Die katholischen Kirchen und die ökumenischen Beziehungen in der Ukraine

aus OWEP 2/2001  •  von Oleh Turij

Dr. Oleh Turij ist Dozent am Institut für Kirchengeschichte der Theologischen Akademie der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in Lwiw.

Das Erbe des Christentums ist in der ukrainischen religiösen Tradition zweifelsohne dominant und beruht auf einer mehr als tausendjährigen Geschichte. Die Identität und das historische Schicksal der Kirche Christi in der Ukraine gehen auf das im Jahr 988 durch Fürst Wolodymyr den Großen eingeführte Christentum in seinem östlichen (byzantinisch-slawischen) Ritus als Staatsreligion der Kiewer Rus‘ zurück, als eine für alle Ostslawen gemeinsame hierarchische Struktur, die Kiewer Metropolie, ins Leben gerufen wurde. Seit jener Zeit hat sich das Geschenk des Glaubens auf dem ukrainischen Gebiet im Geiste der byzantinischen Tradition entwickelt. Zur Zeit der Christianisierung der Kiewer Rus‘ war die kirchliche Einheit zwischen Konstantinopel und Rom noch nicht zerstört. Doch in der Praxis des religiösen Lebens waren die Gegensätze zwischen dem christlichen Osten und Westen auch in den ukrainischen Gebieten bereits spürbar. Sie traten jedoch besonders nach dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit der Kiewer Rus‘ zutage, als große Teile ihres Staatsterritoriums unter die Herrschaft der benachbarten Staaten (Ungarn, Litauen und Polen) gerieten. Mit Unterstützung der herrschenden Kreise entstanden seit dem 14. Jahrhundert parallel zu den alten Bistümern der Kiewer Metropolie lateinische hierarchische Strukturen, die ihren Einfluss auf Kosten der Katholisierung und Polonisierung bzw. Magyarisierung eines Teils der einheimischen Bevölkerung ausbreiteten.

Zwischen den Mächten

Aus Rücksicht auf die Besonderheiten der geopolitischen Lage und der historischen Entwicklung hat die ruthenische Hierarchie Bemühungen um eine Erneuerung der christlichen Einheit der Weltkirche recht oft ins Leben gerufen oder sie unterstützt. Vertreter der Kiewer Metropolie nahmen an den Konzilen der Westkirche teil (Lyon 1245, Konstanz 1418); positiv war die Florentiner Union (1439) in den ukrainischen und weißruthenischen Landen begrüßt worden, an der der Kiewer Metropolit Isydor aktiv beteiligt gewesen war. Ungeachtet dessen hatte die Saat des christlichen Einvernehmens auf dem damaligen Boden der politischen Gegensätze und religiösen Vorurteile nicht die erwarteten Früchte getragen. Die Ablehnung der Florentiner Union hat dazu geführt, dass sich die Moskauer Kirche von der alten Kiewer Metropolie trennte und sich 1448 für autokephal erklärte.

Das Episkopat der Kiewer Metropolie hat als Antwort auf die Herausforderung der protestantischen Reformation und des posttridentinischen Katholizismus im polnisch-litauischen Staat Ende des 16. Jahrhunderts auf einer Synode beschlossen, unter der Bedingung der Bewahrung des traditionellen östlichen Ritus und ihrer kirchlichen Eigenständigkeit die Jurisdiktion des römischen Apostolischen Stuhls anzunehmen. Ein solches Modell der kirchlichen Einheit, das auf dem Konzil von Brest 1596 angenommen wurde und als Beginn der institutionellen Existenz der mit Rom vereinten Kirche der Ukraine betrachtet wird, haben bei weitem nicht alle Hierarchen und Gläubigen der Kiewer Metropolie angenommen. Ein Teil von ihnen war mit der römischen Vision einer solchen Union unzufrieden und bestand darauf kanonisch weiterhin dem Patriarchat von Konstantinopel anzugehören. Die Vertreter dieser Ausrichtung erreichten 1620 die Weihe einer parallelen Hierarchie und 1632 deren offizielle Anerkennung durch die Polnische Adelsrepublik. Dies führte dazu, dass in der ruthenischen Kirche eine konfessionelle Spaltung entstand.

