich bewusst als Westler in Abgrenzung zu den "Traditionalisten" oder "Russophilen". Der Terminus Westler (russisch sapadniki) hatte in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts eine Gruppe der Intelligenzija bezeichnet, die im Unterschied zu den Slawophilen das Reformwerk Peters des Großen bejahte und für Russland einen dem Westen ähnlichen Weg der Modernisierung forderte: "Europäisierung" galt als identisch mit Modernisierung. Die "Westler" des 19. Jahrhunderts waren jedoch keine programmatisch oder organisatorisch einheitliche Bewegung. Sie bestanden in ihrer Mehrheit aus politisch Gemäßigten, die die Leibeigenschaft kritisierten und eine reformerische Veränderung der Autokratie auf der Grundlage bürgerlicher Freiheiten forderten (wie die Historiker T. N. Granowski und K. D. Kawelin). Ein anderer, radikalerer Flügel war am Linkshegelianismus und den Ideen der französischen Sozialisten orientiert; seine Vertreter (hierunter A. I. Herzen, M. A. Bakunin wie auch zahlreiche Literaturkritiker) übten scharfe Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen des Staatswesens unter Nikolaj I. Die spätere revolutionäre Opposition ging aus dieser Gruppe der Westler hervor. Auch die russischen Marxisten reihten sich in die Denktraditionen der Westler ein: Russlands Rückständigkeit sollte durch eine Orientierung an der Industrialisierung und am Kapitalismus des Westen aufgeholt werden - um damit die Voraussetzung der sozialistischen Revolution zu schaffen.

Im Unterschied zu den Westlern lasteten ihre intellektuellen Gegenspieler, die Slawophilen oder besser Russophilen, der von Peter dem Großen begonnenen Europäisierung Russlands den Bruch mit den bodenständigen Werten der altrussischen Gesellschaft und vor allem die Kluft zwischen Gebildeten und Volk an. Zu den altrussischen bzw. altslawischen Werten gesellschaftlicher Organisation gehörten die kollektiv organisierte Bauerngemeinde (russisch mir, obschtschina) und die genossenschaftliche Gewerbeorganisation des Artel, auf deren Grundlage die Slawophilen die sozialen Beziehungen reformieren wollten. Die Hauptdenker der Slawophilen (wie A. S. Chomjakow, I. W. Kirejewski, K. S. Axakow) lehnten ein System parlamentarischer Repräsentation ab und befürworteten dafür ein "organisches" Staatsgebilde im Rahmen der Autokratie, das von den Prinzipien christlicher Ethik und Gemeinschaftlichkeit (sobornost) geprägt würde. Im Unterschied zu den Westlern wiesen sie der Orthodoxie eine entscheidende Rolle zu; die spezifisch russische Frömmigkeit und Geistigkeit wurde von ihnen dem Rationalismus des Westens gegenübergestellt. Uneinheitlich blieben die Vorstellungen der Slawophilen jedoch über andere slawische Nationen und ihre Rolle in Bezug auf die historische Mission des orthodoxen Russland. Elemente der slawophilen Ideologie gingen später in den Panslawismus, den großrussischen Nationalismus und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Neoslawismus ein; doch sind diese Bewegungen nicht miteinander identisch und haben mit den geistigen Vätern der Slawophilie nur wenig gemein.

Schon im 19. Jahrhundert waren die Bezeichnungen Westler und Slawophile insofern problematisch, als sie keine einheitlichen, in sich geschlossenen Bewegungen darstellten. Außerdem haben beide Richtungen die Bedeutung der russischen Dorfgemeinde sowie die "Liebe zum Volk" für ihre Ziele in Anspruch genommen. Insofern beide Richtungen Leibeigenschaft und Bürokratie kritisierten und die Pressefreiheit forderten, fanden sie sich beide in Opposition zum Staat. Es mutet etwas anachronistisch an, wenn diese alten Bezeichnungen, die sich schon damals nicht eindeutig festlegen ließen, heute wieder aufgegriffen werden. Doch im Rückgriff auf die Traditionen der russischen Geschichte, der im heutigen Russland zahlreiche Gruppen der Gesellschaft auszeichnet, spielt zweifellos auch die Nostalgie nach Geschichte und die Vorstellung der Kontinuität mit dem vorrevolutionären Russland mit. Die Suche nach einer Sinn- und Identitätsstiftung mobilisiert die historische Erinnerung. Der Philosoph Igor Tschubajs forderte sogar, dass zu dem Wertesystem des neuen Russland das "Pathos der Geschichte" gehören müsse.

Die Bezeichnung Slawophile oder Neoslawophile für im heutigen Russland vertretene traditionsorientierte Denkströmungen ist nicht nur weniger gebräuchlich, sondern auch weniger eindeutig als die Anwendung des Terminus Westler. Als Slawophile, Russophile oder auch Neoslawophile werden vor allem einige Schriftsteller (wie Walentin Rasputin, Wiktor Astafjev, Wassili Below) und Denker (wie Gulyga) eingeschätzt, die die alte russische Zivilisation, das Bauerntum und die von der Orthodoxie geprägte Spiritualität idealisieren und dem verderblichen Einfluss der westlichen, d. h. amerikanischen Zivilisation entgegenhalten. Alexander Solschenizyn, der den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise in der Aufrechterhaltung der traditionellen sittlichen Werte des russischen Volks sieht und auf eine freie Semstvo-Selbstverwaltung zurückgreifen will, gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten der Russophilie. Solschenizyn führt die Katastrophe von 1917 - für ihn den Triumph der Westler - allein auf die "russischen Europäer" zurück, die die "Dämonen" hervorbrachten. Solschenizyn hat allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf die national-patriotischen Kreise im heutigen Russland, weil seine Neuordnung der traditionellen russischen Werte nur die Länder des orthodoxen Glaubens (Russland, Ukraine, Belarus und der nördliche Teil von Kasachstan) einbezieht und die zentralasiatischen, nordkaukasischen und baltischen Republiken für das neue Russland abschreibt.

Ganz zweifellos sind jedoch Elemente des slawophilen Denkens in den an Nation und Vaterland orientierten politischen Diskurs der letzten Jahre eingegangen. Hierzu gehört vor allem die Berufung auf die Eigenständigkeit (samobytnost) Russlands, seinen von Europa unabhängigen Weg und die nationale Wiedergeburt. Anfänglich waren es vorwiegend national-patriotische Gruppierungen und die Liberaldemokratische Partei Schirinowskis, die sich auf russische Werte und die "russische Idee" beriefen. Doch heute, nachdem die prowestliche Euphorie vorbei ist und das westliche liberale Wirtschaftsmodell für den Niedergang der russischen Wirtschaft verantwortlich gemacht wird, gewinnt auch in demokratischen Kreisen die Russischkeit (russkost) die Oberhand gegenüber dem westlichen, insbesondere dem amerikanischen Einfluss. Die neuen "Westler" nehmen Wertvorstellungen für sich in Anspruch, die eher mit der nationalen Eigenart Russlands als mit seiner Integration in eine sich global verstehende Welt zu tun haben.

Vor allem aber hat die Kommunistische Partei der Russischen Föderation ihrem einstigen proletarischen Internationalismus abgeschworen und an seine Stelle den staatlichen Patriotismus gesetzt. Nicht nur, dass sich ihr Führer Gennadi Sjuganow auf die Kontinuität des autokratischen und des sowjetischen Imperiums beruft. In seinen zahlreichen national-patriotischen Schriften, die vor allem der Erhaltung der Staatsmacht und des Großmachtbewusstseins gelten, stellt Sjuganow die Spiritualität der Orthodoxie und die Machtstaatlichkeit (derschawnost) des vorrevolutionären und sowjetischen Russland die beiden Hauptpfeiler der russischen Seinsart (russkost) dar.2 Für die Wiederherstellung von Russlands staatlicher, etatistischer Tradition ruft Sjuganow die siegreichen russischen Kriegszüge gegen den deutschen Ritterorden und die Mongolen, gegen Napoleon und Hitler in die Erinnerung zurück. In unmittelbarer Anlehnung an die berühmte Triade Uwarows "Autokratie, Orthodoxie, volksverbundener Patriotismus" ("samoderschawije, prawoslawnost, narodnost") hat Sjuganow eine äquivalente Formel - "Staatlichkeit, Geistigkeit, Gemeinschaftlichkeit" ("gosudarstwennost, duchownost, sobornost") - für einen neuen starken Staat und einen neuen Sozialismus geprägt. Uwarow, Minister für Volksaufklärung unter Nikolaj I., der für die erste offizielle Ideologie des imperialen Nationalismus verantwortlich war, wurde seinerzeit von Westlern und Slawophilen gleichermaßen abgelehnt. Im heutigen Russland bezieht sich auch die Kirche wiederum nachdrücklich auf Uwarow, wenn Patriarch Alexi II., wie in einer in der Duma am 11. Mai 1994 gehaltenen Ansprache, "orthodox" mit "russisch" gleichsetzt.

