Rivalität, Versöhnung, Kooperation?
Zusammenfassung
In den seit jeher schwierigen polnisch-russischen Beziehungen haben in den letzten Jahren neue Akzente die Oberhand gewonnen. Polen und Russland scheinen sich auf den Weg der Annäherung begeben zu haben. Konfliktfelder lassen sich in der Haltung Russlands zu Polen als Mitglied von EU und NATO ausmachen, außerdem in den Bereichen Energie- und Sicherheitspolitik. Auch die Aufarbeitung der tragischen gemeinsamen Geschichte des 20. Jahrhunderts bereitet noch immer Probleme.
Die polnisch-russischen Beziehungen waren nach 1989 bzw. 1991 über weite Strecken gleichsam der Prototyp eines fragilen und spannungsvollen bilateralen Verhältnisses in Europa. Dies kam wenig überraschend, haben doch beide Länder einen enormen historischen Ballast in ihrem Erfahrungsschatz. Zusammen mit einer Vielzahl realer Altlasten und mannigfacher neuer Konfliktlagen ergab sich so eine strukturelle Misstrauenskrise zwischen beiden Ländern: Für Polen stellte Russland weiterhin einen Risikofaktor, ja eine Bedrohung dar, Russland wiederum sah in Polen einen destruktiven Vetoakteur, der russischen Interessen immer wieder in die Quere kam und die Beziehungen zu Europa und „dem Westen“ generell verkomplizierte. Seit einiger Zeit scheinen Polen und Russland sich jedoch auf den Weg der Annäherung begeben zu haben und einen Prozess der Aussöhnung und pragmatischen Zusammenarbeit einzuleiten. Die Besuchsdiplomatie zwischen beiden Ländern intensiviert sich. Bilaterale Konsultationsgremien zwischen Regierungen, aber auch Regionen und Wirtschaftssubjekten werden neu gegründet oder fangen nach teils langen Pausen wieder an zu funktioneren. Im Mai 2010 kam es erstmals zu einer gemeinsamen Sitzung der Außenausschüsse des polnischen und des russischen Parlaments. Der Flugzeugabsturz von Smolensk am 10. April 2010 verlieh diesem Neubeginn zunächst einen zusätzlichen Schub, verband er doch Polen und Russen in gemeinsamer Trauer. Doch schon zuvor waren wichtige Zeichen gesetzt worden. Die polnische Regierung hatte eine neue Flexibilität angekündigt und erklärt, man werde, ohne Vorbedingungen zu stellen, mit „Russland, wie dies eben sei“ zusammenarbeiten (so Premierminister Tusk in seiner Regierungserklärung von Ende 2007). Russlands Führung wiederum verstand, dass ohne eine schonungslose Aufarbeitung der eigenen Fehler und ohne klare Worte zu offenen Fragen der gemeinsamen Vergangenheit kein Fortschritt zu erzielen sein würde.
Polen und Russland nach 1989: Krisen, Streit und Aversion
Polen hatte nach dem Systemwechsel von 1989 mit großer Hoffnung auf das neue Russland geblickt, das im Zerfallsprozess der Sowjetunion entstand. Gerade in der antikommunistischen Bewegung, die nun in Polen regierte, gab es Stimmen, die mit dem Ende der bipolaren Weltordnung und dem Auseinanderbrechen des Moskauer Imperiums eine Chance für ein neues, gar demokratisches Russland sahen. Doch schnell wurde klar, dass das neue Russland sich weder auf eine Schnellstraße in Richtung liberaler Demokratie begeben noch zu einem flexiblen und anpassungswilligen Partner des Westens werden würde. Während man allein schon die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten Russlands in Polen mit großer Sorge wahrnahm, war insbesondere Russlands Ablehnung einer Osterweiterung der NATO ein handfestes Problem für Warschau, da hier ein Kernziel polnischer Außenpolitik auf Russlands Widerstand stieß. Mit der Putin-Ära und Russlands innenpolitischer Zentralisierung sowie seinem außenpolitischen Wiedererstarken nahmen die Differenzen zwischen beiden Ländern weiter zu. Die Mitgliedschaft Polens in NATO und EU führte zunächst nicht zu der vielfach erwarteten Entspannung der bilateralen Beziehungen. Polen war bemüht, gerade durch seine Mitgliedschaft in der EU die Aufmerksamkeit und das Handeln seiner Partner für eigene russland- und ostpolitische Ziele zu gewinnen. Für Moskau war der Nachbar daher ein Störfaktor, der die Politik der EU gegenüber Russland stringenter und konsequenter ausformen wollte und den es daher zu umgehen oder zu isolieren galt. Zwei Schlüsselsituationen stehen dabei exemplarisch für die Konflikte zwischen beiden Ländern. Erinnert sei an das Engagement des polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski während der „Orangenen Revolution“ Ende 2004 in der Ukraine. Als Vermittler zwischen den beiden verfeindeten Lagern in Kiew verhalf das polnische Staatsoberhaupt letztlich der prowestlichen Demokratiebewegung zum Sieg – ein Erfolg, der gleichzeitig einen zumindest temporären Rückschlag für Russlands Bestrebungen zur Sicherung seines Einflusses in der Ukraine markierte. Ein weiteres Aufeinanderprallen ergab sich, nachdem Russland ein Importverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Polen verhängt hatte. Warschau reagierte Ende 2006 hierauf, indem es ein Verhandlungsmandat der EU für ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland blockierte – und damit den bilateralen Streit mit Russland „europäisierte“.
