Die Ukraine – Grenzland zwischen Ost und West
Die Bezeichnung der Ukraine als „Grenzland“ ist mehr als doppelsinnig: Zunächst ist die Lage der Ukraine an oder besser beiderseits der Grenze zwischen „Ost“ und „West“ gemeint, wobei wir jetzt noch offen lassen, was mit „Ost“ und „West“ gemeint ist. Dann ist die Ukraine ein Land der Angrenzungen und Abgrenzungen gegenüber anderen, Nachbarn, Freunden, die oft nicht von den Feinden zu unterscheiden sind. Weiterhin ist ihre Geschichte eine Geschichte der Grenzen, die das Land stets in seinen Umrissen veränderten, durch es hindurchwanderten, aber auch der Grenzen, an denen es sich in seiner historischen Entwicklung bewegt hat. So verdient schließlich die Ukraine ihren Namen: Im Altrussischen bezeichnet das Wort „ukraina“ Grenzgebiete, die Außenbezirke eines Herrschaftsgebietes, den Übergang zu einem anderen Machtbereich.
Wer in Europa zum „Osten“ und wer zum „Westen“ gehört, ergibt sich, wenn mehr gemeint ist als die bloßen Himmelsrichtungen, aus der Geschichte, der aktuellen Lage und der in die Zukunft gerichteten Orientierung. Dass die Ukraine im Osten des Kontinents liegt, lässt sich nicht bezweifeln. Gehört sie damit zum „Osten“? Unser Nachbar Polen rechnet sich, da er sich politisch und gesellschaftlich auf den Weg zum „Westen“ gemacht hat, mit Recht zu dem wieder entstehenden „Mitteleuropa“, das strukturell und seinem Selbstverständnis nach zu diesem „Westen“ gehört. „Westen“ heißt dabei so viel wie parlamentarisch kontrollierte Demokratie, Marktwirtschaft, freiheitlicher Pluralismus in einem Staat und einer Gesellschaft, die national definiert, aber auf Offenheit hin angelegt sind. Wie der ehemalige „Osten“ aus den Trümmern des Sowjetsystems hervorgehen wird, ist in großen Teilen höchstens verschwommen erkennbar. Aus dieser Sicht liegt der „Osten“ oder „Osteuropa“ ostwärts von Polen. Beginnt „Osteuropa“ mit der Ukraine? Vieles scheint dafür zu sprechen. Ukrainisch ist neben dem Russischen die am häufigsten gesprochene ostslawische Sprache, religiös-kulturell ist die Ukraine von der Orthodoxie geprägt, und ihre staatliche Bindung und politische Orientierung richtet sich historisch wie aktuell mehr nach Osten, vor allem nach Russland, als nach Westen. In jüngster Zeit haben sich die Tendenzen deutlich verstärkt, die seit 1991 unabhängige Ukraine wirtschaftlich und politisch wieder stärker mit Russland zu verbinden.
Die Ukraine als Durchgangsland
Was die Orientierung und Bindung der Ukraine nach Osten betrifft, so zeigt sich bei näherem Hinsehen ein Bild, das sich aus recht unterschiedlichen Komponenten zusammensetzt. Das riesige Land, der Fläche nach mit 603.700 km² der zweitgrößte Staat im heutigen Europa, das vom Dnjepr als dem zentralen Strom aus nach Westen das Stromgebiet des Bug und des Dnjestr, nach Osten das des Donez erfasst, hat sieben Staaten zu Nachbarn: Polen, Russland, Belarus, Moldova, Rumänien, die Slowakei und Ungarn, damit unter den rein europäischen Staaten nach Deutschland die meisten; dabei ist das Schwarze Meer als Grenzmeer zu Bulgarien, zur Türkei und zu Georgien noch nicht einmal mitgerechnet. Ähnlich wie Deutschland verfügt die Ukraine, abgesehen von der Schwarzmeerküste, nicht über natürliche Grenzen, sondern liegt als Durchgangsland offen. Viele Völkerschaften sind durch dieses Land hindurchgezogen und hinterließen ihre Spuren: In vorchristlicher Zeit nomadische Völkerschaften wie die Skythen und Sarmaten, später nahmen die Griechen einige Uferregionen als Kolonien. Als die Ostslawen sich seit dem 6. Jh. von Norden her ausbreiteten, um sich zunächst um Kiew am unteren Dnjepr festzusetzen und von hier aus den Kernbestand der späteren ukrainischen Bevölkerung zu bilden, hatten schon die Hunnen und Awaren das weite Steppengebiet von Osten her passiert. Ihnen folgten die Magyaren, die Bulgaren und Chasaren sowie die Petschenegen, um die Mitte des 11. Jhs. bis zum 13. Jh. erfasste das nomadische Großreich der Polowcer (Kumanen) die Ukraine. Im 9./10. Jh. trugen die Waräger – die russische Bezeichnung für den skandinavischen Kaufmannsadel, der von Norden her über den Dnjepr Verbindung zum Byzantinischen Reich herstellte – zur ersten ostslawischen „Staats“-Bildung bei; diese brachten wiederum kurz vor der Mitte des 13. Jhs. die Mongolen und Tataren für mehr als zwei Jahrhunderte unter ihre Oberherrschaft. Von den Trümmern dieser mongolisch-tatarischen Oberherrschaft hielt sich das Khanat der Krimtataren bis in die Zeit Katharinas II., die es schließlich erobern und beseitigen ließ.