Die ungebrochene Kontinuität der russischen Staatsmacht lag auch einem Wettbewerb zugrunde, den Jelzin 1996 zum Thema "Eine Idee für Russland" (ideja dlja Rossii: "Wohin gehen wir?" "Wer sind wir?") ausschreiben ließ. Als Begründung führte Jelzin an: In der russischen Geschichte habe es verschiedene Perioden gegeben: "Monarchie, Kommunismus (Totalitarismus), Perestrojka. Jede Etappe hatte ihre Ideologie. Nur heute haben wir keine Ideologie."3 Es ging Jelzin um die Staatsidee für das postsowjetische Russland und, wie er ausdrücklich festhielt, um "die Wiedergeburt Russlands" und seine nationale Identität, die die Kontinuität mit der vorrevolutionären Geschichte beschließen sollte.

Der Gewinner, der Historiker Guri Sudakov, legte die neue nationale Idee in "Sechs Prinzipien der Russischkeit" fest. Sie handeln von der "russischen Natur" und stellen den spezifisch russischen Sinn für Gemeinschaft (sobornost) dem westlichen Individualismus gegenüber, die Seele der Orthodoxie dem westlichen Materialismus.

Die „russische Idee“ als Synonym für die nationale Identität

Zahlreiche Historiker, Philosophen, Politiker und Kulturologen sehen seit dem Zerfall des sowjetischen Herrschaftssystems in der "russischen Idee" (russkaja ideja) ein Synonym für das zu erlangende "nationale Bewusstsein" und die nationale Identität. Sie nehmen an, dass die gesellschaftliche Krise durch eine Art von Sinnstiftung, für die die "russische Idee" steht, überkommen werden kann. Hierfür werden konservative Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts bemüht, die wie N. Ja. Danilewski (1822-1885) und K. N. Leontjew (1831-1892) eine organische, zyklische Vorstellung von Geschichte konzipierten und Spengler vorausnehmend in ihrer Lehre von kultur-historischen Typen die These von der Unübertragbarkeit fremder Kulturen vertraten. Diese These wurde im 19. Jahrhundert ganz besonders gegen die von der westlerischen Linken vertretenen liberal-demokratischen und sozialistischen Doktrinen des Westens mobilisiert. Die eher philosophische Fragestellung der ersten Generation der Slawophilen nach dem "Wir" und dem "Ihr", nach Russland und Europa wurde von den innen- und außenpolitisch sehr konservativen Denkern Danilewski und Leontjew als Dichotomie des "Eigenen" und des "Fremden" politisiert und ideologisiert, was vom heutigen russischen nationalistischen Diskurs wieder aufgenommen wird. Besonders wird Danilewskis 1869 herausgegebenes Buch "Russland und Europa" beachtet, das mit der Propagierung des russischen Messianismus (Moskau ist das wahre Zentrum des Christentums) die ideologisch-politische Polemik gegen Westeuropa noch zugespitzt hat. Gemeinsam mit den konservativen Geschichtstheorien wird heute auch auf die christliche Philosophie eines Wladimir Solowjew und Nikolaj Berdjajew zurückgegriffen, deren messianisches Verständnis der "russischen Idee" jedoch in keiner Weise mit dem der großrussischen und machtorientierten konservativen Geschichtsphilosophen gleichzusetzen ist.

Die verschiedenen Vorstellungen der "russischen Idee", die aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert stammen, sind in die Kulturologie (kulturologija) eingegangen, die Mitte der neunziger Jahre als Pflichtfach an die Stelle der früher obligatorischen marxistisch-leninistisch orientierten Staatsbürgerkunde getreten ist. Es handelt sich bei der Kulturologie um einen Paradigmenwechsel vom ökonomischen Determinismus zu einem zivilisatorischen Erklärungsmodell der Geschichte, das gleichzeitig die Funktion eines Identitätsmodells hat. Die Kulturologie macht besonders deutlich, dass die Suche nach Erinnerung und "historischem Gedächtnis" eine Kompensation der nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums bewusst gewordenen Sinnes-Leere mit Hilfe von Mythenbildung ist.4 Die Kulturologie bezieht ebenfalls die Geopolitik ein, die die Vorstellung von der kulturellen Eigenart Russlands (samobytnost) unterstreicht. So sollen die spezifischen Gegebenheiten der geopolitischen Situation Russlands dessen "eigene Philosophie, eigene Religion, eigene Psychologie" und den "besonderen Typus der russischen Geistigkeit (duchovnost)" erklären.5