Die großen Konfliktfelder
Vier große Konfliktfelder haben das polnisch-russische Verhältnis nach 1989 geprägt und seine Krisenanfälligkeit hervorgerufen. Eine erste Quelle von Spannungen rührte daher, dass Polen an einer stark geopolitisch motivierten „Verwestlichung“ von Ländern wie der Ukraine oder Georgien interessiert war. Die zumindest langfristig angestrebte Einbindung dieser Länder in EU und NATO sollte von Russland ausgehende neoexpansive Tendenzen eindämmen. Ein zweites Konfliktthema bildeten und bilden energiepolitische Differenzen. Obwohl sich Polens energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland in Grenzen hält (die großen polnischen Energiekonzerne werden nicht von russischen Unternehmen kontrolliert; auch basiert Polens Strom- und Wärmeerzeugung noch fast ausschließlich auf heimischer Kohle), besteht ein ausgeprägtes Gefühl der energiewirtschaftlichen Verwundbarkeit durch den großen Nachbarn im Osten. Diese Befürchtung resultiert vor allem aus realen Abhängigkeiten bei der Gasversorgung, da rund zwei Drittel des gesamten Bedarfs und mehr als 90 Prozent der eingeführten Erdgasmenge aus Russland stammen. Überdies kann Polen noch nicht wirklich auf Alternativen zugreifen, da die Pipelineinfrastruktur auf den Import von Gas aus dem Osten ausgerichtet ist. Polens Lage mildert sich allerdings dadurch etwas ab, dass es als Transitland für die Verbringung russischer Energieträger nach Westeuropa fungiert. Drittens haben abweichende Ziele in der Sicherheitspolitik immer wieder zu Reibungen geführt. Polens Streben in die NATO war in den neunziger Jahren das übergeordnete sicherheitspolitische Konfliktthema in den Beziehungen zwischen beiden Ländern. Russland sah in der Osterweiterung der Allianz eine Bedrohung und bemühte sich, eine derartige Neuordnung der strategischen Landschaft in Europa zu verhindern. In Polen ging man davon aus, dass die Aufnahme des Landes in die NATO zu einer Entspannung im Verhältnis zu Russland führen würde. Doch ein solcher Effekt stellte sich keineswegs ein, im Gegenteil. Das Thema NATO-Erweiterung blieb weiterhin ein Zankapfel nicht nur zwischen der Allianz und Russland, sondern auch zwischen Polen und Russland. Denn Polen erwies sich als eine der Triebkräfte für die Aufnahme weiterer Länder – auch aus dem nachsowjetischen Raum. Friktionen ergaben sich nicht zuletzt daraus, dass Polen trotz seiner Mitgliedschaft in der NATO weiterhin beachtliche Sicherheitsdefizite sah. Angesichts offen formulierter Zweifel an der Effizienz der NATO arbeitete man deswegen daran, eine sicherheits- und verteidigungspolitische Sonderbeziehung zu den USA aufzubauen. Wichtigstes Ziel war dabei die geplante Installation von Elementen eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen – eines Projekts, das von Russland scharf kritisiert wurde, da es angeblich zur Störung des strategischen Gleichgewichts in Europa führe. Auch nachdem die Obama-Administration am 17. September 2009 die Aufgabe der bisherigen Pläne zur Raketenabwehr bekanntgegeben hatte, pochte man in Polen auf die Umsetzung all derjenigen Projekte, die im Abkommen vom Sommer 2008 mit den USA vereinbart worden waren. Dazu gehört etwa die Abhaltung eines hochrangig besetzten sicherheitspolitischen Dialogs zwischen beiden Ländern oder die Stationierung einer Patriot-Raketenbatterie auf polnischem Gebiet. Schließlich hat die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihre abweichende Interpretation die polnisch-russischen Beziehungen nach 1989/1991 immer wieder negativ beeinflusst. Wann bekennt sich Russland zu seiner Verantwortung für und zur Beteiligung an der vierten polnischen Teilung im September 1939? Wann findet Moskau angemessene Worte zu den Massakern in Katyn, bei Charkow und Mednoje, wo im Frühjahr 1940 tausende polnischer Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden? Wie stellt sich Russland zum Verhalten der Roten Armee während der Niederschlagung des Warschauer Aufstands im August 1944? Wie sieht Russland die Jalta-Ordnung – als System, das Stabilität und Frieden in Europa verbürgte, oder als repressiven Rahmen, der Ländern in Ostmittel- und Osteuropa Freiheit und Souveränität nahm? Häufig führten die großen historischen Fragen zu manifesten Zerwürfnissen im gegenseitigen Verhältnis. Polen sah eine russische Dialogverweigerung und prangerte angeblich mangelnde Kooperationsbereitschaft an. Russland wiederum wies auf vermeintliche „Leichen im Keller“ im polnischen Vergangenheitsdiskurs hin, etwa auf das Schicksal russischer Kriegsgefangener, die im „polnisch-bolschewistischen“ Krieg zwischen 1919 und 1921 in polnischen Lagern zumeist aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen ums Leben gekommen waren. Auch wurde bemängelt, dass Polen den Beitrag der Sowjetunion und der Roten Armee bei der Niederwerfung Hitler-Deutschlands nicht ausreichend würdige. Gerade um Jahrestage herum kam es daher oftmals zu Streitigkeiten.
Günstige Rahmenbedingungen und neue außenpolitische Ziele
Die neue Atmosphäre zwischen Polen und Russland fußt einerseits auf veränderten außenpolitischen Zielhierarchien in Warschau und Moskau. In Polen spielt hierbei die durch den Regierungswechsel von 2007 eingeleitete außen- und europapolitische Neuausrichtung eine entscheidende Rolle. Die Regierung Tusk wollte sich durch eine pragmatische Russlandpolitik des Images eines „russophoben“ Troublemakers entledigen und damit der europapolitischen Marginalisierung entkommen, in die sich das Land in der Ära der Kaczyński-Regierungsmehrheiten manövriert hatte. Gleichzeitig nahm die Regierung Tusk eine Neueinschätzung der polnischen Ostpolitik vor. Anders als der von beinahe allen polnischen Regierungen seit den frühen neunziger Jahren praktizierte Ukraine-first-Ansatz, der die geostrategische Verwestlichung der Länder zwischen EU/NATO und Russland priorisierte, verfolgt Polen nun einen ausbalancierten Kurs, der die Vertiefung der Kooperation mit den Ländern Osteuropas und des Südkaukasus mit einer Vitalisierung der Beziehungen zu Russland vereinbaren will. Dieser Gedanke ist in Polen nicht unumstritten, sehen doch Kritiker in dieser Abkehr von einer „jagiellonischen“, also dem Erbe der multinationalen polnischen Adelsrepublik verpflichteten Ostpolitik eine gefährliche Vernachlässigung der Ukraine und anderer direkter Nachbarn zugunsten eines Neustarts mit Russland. Vertreter des Regierungslagers weisen diesen Vorwurf zurück. Außenminister Sikorski erklärte, Polen werde auch künftig die Zusammenarbeit mit der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten weiterentwickeln, dies solle jedoch parallel verlaufen zum Aufbau einer neuen, dem Geist der Versöhnung folgenden Partnerschaft mit Moskau. Russland wiederum ist offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass seine traditionelle Strategie, die auf die Isolierung Warschaus in der EU abzielte, nicht mehr greift. Schon das Veto der Regierung Kaczyński war hier eine Wegmarke, denn Deutschland, das im ersten Halbjahr 2007, also unmittelbar nach der Lahmlegung der EU-Russland-Beziehungen, den