Die Ostexpansion des Großfürstentums Litauen erfasste im 14. und 15. Jh. die damalige Ukraine und öffnete sie damit den Einflüssen seitens der mit Litauen verbundenen polnischen Adelsrepublik, an die das Land in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. überging. Ein Jahrhundert später gewann der Moskauer Zar die Herrschaft über die Ukraine ostwärts des Dnjepr („ostufrige Ukraine“), gegen Ende des 18. Jhs. weitete Katharina II. sie im Zuge der Teilungen Polens auch auf die rechtsufrige Ukraine aus. Im Krieg gegen das Osmanische Reich gewann sie die Gebiete bis zur Schwarzmeerküste hinzu, die sie „Neurussland“ nannte. Das 1794 gegründete Odessa sollte eine der schönsten und lebendigsten Städte des gesamten Zarenreiches werden. So wurde der Gebietsbestand der späteren Ukraine in den südlichen Teilen aus der Herrschaft des Osmanischen Sultans herausgelöst und in seinem östlichen, überwiegenden Anteil unter der Zarenkrone zusammengeführt. Der westlichste Teil der Ukraine - Galizien mit der Hauptstadt Lemberg (poln. Lwów, ukrain. Lviv) sowie die Karpatenukraine mit Užhorod - blieben unter habsburgischer Herrschaft; im späten 18. Jh. gewann Österreich noch die Bukowina vom Osmanischen Reich hinzu. Zwischen den beiden Weltkriegen gehörten Ostgalizien und Wolhynien zu Polen, mit der deutsch-sowjetischen Teilung Polens 1939 kehrten sie wieder zurück, am Ende des Zweiten Weltkrieges ergänzt noch um die Karpato-Ukraine, die von der Tschechoslowakei abgetrennt wurde.
Heimat unterschiedlicher Volksgruppen
Die Landschaften der Ukraine sind stets von vielen Ethnien bewohnt gewesen. Allein in Galizien finden sich polnische Bevölkerungsgruppen wie die Krakowiaken, Lasowiaken und Goralen sowie ukrainische wie die Huzulen, Bojken und Lemken und schließlich die Juden, die sich auch in anderen Regionen und Orten der Ukraine niederließen und in dem Charakter des Landes ihren Akzent setzten, vom „Shtetl“, kleinen Siedlungen oder jüdischen Stadtvierteln bis zu Lemberg oder Odessa als bedeutenden Zentren ihres Lebens und ihrer Kultur. Am Ende des Ersten Weltkrieges stellten sie mit 4,3 Millionen noch 9 % der damaligen Bevölkerung der Ukraine. Vor allem der nationalsozialistische Völkermord, zu einem gewissen Teil auch mehrere Auswanderungswellen ließen sie auf ein Zehntel ihres Bestandes schrumpfen. Die Juden waren ebenso bereits im Mittelalter eingewandert wie die Deutschen, die vor allem seit dem letzten Drittel des 18. Jhs. in mehreren großangelegten Aktionen angesiedelt wurden und ebenfalls wieder verschwunden sind; weiterhin kamen Griechen, Serben, Armenier, und alle brachten ihre Eigenart mit.