Zwischen den Anhängern und Opponenten der Brester Union kam es zu einer scharfen Polemik, die bis in unsere Zeit andauert. Die religiöse Gegnerschaft wurde zur Ausdrucksform anderer sozial-wirtschaftlicher, ethno-kultureller und staatlich-politischer Konflikte, die die Folge hatten, dass 1654 der zentrale und östliche Teil der Ukraine unter die „hohe Hand des rechtgläubigen Moskauer Herrschers“ geriet. Bald danach wurde auch die orthodoxe Kiewer Metropolie dem Moskauer Patriarchat unterstellt (1686). Seit jener Zeit haben der russische Staat und die kirchliche Führung alles darangesetzt, um jedwede Besonderheit der ukrainischen orthodoxen Tradition auszumerzen und die Kirche in ein Instrument der Russifizierung der Ukrainer zu verwandeln.

Diese lmperativa der staatlich-kirchlichen Politik galten mit noch größerer Hartnäckigkeit und Konsequenz gegenüber der mit Rom unierten Kirche. Jedes Mal wenn das Zarenreich seine Macht auf benachbarte ukrainische Gebiete ausdehnte, folgten Repressionen gegen „Unierte“ und ihre zwangsweise „Bekehrung“ zur russischen Orthodoxie (1772, 1795, 1839, 1876). Die enge Verknüpfung der Russischen Orthodoxen Kirche mit der imperialen Macht und den großrussischen nationalen Interessen rief Unzufriedenheit hervor und führte dazu, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb des orthodoxen Klerus und der Laien der Ukraine eine „ukrainophile“ Strömung entstand. Nach der Revolution von 1917 kam es zu einer organisierten Bewegung mit dem Ziel einer autokephalen ukrainischen Orthodoxie. Die in den 1920er und 1940er Jahren unternommenen Versuche sie zu realisieren stießen auf den erbitterten Widerstand der russischen Kirchenleitung und riefen (bereits in der sowjetischen Zeit) staatliche Repressionen hervor.

Im westlichen Teil der Ukraine hingegen, der im Verband der Polnischen Adelsrepublik verblieben war, konnte die mit Rom vereinte Kirche bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts praktisch alle Gläubigen des östlichen Ritus für sich gewinnen. Entgegen allen Bemühungen der polnischen weltlichen und kirchlichen Elite, die Union in eine Brücke zur völligen Latinisierung zu verwandeln, wurde sie zum wichtigsten Bewahrungsfaktor der kulturell-religiösen Eigenständigkeit der ukrainischen Bevölkerung. Mit der Aufnahme der westukrainischen Gebiete in den Verband des Österreichischen Staates (1772) hat die griechisch-katholische Hierarchie (es waren die habsburgischen Herrscher, die den Unierten offiziell diese Bezeichnung gaben) die Unterstützung und den Schutz der kaiserlichen Regierung erhalten. Die aufklärerischen Reformen von Maria Theresia und Joseph II. ermöglichten der ukrainischen Jugend den Zugang zur Bildung, darunter auch in ihrer Muttersprache, und führten zu einer juristischen Gleichsetzung der griechisch-katholischen Gläubigen mit den römisch-katholischen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt die griechisch-katholische Kirche in der Gestalt des Metropoliten Andrej Scheptyzkyj (1901-1944) einen hervorragenden Würdenträger. Seine gründliche seelsorgerische Arbeit, die Bemühungen um Bildung und Kultur sowie die Verteidigung der nationalen und sozialen Rechte des Volkes haben Scheptyzkyj zu einer unbestrittenen Führungsgestalt und moralischen Autorität der ukrainischen Gemeinschaft und die griechisch-katholische Kirche zu einer einflussreichen sozialen Institution der Westukraine gemacht.

