Rückkehr nach Europa
Auf alten allegorischen Landkarten, in denen Europa als Dame mit Zepter und Königskrone versinnbildlicht wurde, waren die Böhmischen Länder als Herz des gesamten Kontinents abgebildet. Während der kommunistischen Herrschaft kursierte in Böhmen ein Witz mit dem Inhalt, dass Breschnew den Nobelpreis für Chirurgie verdienen würde, weil es ihm gelungen sei, das Herz Europas in den Verdauungstrakt der Sowjetunion zu transplantieren.
Eine der Losungen der „Samtenen Revolution“ im November 1989 lautete: „Zurück nach Europa!“ Sicherlich war damit mehr gemeint als das bloße Interesse an einer EU-Mitgliedschaft (Ich wage zu behaupten, dass die Vorstellungen der Mehrzahl der tschechoslowakischen Bürger von der Europäischen Union im Jahr 1989 noch sehr nebelhaft waren). Für die Tschechen bedeutete die Herauslösung des eigenen Landes aus der eisernen Umklammerung des „sozialistischen Lagers“ unter der Hegemonie Russlands vor allem die Rückkehr zu denjenigen Wurzeln, aus welchen ihre Kultur hervorgegangen war – die Rückkehr in den „Westen“. Einen Tschechen kann man nicht mehr kränken als durch die Bezeichnung seiner Heimat als Teil „Osteuropas“. „Wir sind Mitteleuropa!“ lautet augenblicklich die nachdrückliche Antwort, die häufig mit dem Zusatz versehen wird, dass unsere Kultur wesensmäßig dem Westen angehört. Diese stolze Feststellung bedeutete nicht allein eine Präzisierung von der Art einer geographischen und historiographischen Beschreibung, sie war vielmehr ein kulturpolitisches und geistiges Credo. „Der Westen“ war Symbol der politischen Freiheit und natürlich auch – und für viele in erster Linie – ein Symbol für Wohlstand und angenehmen Lebensstil.
„Re-Europäisierung“ bedeutete folglich im ersten Anlauf die Wiederanknüpfung an die Kulturkontinuität und zugleich auch einen Platz am reich gedeckten Tisch des Westens; es war mithin ein Platz, von dem die absolute Bevölkerungsmehrheit der Länder unter kommunistischer Herrschaft meinte, dass ihr dies irgendwie selbstverständlich auch als historisches Recht zustehe. War denn nicht das „freie und einheitliche Europa“ seit jeher das erklärte Ziel des Westens wie auch der politischen Dissidenten in unserem Land? Wer hätte da an Schwierigkeiten und Lasten gedacht, die mit dem Umzug und den Renovierungen am Bau des „Gemeinsamen Hauses Europa“ verbunden sein würden, als dieser Traum endlich nach dem Fall des Sowjetreiches zur realen Möglichkeit wurde?
Enge Verbindungen mit dem Westen
Der Westen bedeutet für Böhmen real betrachtet vor allem die wichtigsten Nachbarländer, also Deutschland und Österreich – zwei Kulturen, welche seit Jahrhunderten mit Böhmen durch kompliziert verflochtene gemeinsame Wurzeln verbunden sind. Die Beziehungen zu Deutschland waren für die Nachkriegsgeneration durch die Traumata der Nazi-Okkupation belastet und von einer vierzigjährigen systematischen kommunistischen Propaganda weit verbreiteter Angst vor dem angeblichen „Revanchismus“ der Sudetendeutschen beeinflusst. Erst in den vergangenen Jahren ist bei der jungen Generation der antideutsche Affekt nahezu gänzlich verschwunden; anderswo wurde er aber von der Furcht vor der starken Konkurrenz des großen Nachbarn abgelöst. Politische Extremisten, die nationalistische Rechte und die Kommunisten, bemühen sich jedoch mit aller Macht, die antideutschen Affekte anzufachen und sie auch gegen diejenigen Bestrebungen zu nutzen, welche sich für die europäische Integration einsetzen.