Eine Bevölkerungsgruppe besonderer Art bilden die Kosaken; sie werden häufig für eine eigene Ethnie gehalten, was sie aber nicht sind. In ihrer Masse sind sie seit dem 15. Jh. aus einer sozialen Bewegung russischer und ukrainischer Bauern hervorgegangen, die vor dem Druck ihrer Grundbesitzer in die Steppe flohen, um nach dem Vorbild kriegerischer tatarischer Steppenbewohner als Krieger und Viehzüchter zu leben. Südlich von Kiew gründeten sie Mitte des 16. Jhs. ihr Zentrum, die Zaporoger „Sič“, die sie bis in die Regierungszeit Katharinas II. hinein behaupten konnten. Daneben gab es im Laufe der Zeit weitere Zentren am unteren Don sowie in Westsibirien. Die Kosaken sollten für die nationale ukrainische Geschichte eine wichtige Rolle spielen, in anderer Weise als die Russen, die heute über ein Fünftel der Bevölkerung der Ukraine ausmachen.
Den weitaus größten Bevölkerungsanteil stellten und stellen die Ukrainer selbst (heute 73% von insgesamt ca. 52 Mill.). Diese Feststellung ist nicht so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Denn was macht die ostslawische Bevölkerung beiderseits des Dnjepr zu Ukrainern, die sich von den beiden anderen ostslawischen Bevölkerungsgruppen, den Großrussen und den Weißrussen, erkennbar unterscheiden? Neben der ethnischen Herkunft stellen doch die ostslawische Sprache, die kyrillische Schrift und das orthodoxe Christentum eher verbindende Elemente dar. Auch lässt sich eine historische Entwicklung auf einen nationalen Staat der Ukrainer hin nur in sehr kurzen Episoden aus der Geschichte der Großreiche Russland, Polen-Litauen, Österreich und Osmanisches Reich herausisolieren. Daher ist ja auch den Ukrainern insbesondere von russischer Seite die Qualität einer eigenen, selbstständigen Nation wiederholt abgesprochen worden. Dieses Urteil kann heute als widerlegt betrachtet werden, auch wenn eine nationalgeschichtliche Historiographie der Ukraine noch nicht genug Substanz angereichert hat, dass man, um Genaueres über die Geschichte und Kultur der Ukraine zu erfahren, auf die Forschungen und Darstellungen zur russischen und polnischen Geschichte verzichten könnte. Der Grund dafür liegt dort, wo wir auch die Ursachen für die problematische Entwicklung der Ukrainer zur Nation finden.
Die Ursprünge der ukrainischen Nation
Die Anfänge ostslawischer staatlicher Herrschaftsbildung liegen, wie erwähnt, im Stromgebiet des Dnjepr mit dem Zentrum Kiew, also in den Kerngebieten der heutigen Ukraine. Mit dem Zerfall der Kiewer Rus´ im 12. und 13. Jh. wanderte das politische Machtzentrum nach Nordosten, wo im 14. und 15. Jh. Moskau mit dem „Sammeln der russischen Lande“ seinen Aufstieg betrieb. Zu Beginn des 18. Jhs. löste das neu gegründete St. Petersburg das alte Moskau ab, bis die Regierung Anfang 1918 dorthin wieder zurückkehrte. Die Russen leiten nun aus der Kontinuität staatlicher Machtbildung und ihrer Legitimation durch die Russische Orthodoxe Kirche (bis 1917) ihren Anspruch auf die Kiewer Rus´ als Anfang des russischen Staates ab. In der Ukraine zieht man hingegen eine Argumentation vor, die sich auf das Territorium und die ansässige Bevölkerung richtet, und betrachtet die Kiewer Rus´ als historische Vorläuferin eines nationalen ukrainischen Staates.
Etliche der Teilfürstentümer, in die sich die Kiewer Rus´ auflöste, gerieten unter litauische bzw. polnische Herrschaft. Das Fürstentum Galizien-Wolhynien teilte zwar noch das Schicksal der mongolisch-tatarischen Oberherrschaft mit den anderen russischen Fürstentümern, im Ganzen aber wurde es durch seine nach Westen vorgeschobene Lage, die starken Einflüsse der ungarischen und polnischen Nachbarn, die päpstliche Politik, die 1254 in der Verleihung der Königskrone an den Fürsten Daniil Romanowitsch ihren Höhepunkt fand, sowie durch die litauische Expansionspolitik aus dem osteuropäischen Zusammenhang gelöst und in den ostmittel- und südosteuropäischen Zusammenhang hineingeführt. Die Zugehörigkeit der Ukraine zur polnischen Adelsrepublik brachte eine starke Polonisierung mit sich. Der Grund und Boden ging, zu riesigen Gütern zusammengefasst, in den Besitz polnischer bzw. polonisierter Magnaten über, während die ansässigen ukrainischen („ruthenischen“) Bauern immer tiefer in die Leibeigenschaft gezwungen wurden. Die Anpassung an die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Adelsrepublik führte auch zur Förderung der Städte, die mit dem Magdeburger Stadtrecht ausgestattet wurden und deren bürgerliche Einwohnerschaft zum maßgeblichen Teil aus Deutschen und Juden bestand.