Das totalitäre Erbe

Ein unmittelbarer Faktor, der die Entwicklung des religiösen Lebens in der heutigen Ukraine beeinflusst, ist die Tragödie des 20. Jahrhunderts - die Ära des Terrors und der Gewalt. Nach einer ungefähren Schätzung sind in der Ukraine des 20. Jahrhunderts etwa 17 Millionen Menschen allein durch Willkür und Gewalt umgekommen. Das besonders Tragische dabei ist, dass diese Opfer nicht durch Kriege und Konflikte, sondern infolge wahnwitziger Ideen der Weltumgestaltung umkamen. Da man in der Sowjetunion über diese Barbarei öffentlich oder auch in Privatgesprächen nicht reden konnte, hat diese Tragödie keinen Widerhall im Bewusstsein der Gesellschaft erfahren. Die Toten sind nicht betrauert worden, die Gewalt und das Unrecht wurden nicht vergeben, die psychologischen und geistigen Wunden sind unverheilt geblieben.

Ein Bestandteil der blutigen Tragödie der Gewaltherrschaft in der Ukraine war die Verfolgung der Religion und die Verbreitung des Atheismus. Da das kommunistische Regime seine totalitäre Herrschaft festigen wollte, duldete es keine Strukturen, die andere (humanistische) Werte vertraten. Der Kampf mit der Religion wurde zur Staatsideologie. Zerstörte, niedergebrannte, entweihte Gotteshäuser; erschossene, inhaftierte und in sibirische GULAGs deportierte orthodoxe, katholische und andersgläubige Geistliche und Laien; verfolgte, in den Untergrund gejagte oder völlig vernichtete Kirchengemeinschaften - auch dies waren leidvolle „Errungenschaften“ des realen Sozialismus. Jene religiösen Gemeinschaften, die überlebt hatten und formell vom kommunistischen Regime zugelassen wurden, mussten sich jahrzehntelang auf eine enge, private Sphäre beschränken, falls in einem System der totalen ideologischen Kontrolle und Indoktrinierung noch überhaupt die Rede von privater Sphäre sein kann. Ganze Generationen waren im Verlauf der sowjetischen Herrschaft der Glaubensfreiheit beraubt gewesen. Dies hat zu einem Schwinden jahrhundertealter Glaubenstraditionen und einer Demoralisierung der Gesellschaft geführt.

Ein weiterer Aspekt der sowjetischen Religionspolitik war die Instrumentalisierung und Ausnutzung der legal wirkenden kirchlichen Strukturen. Eine besondere Rolle wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zugedacht, die als „Verteidiger des sozialistischen Vaterlandes“ und Sprachrohr der „sowjetischen Friedenspolitik“ in der internationalen Arena zu dienen hatte. Der erreichte modus vivendi mit dem kommunistischen Regime brachte der ROK gewisse Vorteile: Er lähmte die Versuche der Autokephalie, weitete das „kanonische Territorium“ aus, vermehrte die Zahl der Kirchen und Gläubigen auf Kosten der Liquidierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) und bestimmte die Überführung einer Reihe von orthodoxen Bistümern und Kirchen unter die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats, die früher niemals zu ihm gehört hatten. Allerdings zeigten diese „Errungenschaften“ während der Krise des Sowjetsystems in den ausgehenden 1980er Jahren die Kehrseite der Medaille. Die ROK wurde bei einem Teil ihrer Geistlichkeit und der Gläubigen diskreditiert und wurde seitens der Dissidenten und der national-demokratischen Bewegung zu einem Objekt der Kritik. Das Auftauchen der UGKK aus dem Untergrund und die Herausbildung eigener Gemeinden der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche im Jahr 1989 kündigten bereits an, dass die ROK ihre frühere Monopolstellung allmählich verlor.