Die "russische Idee" dient aber nicht nur zur Untermauerung der kulturellen Identität, sie wird bewusst auch als Antwort auf "den Westen" eingesetzt.6 Nationalisten und Kommunisten, heute aber auch "Westler" sind von der Eigenständigkeit der russischen Seinsart (russkost) überzeugt und setzen auf Russlands Sonderweg und seine eurasische Identität. Den wenigen verbindlichen Aussagen zufolge, die bisher von Putin vorliegen, ist auch er davon überzeugt, dass die Spaltung der Gesellschaft nur durch eine für alle verbindliche nationale Idee - die "russische Idee" - überwunden werden kann, die "ebenso für Tataren, Baschkiren und Tschetschenen gilt".7 Führende Juristen, Politologen, Philosophen und Anthropologen aus unterschiedlichen politischen Lagern führen die russländische Staatlichkeit der heutigen Russischen Föderation auf die Großmachtstaatlichkeit des Russischen Imperiums und darüber hinaus auf die historischen Grundlagen der Moskauer Staatlichkeit im 16. Jahrhundert zurück. Fast alle weisen dem russischen Ethnos eine dominierende Stellung bei der Rekonstruktion des formal übernationalen russländischen Staates zu, was den nicht-russischen Ethnien - wie den Tschetschenen - das Recht auf die Bildung eines eigenen Staates verweigert. Als Rechtfertigung wird die Priorität geistig-moralischer Werte des in Jahrhunderten geschaffenen Zivilisationsprozesses angeführt, den die russische Nation im multinationalen Imperium anführte. Von hier aus wird der staatliche Patriotismus als vereinigende Idee der Interessen der russländischen Gesellschaft verstanden.

Es hat im postsowjetischen Russland bisher kaum eine konkrete Vorstellung davon gegeben, wie ein demokratisches Russland aussehen sollte. Der einzige Konsens, den es im postsowjetischen Russland mangels einer vorherrschenden liberalen demokratischen Idee gibt, ist der patriotische Konsens: Russland soll als einheitlicher Staat bewahrt werden. Zu diesem Zweck wird auch Geschichte mobilisiert. Das Suchen nach in der Geschichte Russlands verankerten Wertvorstellungen hat auch mit der nationalen Erniedrigung zu tun. Und diese wird heute stärker empfunden als jemals zuvor.


Fußnoten:


  1. Vgl. E. Hobsbawm, Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. ↩︎

  2. Vgl. folgende Werke Sjuganows: Derschawa (Staat), Za gorizontom (Jenseits des Horizonts) und Rossija - rodina moja: Ideologija gosudastvennogo patriotizma (Russland, meine Heimat: Ideologie des Staatspatriotismus). Auf dem vierten Parteitag der KPRF im April 1997 rief Sjuganow zur gewaltlosen und freiwilligen Restauration der „historischen Staatlichkeit Russlands“ auf, zur Wiedervereinigung der Völker des großen eurasischen Raums, denn außerhalb einer neuen Union könne es keine starke Russische Föderation geben. ↩︎

  3. Rossijskaja Gazeta, 30.7.1996. ↩︎

  4. Vgl. Jutta Scherrer, „Kul'turologija als ideologischer Diskurs“, in: W. Kissel, F. Thun, D. Uffelmann (Hrsg.), Kultur als Übersetzung, Würzburg 1999, S. 279-292. ↩︎

  5. Vgl. V. I. Samochwalowa in Russkaja kul'tura i mir, Niznij Novgorod, 1994, Bd. 1, S. 7-9. ↩︎

  6. Vgl. den Aufsatz von Christiane Uhlig „Nationale Identitätskonstruktionen für ein postsowjetisches Russland“, in Osteuropa 49 (1997) S. 1191-1206. ↩︎

  7. Vgl. die Webseite, die Putin im Namen der russischen Regierung am Internet am 27. 12. 99 eingerichtet hat; zitiert von Der Spiegel, 2, 2000, S. 112. ↩︎