Die wachsenden sozialen Spannungen in Stadt und Land griffen auch auf die religiösen Verhältnisse über: Der Versuch, den Gegensatz zwischen Katholizismus in Polen-Litauen und Orthodoxie in der Ukraine durch die Brester Kirchenunion von 1596 aufzuheben und damit die Eingliederung „Rotreußens“ in die polnische Adelsrepublik zu vervollständigen, rief bei den ukrainisch-orthodoxen Bauern und Kleinadeligen erbitterten Widerstand hervor. Zwar kam es mit der Unterstellung ukrainischer Bischöfe unter den Primat des Papstes zur Gründung einer griechisch(ukrainisch)-katholischen Kirche, die sich in der heutigen Westukraine durchsetzen und in den letzten Jahren wieder an Vitalität gewinnen konnte, aber aufs Ganze gesehen verstärkte diese Kirchenunion die Identifizierung von ukrainischer und orthodoxer Identität unter polnischer und katholischer Herrschaft. Ukrainisches Nationalgefühl keimte hier auf dem Boden eines tiefen sozialen und religiösen Gegensatzes.
Den Versuch zu einer politischen Umsetzung dieses Konfliktes unternahmen die Kosaken, die in der Steppe ihre eigenartigen, teils demokratischen, teils an strikte Hierarchien orientierten Lebensformen entwickelt hatten und darauf bedacht waren, ihre Selbstständigkeit im Kräftefeld zwischen Polen-Litauen, dem Moskauer Zarentum und dem Osmanischen Reich zu bewahren. Die Bemühungen der Adelsrepublik, die Kosaken in ihre Integrationspolitik einzubeziehen und zu einer Art polnischer Staatstruppe zu machen, führte nach einigen Jahrzehnten wachsender Unzufriedenheit 1648 zu dem Kosakenaufstand unter dem Hetman Bohdan Chmelnizkyj. Das Bestreben der Kosaken, ihre alten Freiheitsrechte zurückzuerobern, löste in großen Teilen der Ukraine einen regelrechten Volksaufstand aus. Den Bauern, denen es darum ging, Leibeigenschaft und Ausbeutung abzuschütteln, schlossen sich ukrainische Städter und Kleinadelige an. Es blieb nicht beim antipolnischen und antikatholischen Affekt. Der Aufstand richtete sich gegen alles, was mit der polnischen Herrschaft in Verbindung gebracht wurde, und das waren auch die Juden, die sich als Verwalter, Händler, Schankwirte in einer abhängigen und fragilen Mittelposition zwischen polnischen Magnaten und ukrainischen Bauern befanden und außerdem ständig mit der religiös gespeisten Feindschaft der gesamten christlichen Umgebung, gleich welcher konfessionellen Färbung, zu rechnen hatten. Das Wüten der Aufständischen wurde zu einem der erschütterndsten Ereignisse der Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas, insbesondere der dort lebenden Juden.
Immerhin vermochte Chmelnizkyj beiderseits des Dnjepr ein staatsähnliches Hetmanat zu errichten, was in einem Teil der ukrainischen und sowjetischen Historiographie als Ansatz zur Bildung ukrainischer Staatlichkeit betrachtet wird. Auf die Dauer konnte sich das Hetmanat jedoch nicht behaupten, weil es zum einen auf der Interessengemeinschaft der kosakischen und der ukrainischen Oberschicht beruhte und die ärmeren Schichten der Kosaken sowie die ukrainischen Bauern nicht berücksichtigte. Zum andern kamen zu den starken sozialen Spannungen im Innern die äußeren Probleme: Das Hetmanat war auf Verbündete angewiesen, und die suchte es in erster Linie im Moskauer Zaren, mit dem es 1654 den berühmten und umstrittenen Vertrag von Perejaslawl schloss. Dieser Vertrag, von den Kosaken als Bündnis- und Schutzabkommen verstanden, wurde von Seiten des Zarentums von vornherein als Unterwerfungsvertrag aufgefasst und dementsprechend in Form einer schrittweise betriebenen Eingliederung der Ukraine in den Moskauer Staat umgesetzt.