Die Kirchenstrukturen in der Gegenwart

Die heutige konfessionelle Karte der Ukraine sieht folgendermaßen aus: Die Zahl derjenigen, die sich als orthodox bezeichnen, ist am höchsten - 12.400 von 23.600 der Pfarrgemeinden.1 Allerdings stellt die ukrainische Orthodoxie keinen einheitlichen Block dar, sie ist zumindest in drei größere Jurisdiktionen aufgeteilt: (a) Die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die kanonisch dem Moskauer Patriarchat untergeordnet ist mit 8.490 Pfarrgemeinden, deren vorwiegender Teil sich in der zentralen und südöstlichen Region der Ukraine befindet. (b) Die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche mit 989 Pfarrgemeinden, von denen 79 % sich in der Westukraine befinden. (c) Die Ukrainische Orthodoxe Kirche - Kiewer Patriarchat mit 2.491 Pfarrgemeinden, von denen fast ein Drittel in den zentralen Regionen der Ukraine und 12 % in ihrem südöstlichen Teil liegt. Die beiden letzten Kirchen werden zur Zeit von keiner orthodoxen Landeskirche anerkannt und als „nichtkanonisch“ betrachtet. Laut Gesetzgebung des Staates sind sie alle legal und gehören zusammen mit der griechisch-katholischen Kirche zur Kategorie der „traditionellen Kirchen“. Außerdem gibt es in der Ukraine Gemeinschaften der „Altgläubigen“ (66 Gemeinden) und einige andere unabhängige orthodoxe Kirchen und Gemeinden.

Die Katholiken in der Ukraine sind ebenfalls uneinheitlich, ihre Unterschiede beruhen indes auf einer anderen kirchlich-historischen Grundlage. Die Katholiken des östlichen Ritus – die so genannten „Unierten“2 – sind die Erben der Union von Brest (1596). Sie gehören zur Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK), die das stalinistische Regime nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert und zwangsweise mit der ROK „vereint“ hatte. Ungeachtet des offiziellen Verbots und der grausamen Verfolgung hat die UGKK ihre hierarchischen Strukturen im Untergrund und in der Diaspora bewahrt und im Dezember 1989 ihre offizielle Legalisierung errungen. Im Frühjahr 1991 kehrte ihr damaliges Oberhaupt, Myroslaw Iwan Kardinal Lubatschiwskyj, aus der Emigration auf seinen Metropolitansitz in Lwiw (Lemberg) zurück. Heute ist die UGKK die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft in der Ukraine. Sie weist 7 Diözesen (in der Westukraine) und ein Exarchat (für die Zentral- und Ostukraine) auf, ferner 14 Bischöfe, 78 Klöster, 1.188 Mönche und Nonnen, 1.976 Geistliche (von denen 53 Bürger anderer Staaten sind), 3.240 Pfarrgemeinden, 2.721 Gotteshäuser (306 befinden sich im Bau), die Zahl der Gläubigen beläuft sich auf etwa 4,5 - 5 Millionen. Seit Januar 2001 steht Lubomyr Kardinal Husar als Großerzbischof von Lwiw der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche vor.

Neben den „Unierten“ gibt es die lateinischen Gläubigen (ukr. „latynnyky“), die zur römisch-katholischen Kirche in der Ukraine gehören. Ihre hierarchischen Strukturen waren in der Vergangenheit in jenen ukrainischen Gebieten verbreitet, die einst zu den benachbarten katholischen Staaten gehört hatten. Nach der Angliederung dieser Gebiete an die Sowjetunion hat die Sowjetregierung das Diözesannetz der römisch-katholischen Gläubigen liquidiert, wobei sie einen erheblichen Teil des Klerus und der Gläubigen deportiert und verfolgt hat. Es waren nur etwa knapp 100 Pfarrgemeinden übrig geblieben, die einer strengen Staatskontrolle unterworfen wurden. Heute weist die römisch-katholische Kirche in der Ukraine vier Diözesen und eine Apostolische Administratur (in Transkarpatien) auf, 9 Bischöfe, 38 Klöster, 262 Mönche und Nonnen, 408 Geistliche (davon 278 mit fremder Staatangehörigkeit), 674 Kirchen (65 befinden sich im Bau), 772 Pfarrgemeinden, von denen sich die meisten in den Gebieten Winnycja, Chmelnyzkyj und Zhitomir befinden. Die Zahl der Gläubigen wird sehr verschieden mit 200.000 bis 800.000 angegeben.