Zahlreiche Tschechen haben beim Aussprechen des Wortes „Europa“ zuallererst Frankreich und England vor Augen, zwei Länder, auf die sich im Verlauf der Ersten Tschechoslowakischen Republik (das bedeutet im goldenen Zeitalter der „Jugendzeit der Demokratie“, zu der sich die Mehrheit der Tschechen durch Gefühle hingezogen fühlt, die denjenigen ähnlich sind, mit denen ein alter Mensch seiner glücklichen Kindheit verbunden ist) der Blick der Zwischenkriegsgeneration mit Hoffnung, Bewunderung und Vertrauen heftete. Die politische Frustration dieser Hoffnungen nach der Münchner Konferenz von 1938 schwächte dieses eine Mal die Aufmerksamkeit bezüglich des Ostens und öffnete wie kaum etwas anderes den Raum für die kommunistische Propaganda. Und die hat insbesondere nach 1945 panslawischen Motive reichlich genutzt. Seit der sowjetischen Besetzung im Jahre 1968 ist „das Bewusstsein von der slawischen Zusammengehörigkeit“ in Böhmen vollends diskreditiert; bei der jungen Generation ist es bezeichnenderweise sehr populär, umgekehrt das keltische Element der nationalen Vorgeschichte zu betonen. Die Tschechen, die als die „westlichsten Slawen“ bezeichnet werden, legen einen wesentlich größeren Nachdruck auf die Betonung von „westlich“ als „slawisch“. Daher findet auch das Konzept der „Vyšegrader Trojka“ (bzw. nach der Aufteilung der Tschechoslowakei der Vier) in Böhmen, das nach Erneuerung seiner westlichen Identität strebt, keine sonderlich große Unterstützung.
Der Gedanke, dass die „Re-Europäisierung“ einen beschwerlichen und langwierigen Prozess bedeutet, dass man in den gemeinsamen Speiseraum Europa „nicht ohne Hochzeitsgewand“ eintreten könne, hat in Böhmen eine gewisse Desillusionierung hervorgerufen. Es hat sich bald erwiesen, dass die Lasten beim Eintritt in die Europäische Union nicht allein die reichen Länder des Westens erbringen, sondern dass auch den heruntergekommenen postkommunistischen Ländern eine nicht gerade geringe Mitgift und Bereitschaft zu zahlreichen Selbstbeschränkungen abverlangt wird.
Zwiespältige Einschätzung der Integration in die EU
Die Unterstützung des Beitritts zur EU in der Tschechischen Republik hängt eng mit dem Alter und der Bildungsstufe zusammen. Die ältere Generation und Menschen mit niedriger Qualifizierung vergegenwärtigen sich, dass der Beitritt zur EU eher Probleme als Vorteile bringen wird – von der europäischen Integration werden vor allem jüngere und gebildete Menschen oder solche mit Bildungswillen und Risikobereitschaft profitieren; dies wiederum hängt aber mit der Möglichkeit zusammen, die persönlichen Lebenserwartungen zu erfüllen. In der älteren Generation ist die Unterstützung für die EU vor allem bei denjenigen zu finden, die nicht überwiegend an ihr eigenes Wohl denken, vielmehr an dasjenige ihrer Kinder und Enkel. Im Kommunismus haben jedoch sehr viele Menschen die Fähigkeit verloren, hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge in längerfristigen Perspektiven zu denken. Es existierte keinerlei freies Unternehmertum oder privates Unternehmenseigentum und somit auch keine Möglichkeit und kein Erfordernis, in diesem Bereich eine Generationenkontinuität zu erhalten. Diese Unfähigkeit, im Generationenhorizont zu denken, hat sich nach dem Fall des Kommunismus im Arbeits- und Lebensstil vieler neuer Unternehmer und Neureicher erschreckend gezeigt: der Grundsatz carpe diem nahm überhand, ein mörderisches Tempo und ein Mangel an jeglicher Solidarität.
Die reichsten Menschen der postkommunistischen Länder denken und handeln häufig völlig unverantwortlich, denn sie haben ihr bedeutendes Eigentum ziemlich leicht erworben. Ein erheblicher Teil des ehemaligen kommunistischen Establishments missbraucht sein Finanz-, Informations- und Kontaktkapital, und so wurde aus dieser Machtelite eine Wirtschaftselite und somit erneut eine Machtelite. Diejenigen, welche ihr unternehmerisches Talent während der Jahre des Kommunismus lediglich illegal nutzen konnten, haben in die Zeit der Freiheit nicht nur ihre Begabungen eingebracht, sondern auch ihre Gewohnheit Gesetze zu ignorieren; bald hat sich ein internationales wirtschaftliches Mafia-Netz herausgebildet. Andere wiederum kamen auf dem Wege der Restitution zu ihrem Eigentum – praktisch alle, mit Ausnahme etlicher Unternehmer, welche aus der Emigration zurückkehrten, hatten jedoch keinerlei Erfahrung mit dem Unternehmertum; unter den Rückkehrern befanden sich auch solche, welche in der Fremde gescheitert waren, aber zu Hause nunmehr um jeden Preis Prestige erringen und ihre Frustrationen kompensieren wollten – auch diese begannen sich des öfteren unverantwortlich aufzuführen.