Die unterschiedliche Sichtweise blieb bestehen und wirkt bis heute nach. Aus russischer Sicht begründete der Vertrag von Perjaslawl eine fortdauernde und unlösbare „Wiedervereinigung“ zwischen den Russen und den Ukrainern, während man ihm auf ukrainischer Seite nur den Charakter eines zeitweiligen Bündnisses zwischen gleichberechtigten Partnern zubilligte. Welche Sichtweise sich durchsetzte, war eine Machtfrage, und hier lag das Übergewicht bei den Russen. Auch wenn die Kosaken in Folge des Vertrages und der Ergebnisse des zweiten nordischen Krieges (1654 – 1667) zunehmend ihre verbliebenen autonomen Rechte einbüßten und die Ukraine längs des Dnjepr geteilt wurde, beschreiben etliche ukrainische Historiker das 17. Jh. doch als eine bedeutende und verheißungsvolle Epoche in der Geschichte ihres Landes und Volkes. Es lässt sich jedoch nicht übersehen, dass diese ukrainische Herrschaftsbildung nicht nur hinsichtlich ihrer Grundlagen und Struktur unzulänglich angelegt war, sondern auch dem machtpolitischen Druck der benachbarten Großreiche keine ausreichenden substanziellen Kräfte entgegenzusetzen hatte. So ähnlich verhielt es sich mit dem Versuch des Kosakenhetmans Iwan Mazepa (1639 – 1709), im Zusammenhang mit dem Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721) eine Interessenpolitik zu Gunsten des Hetmanats zu treiben. Was im Laufe des 18. Jhs. folgte, waren der Verlust kosakischer Autonomie und schließlich, im Zuge der Teilungen Polens, die Eingliederung der ukrainischen Lande in die Teilungsmächte Russland und Österreich. Die Ukrainer ließen die Integrationspolitik nicht widerstandslos über sich ergehen. Mehrfach entlud sich ihr Protest in vehementen Aufständen, insbesondere der „Hajdamaken“ – orthodoxer Bauern und ehemaliger Kosaken, die sich zu frei lebenden Banden zusammengeschlossen hatten – in Polen-Litauen, die nur mit Hilfe russischer Truppen niedergeworfen werden konnten.
Neuansatz der Nationsentwicklung
Die Aktivität der Ukrainer beschränkte sich jedoch nicht auf jähe Ausbrüche einer ansonsten passiven Bevölkerung. In der zweiten Hälfte des 17. Jhs. entfaltete sich insbesondere in der westlichen Ukraine ein reges kulturelles Leben, für das das Hetmanat mit seiner Förderung der Kirchen, Klöster und der von ihnen getragenen Bildungseinrichtungen günstige Bedingungen schuf. Der Bildungsstand der Kleriker wies bemerkenswertes Niveau auf. Zum wirkungsvollsten Institut entwickelte sich die von Petro Mohyla (1596-1647) in Kiew begründete Akademie, die 1689 ein volles akademisches Lehrprogramm anbot, damit zur ersten Hochschule im ostslawischen Bereich avancierte und 1701 von der russischen Regierung offiziell als Akademie anerkannt wurde. Dass die Akademie, zu der drei im Lande verteilte Kollegien gehörten, westliches Bildungsgut, die Philosophie der Frühaufklärung, Ideen des deutschen Pietismus ins Russische Reich hinein vermittelte und auf die Formen und Traditionen der Orthodoxie hin umsetzte, war so nur auf ukrainischem Boden möglich, wo sich die verschiedenen europäischen Kulturkreise überschnitten. Wie vergleichsweise offen diese geistige Welt angelegt war, vor allem im Hinblick auf die traditionell misstrauisch abschirmende Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche, zeigt sich beispielsweise schon darin, dass als vorherrschende Unterrichtssprache Latein diente, die lingua franca der damaligen wissenschaftlichen Welt. Die Wirkung der Akademie reichte bis in die unmittelbare Umgebung Peters des Großen. Einige der engsten Mitarbeiter des Kaisers, der die Modernisierung Russlands nach westlichem Vorbild energisch vorantrieb, kamen aus der Kiewer Akademie. Zu ihnen gehörten bedeutende Reformtheologen und -politiker wie Stefan Jaworskyj oder Feofan Prokopowitsch, der ein Studium am Jesuitenkollegium in Rom absolviert hatte, bevor er Professor in Kiew wurde. Dass ein großer Teil der russischen Bischöfe dort ausgebildet wurde, ist nicht mehr als ein Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung, die die Ukraine für die russische Geistes- und Kulturgeschichte besaß.