Beide katholischen Kirchen besitzen den Status sui juris, sind voll und ganz mit dem römischen Apostolischen Stuhl verbunden, haben jedoch eine eigene hierarchische Struktur, eigenes liturgisches Leben, kulturhistorische Eigenheiten u.a.m. Im Jahr 1996 wurde in Lwiw die erste (und vorläufig auch die einzige) Gemeinde der Armenischen Katholischen Kirche erneuert, die hier vor dem Zweiten Weltkrieg einen Erzbischofssitz besaß.

Im religiösen Spektrum der Ukraine nehmen die protestantischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften keinen geringen Platz ein (5.952 Gemeinden, also 26,1 % der Gesamtzahl) sowie andere religiöse Gemeinden, vor allem auch nichttraditionelle und neuere religiöse Gruppen (48 Denominationen, 1.083 Gemeinden). Die Zahlen dieser Gemeinden sowie ihrer Gläubigen nehmen dynamisch zu.

Die Identität

Das Problem der Identität berührt, so paradox es klingen mag, am allerschärfsten jene Kirchen, die nach offizieller Terminologie als „traditionell“ bezeichnet werden, d.h. die griechisch-katholischen, römisch-katholischen und orthodoxen Gläubigen. Dieses Problem hat drei grundlegende, miteinander verknüpfte und voneinander abhängige Dimensionen: eine staatliche, eine nationale und eine ekklesiale. Dabei werden die Schwierigkeiten mit der kirchlichen Identität (obwohl sie eigener Natur sind) meines Erachtens auch dadurch bestimmt, dass es keine langandauernde Tradition selbstständiger staatlicher Existenz gibt. Hinzu kommen die nicht abgeschlossenen Prozesse der NationbiIdung, kulturhistorische und regionale Unterschiede, eine schwache Entfaltung der bürgerlichen Institutionen, die Rechtsunsicherheit, die geistige Leere, Demoralisierung und andere „Ergebnisse“ der totalitären Vergangenheit. Im orthodoxen Milieu sind diese Schwierigkeiten der Selbstidentifizierung am stärksten spürbar, vor allem, weil sie hier durch die Spaltung in drei sich befehdende Jurisdiktionen eine institutionalisierte Erscheinung sind. Diese innerorthodoxen Probleme sollen hier jedoch nicht näher thematisiert werden.

Die besondere Lage der römisch-katholischen Kirche in der Ukraine beruht darin, dass einst die Zugehörigkeit zum lateinischen Ritus mit der polnischen Volkszugehörigkeit (in Transkarpatien mit der ungarischen) gleichgesetzt wurde. In der sowjetischen Zeit hat die Zahl der römisch-katholischen Gläubigen aufgrund der Deportation der polnischen Bevölkerung und der Repressionen gegenüber dem Klerus sowie einer natürlichen Assimilation wesentlich abgenommen. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine sind die Gläubigen der römisch-katholischen Kirche ukrainische Staatsbürger aus zumeist gemischten Familien, sie sprechen entweder ukrainisch oder russisch. Gleichzeitig ist ein bedeutender Teil der Geistlichkeit polnischer Herkunft oder gar Staatsbürger Polens. lm Zusammenhang damit stehen vor der Hierarchie der römisch-katholischen Kirche in der Ukraine zwei Alternativen: eine Polonisierung (bzw. in seltenen Fällen eine Repolonisierung) oder eine „Ukrainisierung“ (d.h. eine Inkulturierung) ihrer Kirche. Während der erste Weg (Polonisierung durch Latinisierung) aus der Geschichte bekannt ist (bekannt sind auch seine tragischen Folgen), bedarf der zweite eines intuitiven Suchens, wobei bislang jegliche theoretische Sinngebung fehlt.