Aus denjenigen aber, denen die „rechtliche Morgendämmerung“, welche in einer ganzen Reihe postkommunistischer Länder herrscht, entgegenkommt, rekrutiert sich eine weitere Machtgruppe der Gegner der europäischen Integration: Unredliche Großunternehmer haben durchaus keinerlei Interesse daran, dass im Lande europäische Rechtsnormen gelten und ihre Einhaltung durch eine internationale Kontrolle überwacht wird. Die Politiker, welche einen „Euroskeptizismus“ und die „Bewahrung der Landesinteressen vor dem Terror der Brüsseler Bürokraten“ verkünden, sind gewöhnlich die Exponenten dieser Wirtschaftssubjekte. In einer Situation undurchschaubarer Vernetzungen politischer und ökonomischer Strukturen und einer weit verbreiteten Korruption halten sich diese Politiker und die „ersten Kapitalisten“ (nicht selten aus den Reihen der „letzten Kommunisten“) gegenseitig in ihren Positionen.
Auf der Suche nach Identität
Die tschechische Gesellschaft hat aus historischer Sicht eine sehr gute Voraussetzung für ihre Integration in die EU – sie war nämlich eine lange Zeit hindurch eine multiethnische Gesellschaft. Die Tschechen lebten Jahrhunderte lang gemeinsam mit Deutschen und Juden, mehr als ein halbes Jahrhundert lang bildeten sie zusammen mit den Slowaken einen gemeinsamen Staat und waren praktisch zweisprachig. Diese Partnerschaften, die zwar hier und da schwierig, trotzdem aber sehr fruchtbar waren, sind eine nach der anderen aus unterschiedlichen Gründen verschwunden. Als zum 1. Januar 1993 der neue tschechische Staat zu einem der „ethnisch allersaubersten“ Länder der Erde wurde, war es keineswegs mühelos, diese „neue Identität“ tschechischer Staatlichkeit zu benennen und mitzumachen. In den Bereich der Identitätssuche begeben sich nunmehr etliche Politiker, welche sich bislang im Geiste schieren Ökonomismus und kosmopolitischen Liberalismus artikuliert haben; sie beginnen nunmehr damit, auf populistische Weise eine bestimmte Form des Nationalismus anzubieten – einen Nationalismus ohne geistigen Inhalt, negativer Art, der auf der Angst vor „der Auflösung der Nation im Gemeinschaftstopf der Europäischen Union“ begründet wird. Angesichts dieser Form des Nationalismus und einer populistischen Xenophobie – die wir erst vor kurzem in der arroganten Art und Weise der Zurückweisung einer Diskussion mit Österreich in Sachen des Atomkraftwerks Temelin gesehen haben – muss man wohl von neuem darüber nachdenken, was Jahrhunderte lang die Nationalkulturen mit dem Kontext der europäischen Kultur verbunden hat. Es ist schon möglich, dass gerade die Christen hier eine anspruchsvolle Aufgabe erwartet.