In diesem 17. Jh. wurden die Grundlagen und Elemente einer eigenen ukrainischen Kultur erkennbar: in der Literatur, in der Sprache, in der bildenden Kunst, so z.B. in einem spezifischen Ikonenstil. Hier konnten seit den 1840er Jahren die Angehörigen der Intelligenz anknüpfen, die sich zur nationalukrainischen Bewegung bekannten. Ihren Ausgang hatte diese Bewegung in den österreichischen Anteilen an der Ukraine genommen, von wo aus sie auf die zu Russland gehörenden Gebiete übergriff. Geheime Gruppen – die „hromady“ – und Gesellschaften wie die „Kyrill-und-Method-Gesellschaft“ strebten vor dem Hintergrund panslawistischer Ideen eine freie, gleichberechtigte Ukraine an. Thematisch und methodisch stärker am Westen orientiert war das Wirken ukrainischer Wissenschaftler vor allem an den Universitäten Charkiv und Lemberg, Sprachwissenschaftler und Historiker, die das Bild von der Ukraine als eigenständiger ethnisch-kultureller und historischer Größe entwarfen. Diese Tendenzen, die zeitgleich mit der revolutionären Bewegung von 1848 an die Öffentlichkeit traten und viele Schriftsteller, als bekanntesten unter ihnen Nikolaj Gogol, Literaten und Künstler erfassten, fanden ihre Führer in Dichtern wie Taras Schewtschenko (1814-1861) oder später in dem Nationalhistoriker Myhajlo Hruschewskyj (1866-1934).
Den erneuten Ansatz, die Entwicklung zur Nation voranzutreiben, bekämpften die russischen Behörden mit gezielten Gegenmaßnahmen wie z.B. mit dem Verbot, das Ukrainische als Unterrichtssprache oder überhaupt die Bezeichnung „Ukraine“ zu verwenden, an deren Stelle der Begriff „Kleinrussland“ gesetzt wurde, wie ihn das Patriarchat zu Konstantinopel seit dem ausgehenden 13. Jh. gebraucht hatte (als Bezeichnung für das näher liegende, durch eine "kleine" Reise zu erreichende Russland). Ähnlich verhielt es sich aber auch mit den Großen Reformen der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jhs., die sich als allgemeine Modernisierungspolitik nicht speziell gegen die ukrainische Bewegung richteten, sondern gegenüber allen nationalen Sonderformen nivellierend wirkten. So lag es nahe, dass sich zunehmend Ukrainer der revolutionären, auch der terroristischen Bewegung innerhalb des Russischen Reiches anschlossen, während in Österreich-Ungarn den Vertretern Galiziens ein gewisses Repräsentationsrecht eingeräumt wurde.
Russifizierung in der Sowjetära
Der Zusammenbruch des Zarenreiches am Ende des Ersten Weltkrieges führte zu dem Versuch der „Zentral-Rada“, einer Regierung sozialistisch-nationaler, an den westlichen Formen parlamentarischer Demokratie orientierter Revolutionäre, eine unabhängige Ukrainische Volksrepublik ins Leben zu rufen. Er scheiterte an den Bolschewiki; sie setzten im Bürgerkrieg, dessen Fronten das Land vielfach auf das Zerstörerischste durchquerten, schließlich die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik durch, deren westliche Teile Galizien und Wolhynien beim wieder unabhängig gewordenen Polen blieben. Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki während der 20er Jahre ließ der Entfaltung ukrainischer Sprache und Kultur verhältnismäßig viel Raum, bis die Herrschaft Stalins in den 30er Jahren die gesamte Sowjetunion auf die dominante großrussische Geschichte und Kultur hin orientierte. Ob die fürchterliche Hungersnot der Jahre 1932 und 1933, der in der Ukraine etwa 4 – 6 Mill. Menschen zum Opfer fielen, eine nicht beabsichtigte, aber mehr oder minder billigend in Kauf genommene Wirkung der Kollektivierung der Landwirtschaft oder ein gezielter Schlag gegen die ethnisch-soziale Substanz der Ukrainer war, ist in der Forschung umstritten. Unbestritten sind jedoch der gewaltige Aderlass wie auch die nachhaltige, schwere Traumatisierung der ukrainischen Gesellschaft. Es sollte nicht dabei bleiben.