Es könnte scheinen, dass die Gläubigen der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche das größte Problem mit ihrer Identität haben müssten. Weil noch vor 15 Jahren diese Kirche offiziell in der Sowjetunion nicht „existierte“, ist sie für viele selbst heute noch ein „Irrtum der Geschichte“, ein „misslungener Versuch“ oder das Haupthindernis auf dem Weg zu einem „Sieg des Ökumenismus“. Das heißt, problematisch sowohl in ihrer äußeren Akzeptanz als auch in der inneren Selbstidentifizierung ist ihr ekklesialer Charakter. Die Unionskonzeption als Zwischenstufe des Übergangs zum „würdevolleren und erhabeneren“ lateinischen Ritus oder als Modell für eine päpstliche Jurisdiktion „des unvereinigten Ostens“ hat die Prüfung der Zeit nicht bestanden und wird sowohl von Katholiken wie Orthodoxen, ja selbst von den „Unierten“ (zumindest auf offizieller Ebene) abgelehnt. Obwohl die UGKK ständiger Verfolgung, Verboten und „Zwangsvereinigungen“ ausgesetzt war, hat sie die wesentlichen Züge ihrer Identität, das Ethos des östlichen Christentums, die jurisdiktionelle Einheit mit dem Apostolischen Stuhl und die eucharistische Einheit mit den römischen Katholiken bewahrt.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die griechisch-katholische Geistlichkeit Galiziens eng mit der ukrainischen nationalen Bewegung und dem Streben nach ukrainischer Staatlichkeit verbunden gewesen, was zu komplizierten Beziehungen mit den römisch-katholischen Gläubigen geführt hatte und ein Grund für Repressionen seitens der sowjetischen Machtorgane war. Das Ringen der ukrainischen Katholiken um die Legalisierung gehörte in den ausgehenden 1980er Jahren zum Widerstand gegen das totalitäre Regime. Sie nahmen aktiv an den Demokratisierungsprozessen und der nationalen Wiedergeburt teil. Daher haben die Geistlichkeit und die Gläubigen keine Schwierigkeit sich mit dem Nationalstaat zu identifizieren. Die UGKK erfreut sich einer hohen moralischen Autorität, zumal sie das Untergrunddasein überstanden hat und somit ihren Teil zum Zusammenbruch des Regimes beitragen konnte. Unter den heutigen Umständen jedoch untergräbt die Überbetonung der nationalpolitischen Angelegenheiten seitens eines Teils der Geistlichkeit und der Laien den schwer errungenen Vertrauenskredit. Dies äußert sich nicht nur in Konflikten mit den Orthodoxen und Unstimmigkeiten mit den römisch-katholischen Gläubigen, sondern auch in den komplizierten Beziehungen zwischen den griechisch-katholischen Gemeinden in Galizien und in der Karpato-Ukraine.

Es gibt auch recht ernsthafte Unvereinbarkeiten in Bezug auf die Auslegung der östlichen Tradition und der katholischen Zugehörigkeit, zwischen der Universalität und dem Selbstverständnis einer Teilkirche, zwischen dem national-politischen Engagement und dem geistlichen Dienst an der Gesellschaft, der Loyalität gegenüber dem Staat und der Abhängigkeit von „Führungszentren im Ausland“ (wie die offizielle postsowjetische Terminologie lautet) sowie in Bezug auf die Perspektiven einer christlichen Versöhnung und dem ökumenischen Dialog in der Ukraine und in der Welt. Es gibt auch innerhalb der UGKK ungelöste Fragen, die sich nicht nur in der liturgisch-rituellen Polemik und der Teilung des Klerus und der Herde in „Anhänger der östlichen Tradition“ und „Westler“ oder in vormalige „Untergrundpfarrer“ und Diasporavertreter zeigen, sondern auch in Meinungsverschiedenheiten über die Beibehaltung der heutigen oder die Einführung einer neuen Bezeichnung für die UGKK (die Vorschläge reichen von „Kiewer Katholische Kirche“ und „Ukrainische Orthodox-Katholische Kirche“ bis hin zu „Ukrainische Katholische Kirche“).

Die Konflikte

Die Schwierigkeiten der „traditionellen“ Konfessionen in der Ukraine mit ihrer eigenen Identität sind unseres Erachtens die Hauptursache für die Spannungen und Konflikte in den zwischenkirchlichen Beziehungen. Das Fehlen einer positiven Antwort auf die Frage „Wer sind wir?“ führt dazu, dass man versucht die eigene Identität zu definieren, indem man sich von den anderen mittels der Formel „Wir sind nicht die“ absetzt.