Viele Einwohner postkommunistischer Staaten gelangen zu der Ansicht, dass der Herbst 1989 eher ein „Umsturz“ als eine tatsächliche Revolution gewesen war, dass nicht einmal der nachfolgende Transformationsprozess radikal genug war. Die Architekten und Ideologen des „Transformationsprozesses“ – in Böhmen insbesondere Václav Klaus – haben sich entgegen aller rechtsliberalen Rhetorik nicht von der marxistischen Vorstellung befreit, dass die Veränderung der ökonomischen „Basis“ mehr oder minder automatisch die Änderung des „Überbaus“ nach sich ziehe – der Mentalität, der Werteorientierung, der Kultur der Beziehungen. Es hat sich ein Raum der politischen Freiheit geöffnet, es wurden die klassischen Strukturen von Demokratie und Marktwirtschaft geschaffen. Doch hat die Gewichtsverlagerung auf die Ökonomie gewissermaßen die nichtökonomischen Elemente der Gesellschaftstransformation, die eine notwendige Voraussetzung demokratischer Kultur sind, verdunkelt. Zur „Biosphäre der Demokratie“ gehören notwendigerweise die Rechtskultur und der Stil politischer Kommunikation. Meiner Ansicht nach ist eine Schlüsselfrage der „Re-Europäisierung“ die Werte-Orientierung der Bevölkerung, mithin das ethische Niveau einer Gesellschaft. Ich habe dabei nicht lediglich die ethische Ebene der Einzelmenschen im Sinn, vielmehr „gemeinsame Werte“, ein bestimmtes moralisches Klima, das ungeschrieben, jedoch auf breiter Basis als Verhaltenskodex respektiert wird.
Die Gesellschaft braucht eine gemeinsame Wertebasis
Das Gebiet Mitteleuropas war in der Vergangenheit eine typisch mittelständische Gesellschaft. Von einer Mittelklasse wird erwartet, dass sie Garant stabiler Demokratie und Prosperität sei, dass sie im Geiste derjenigen Werte leben und arbeiten werde, welche als „europäisches Erbe“ verstanden werden – sie wird Bildung hochschätzen, um Toleranz, Bewahrung des Rechts bemüht sein, sie wird auch nicht einmal die „protestantische Ethik“ in Vergessenheit geraten lassen, die entsprechend Max Weber den Kapitalismus hervorgebracht hat: Arbeitsamkeit, Maßhalten, Unternehmensgeist. Nikolaus Lobkowicz hat vor kurzem in Prag daran erinnert, dass der Mittelstand nur dann zur Stütze der Demokratie wird, wenn ihm an der Demokratie auch noch aus anderen Gründen liegt als nur dem einen, dass er ökonomische Vorteile aus ihr zieht.
Es ist klar, dass die „neue obere Mittelklasse“, die in den postkommunistischen Ländern schnell und manchmal auf problematische Weise aus der angeblich „klassenlosen Gesellschaft“ (präziser ausgedrückt: aus der ökonomisch undifferenzierten Masse der Staatsangestellten und der engen Schicht der Parteioligarchie) emporgewachsen ist, dieser Werteorientierung in ihrer Mehrheit gänzlich entbehrt. Doch müssen wir uns, bevor wir nur der postkommunistischen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhalten, fragen, in welchem Maße die Realität des heutigen Westeuropa wirklich diesen klassischen Idealen „europäischer Erbschaft“ entspricht, ob nicht doch der Prozess der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierung ganz und gar von einer anderen Logik beherrscht wird und damit das „Ethos Europas“ ins Reich der Träume verweist. Gerade deshalb, weil Europa in das neue Jahrtausend aufgrund der ökonomischen Dynamik Amerikas und Asiens merkwürdig umschattet eintritt, darf es nicht seinen unvertretbaren kulturellen und geistigen Beitrag für die im Entstehen begriffene globale Zivilisation gering einschätzen. Gerade deshalb muss Europa für diese Aufgabe Quellen in sämtlichen Räumlichkeiten des sich wieder herausbildenden europäischen Hauses suchen – und diese auch den Kandidatenländern abverlangen, damit diese sowohl ihre Wirtschaft als auch ihre geistige Kultur entfalten.
Es ist sicherlich angemessen, dass sachliche Kriterien für die Ausdehnung der Europäischen Union bestehen, deren Erfüllung man verhältnismäßig gut empirisch verifizieren kann. Die Moralität einer Gesellschaft und ihre geistige Kultur lassen sich nicht quantifizieren und man kann lediglich indirekt auf sie schließen, denn sie spiegeln sich in zahlreichen Bereichen des Lebens der Gesellschaft wider; dies schließt das Recht, die Politik und die Wirtschaft mit ein. Trotzdem sollten die diplomatisch-politischen Verhandlungen über die Errichtung eines großen Europas nicht durch eine undurchdringliche Mauer von jenen Stellen abgetrennt werden, wo Philosophen, Theologen, Soziologen und Historiker über Europa als Wertegemeinschaft nachdenken. Die politisch-ökonomische und die kulturell-moralische Dimension Europas existieren in enger Wechselseitigkeit.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Otfried Pustejovsky.