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion löste in der Ukraine erneut Hoffnungen auf eine selbstständige Ukraine aus, wobei die Erinnerung an die aktive Ukrainepolitik Berlins während des Ersten Weltkrieges eine nicht unwichtige Rolle spielte. Diesmal war es zunächst die deutsche Besatzungspolitik, die den Ukrainern nicht nur die nationale Selbstbestimmung verwehrte, sondern ihnen jegliches Menschenrecht in einer Weise absprach, dass ihnen die Stalinherrschaft als die erträglichere Alternative erschien. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb nicht allein die territoriale „Komplettierung“, die mit der deutsch-sowjetischen Teilung Polens 1939 hergestellt worden war, bestehen, sondern sie wurde noch um die Karpato-Ukraine ergänzt und durch Deportationen und Bevölkerungsverschiebungen im Sinne einer „ethnischen Säuberung“ unterstützt. Wenn auch ukrainische Politiker in der nachstalinschen Zeit in der Sowjetunion wichtige Positionen bekleideten, lief die sowjetische Innenpolitik tatsächlich auf eine zunehmende Reduzierung ukrainischer Identität und einen wachsenden Russifizierungsdruck hinaus.
Mit dieser nachdrücklichen Orientierung auf die Interessen der Moskauer Partei- und Staatsführung wurde die Ukraine von den Ansätzen zu einer Formulierung nationaler Interessen abgedrängt. Das bedeutete auch die Abdrängung von einer Entwicklung auf den „Westen“ hin, in den eine große und aktive ukrainische Emigration ausgewichen war. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Selbstständigkeit der Ukraine ermöglicht, ihr den Weg zur Umwandlung der sozialistischen Sowjetrepublik in einen modernen demokratischen – und das heißt im politischen Sinne „westlichen“ – Staat aber erst eröffnet. Bei dieser Umwandlung handelt es sich um einen äußerst schwierigen, widersprüchlichen und langwierigen Prozess. Die historisch bedingte innere Gespaltenheit des Landes, die große russische Minderheit, wirtschaftliche Zwänge und Abhängigkeiten sowie die Unklarheit in Ziel und Formen politischer Praxis – die Ukraine hat sich nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft noch keine neue Verfassung gegeben – führen dazu, dass sich die künftige Richtung des Landes bisher nicht deutlich abzeichnet.
Man könnte zu dem Schluss gelangen, eigentlich gebe es die Ukraine gar nicht, sie sei nur eine Fiktion nationalistischer Intellektueller, traumtänzerischer Dichter und machtversessener Politiker. In Wirklichkeit handle es sich um ein Anhängsel Russlands. So und ähnlich sind das Existenzrecht einer freien, selbstständigen Ukraine und ihr Anspruch auf eine nationale Identität immer wieder bestritten worden. Was spricht dagegen für die Existenz und die Rechte eines unabhängigen Staates Ukraine? Zuerst ist es der Wille der weitaus überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, der wiederholt in den Abstimmungen der letzten Jahre unzweideutig zum Ausdruck gekommen ist. Dann ist es die Geschichte dieses Landes und seines Volkes. Die Entwicklung in Richtung Nation und Nationalstaat wurde immer wieder unterbrochen, abgelenkt und verfremdet. Die demokratische Revolution in Osteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts hat den Ukrainern eine neue Chance eröffnet, zur modernen Nation in einem modernen Staat zu werden und den Anschluss an ihren „Westen“, die Demokratien Mittel- und Westeuropas, zu finden. Wenn die Ukraine, die in ihrer Geschichte, ihrer Kultur und in ihrem Charakter als Vielvölkerstaat so viele Elemente aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa in sich aufgenommen hat, es fertig bringt, diese spannungsreiche Vielfalt zu einem fruchtbaren Ganzen zu machen, könnte sie wirklich zu einer Brücke zwischen dem mittleren und dem östlichen Europa werden. Ob dies gelingt, wissen wir nicht. Noch trägt diese Brücke nicht, noch trägt sie kaum sich selbst.