Wenn von zwischenkonfessionellen Konflikten in der Ukraine die Rede ist, dann kann man eigentlich nur von einem Konflikt, dem orthodox-katholischen reden. Dieser zeigt sich vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der griechisch-katholischen Kirche. Das Moskauer Patriarchat betrachtet die Legalisierung der UGKK als „Aggression des Vatikans“ und eine Folge des „Proselytismus“ auf ihrem „kanonischen Territorium“, ohne in Betracht zu ziehen, dass die Pfarrgemeinden des östlichen Ritus in Galizien und in Transkarpatien niemals zur Moskauer Jurisdiktion gehört hatten und in die ROK erst infolge der brutalen und „nichtkanonischen“ Liquidierung der Union durch das stalinistische Regime geraten sind. Ähnlich verhält es sich mit den Klagen des Moskauer Patriarchats über die „Stürmung“ (in der letzten Zeit ist sogar die Rede von der „Profanierung“) der „orthodoxen“ Kirchen in der Westukraine. Dabei belegt die Statistik, dass die meisten Konflikte, die sich auf Kirchen beziehen, sich zwischen den griechisch-katholischen und autokephalen Christen oder zwischen den verschiedenen orthodoxen Gemeinden abspielen. Die Schärfe dieses Problems ist übrigens dabei abzunehmen, insofern neue Kirchenbauten errichtet werden oder es zu einer Vereinbarung zwischen den verschiedenen Gemeinden kommt, in welcher Reihenfolge die Kirchen genutzt werden können.

Derzeit bergen die Streitigkeiten innerhalb einzelner Konfessionen viel mehr die Gefahr von Konflikten in sich als diejenigen zwischen den Konfessionen. Im orthodoxen Milieu ist es der Konflikt zwischen der „kanonischen“ Ukrainischen Orthodoxen Kirche und den Kirchen, deren kanonischer Status ungeklärt ist. Faktisch geht es um die Gegnerschaft zwischen der „ukrainischen“ und der „nicht ukrainischen“ Identität. Letztere muss nicht unbedingt eine „anti-ukrainische“ sein (Soziologen haben in der heutigen Ukraine Orthodoxe mit „sowjetischem“ Selbstbewusstsein und sogar „orthodoxe Atheisten“ festgestellt). Auf der ekklesialen Ebene hat dieser Konflikt den Charakter des ewigen „Väter-Kinder“ Konfliktes, wobei im gegebenen Fall der Streit darum geht, ob die Moskauer Kirche gegenüber Kiew als Mutterkirche betrachtet werden kann oder gerade umgekehrt, und welcher „Verwandtschaftsgrad“ sie mit der Kirche Konstantinopels verbindet.

Der innere Konflikt im katholischen Milieu weist demgegenüber keine scharfen und dramatischen Merkmale auf, er hat vielmehr den Charakter einer „strategischen Konkurrenz“ zweier Landeskirchen mit verschiedenen Ritustraditionen. Doch diese Gegnerschaft hat bereits eine „Tradition“ von etlichen Jahrhunderten, sie beinhaltet die ganze Last der ukrainisch-polnischen historischen Auseinandersetzungen. Dabei möchten wir betonen, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen, die Kontakte zwischen den Menschen beider Völker noch nie in der Vergangenheit so lebendig und freundschaftlich gewesen sind. Im Gegensatz dazu haben sich die kirchlichen Beziehungen abgekühlt, ja es ist sogar zu direkten Konflikten gekommen, wie beispielsweise der um die griechisch-katholische Kathedralkirche in Przemyśl. Ein weiterer schmerzhafter Punkt sind Rückfälle in die einstige „praestantia ritus latini“ (zumindest werden sie von griechisch-katholischen Gläubigen so aufgefasst), wie beispielsweise das Hinauszögern einer Anerkennung des Patriarchalstatus durch den Vatikan, die Behinderung der Verbreitung jurisdiktioneller Strukturen der UGKK in den östlichen Gebieten der Ukraine, die Einschränkung der seelsorgerischen Arbeit verheirateter Priester in der Diaspora u.a.m. Eine Quelle der Verdächtigungen und des Misstrauens ist die bessere materielle und finanzielle Ausstattung des lateinischen Klerus sowie die Einschränkung der konkreten Zusammenarbeit.

Somit verläuft die globale Linie der religiösen Konflikte in der Ukraine nicht so sehr auf einer konfessionellen oder gar jurisdiktionellen Linie, sondern viel eher auf der Gegnerschaft zwischen denjenigen, die die historischen, ekklesialen, kulturellen, nationalen und anderen Eigenheiten des ukrainischen Christentums betonen, und den Kräften, die mit „universalistischen“ Kategorien operieren und sich auf verschiedene Autoritäten außerhalb der Ukraine berufen.

Perspektiven

Obwohl wir zumeist von Konflikten hören, gibt es überzeugende Hinweise, die eine zunehmende Minderung der Spannungen bezeugen und Chancen für eine Besserung der Beziehungen anzeigen. Sie werden sowohl von der demokratischen Staatsordnung der Ukraine (ungeachtet aller posttotalitären Aspekte) und dem friedlichen Zusammenleben verschiedener Nationen (abgesehen von einer zuweilen aggressiven Rhetorik und „Alltagsxenophobie“) als auch durch die zunehmende Festigung der geistigen Mission aller christlichen Kirchen in der ukrainischen Gesellschaft gefördert.

Bedauerlicherweise kann man nicht behaupten, dass diese Milderung der Lage das Resultat einer bewussten und zielstrebigen Aktivität der Kirchen ist. Der erreichte Kompromiss ist vorläufig nicht so sehr das Ergebnis der Handlung eines christlichen Imperativs der Liebe, als vielmehr die Folge gegenseitigen Nachgebens und der Interessenvereinbarungen einzelner Kirchen unter dem Druck äußerer Umstände. Der Staat ist an der inneren Stabilität der Gesellschaft interessiert. Die ukrainische Gesellschaft, die zumeist an den Problemen des physischen Überlebens schwer zu tragen hat, ist der anhaltenden inneren Gegnerschaft müde geworden. Die christliche Weltgemeinschaft, der die religiösen Unverträglichkeiten in der Ukraine Sorge bereiten, möchte die ukrainischen Kirchen an den internationalen ökumenischen Prozessen teilnehmen lassen.

Die bestehende Parität ist nicht so sehr ein Gleichgewicht der Kräfte, als vielmehr eine Parität der gemeinsamen Schwächen der Kirchen. Die gleichzeitige Lebensgier neben dem Verlangen nach geistigen Idealen, die globale Säkularisierung und das aggressive „Missionieren“ neuzeitlicher Sekten stürmen von allen Seiten auf die Menschen ein. Deshalb verlangt der heutige Tag sich all dieser und anderer Herausforderungen bewusst zu werden, bereit zu sein eine christliche Antwort darauf zu geben, sich der eigenen kirchlichen Identität bewusst zu werden und eine gemeinsame christliche Haltung zu finden. Dies ist nicht nur eine ferne Perspektive, sondern eine Pflicht des heutigen Tages. Das ist der Weg, den das Christentum in der Ukraine gehen muss, falls es eine Zukunft haben will.

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Anna-Halja Horbatsch.


Fußnoten:


  1. Hier und im Weiteren führen wir die statistischen Daten des Staatskomitees für Religionsangelegenheiten vom 1. Januar 2000 an. ↩︎

  2. Die Bezeichnung „Unierter“ hat für die heutigen Gläubigen der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine einen negativen Klang, etwa ähnlich wie „papistisch“ für die gesamte katholische Kirche. Die jahrzehntelange sowjetische Indoktrinierung und Propaganda hat diesem Begriff eine verunglimpfende semantische Nuance beigegeben. ↩︎