EU-Ratsvorsitz ausübte, solidarisierte sich mit Polen. Generell ist ein steigendes Interesse Russlands an einer engeren Kooperation mit der EU zu beobachten. Nicht zuletzt die internationale Finanzkrise, von der Russland stark getroffen wurde, und die von der russischen Führung ausgegebenen Modernisierungspläne haben die Attraktivität der EU wieder erhöht. Zu diesen veränderten Einschätzungen und Zielsystemen traten gewandelte Rahmenbedingungen der internationalen Politik. Zuvorderst ist hierbei der „frische Wind“ in den amerikanisch-russischen Beziehungen zu nennen. Die Obama-Administration ist von einer offensiven Freiheitsagenda im nachsowjetischen Raum abgerückt und sieht in Russland einen vorrangigen Partner bei der Lösung wichtiger Probleme der internationalen Politik. Dementsprechend hat man Projekte aufgegeben, die in der Vergangenheit auch Zündstoff für die polnisch-russischen Beziehungen boten, etwa die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens oder die Raketenabwehr in ihrer ursprünglich geplanten Variante. Überdies hat sich Polens Verhältnis zur Ukraine in den letzten Jahren verändert. Die Enttäuschung über die ukrainischen Eliten – sowohl aus dem „orangenen“, prowestlichen, als auch dem „blauen“, russlandfreundlichen Lager – reifte in Polen zu einer veritablen Ukraine-Ermüdung.
Aufarbeitung, Dialog, Versöhnung
Vor diesem Hintergrund hat sich zwischen Polen und Russland in den vergangenen zwei bis drei Jahren eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Atmosphäre des Dialogs und der Konfliktvermeidung ergeben. Am beeindruckendsten ist sicherlich der polnisch-russische Austausch zu historischen Fragen. Für die polnische Öffentlichkeit waren hierbei die Symbolakte und Botschaften, die von der russischen Führung ausgingen, von erstrangiger Bedeutung. Dass Russlands Regierungschef Putin am Vorabend seines Besuchs auf der Westerplatte bei Danzig im September 2009 in einem offenen „Brief an die Polen“ den Ribbentrop-Molotow-Pakt verurteilte und als unmoralisch bezeichnete und dass er in diesem Zusammenhang in seiner Rede die deutsch-sowjetische Vereinbarung als „Fehler seines Landes“ anerkannte, wurde in Polen zumeist mit großer Wertschätzung aufgenommen – Stimmen etwa aus dem Präsidenten- bzw. Oppositionslager, denen die russische Selbstkritik nicht weit genug ging, blieben in der Minderheit. Ein ähnlicher Leuchtturm der Versöhnung sollte die am 7. April 2010 in Katyn abgehaltene gemeinsame Gedenkveranstaltung Putins mit seinem polnischen Gegenüber Tusk werden. Beide Seiten waren sich bewusst, dass ohne eine klare, auf der historischen Wahrheit basierende russische Positionierung zum Massaker von Katyn kein nachhaltiger Aussöhnungsprozess initiiert werden konnte. Genau dieses hatte auch der Sejm, die erste Kammer des polnischen Parlaments, in einem Ende September 2009 gefassten Beschluss zum Angriff sowjetischer Truppen auf Polen am 17. September 1939 gefordert. Die gemeinsame Zeremonie der beiden Ministerpräsidenten 70 Jahre nach den von Stalin angeordneten Morden war daher an sich bereits ein immenser Erfolg. Unmittelbar danach schloss sich die Tragödie von Smolensk an – und mit ihr eine seit Generationen nicht mehr da gewesene emotionale Gemeinsamkeit von Polen und Russen. Die spontane Umarmung Donald Tusks durch Wladimir Putin an der Unglücksstätte oder die zahlreichen Beileidsbekundungen russischer Bürger zeigten in Polen erstmals ein mitfühlendes, menschliches Antlitz nicht nur der russischen Gesellschaft, sondern auch der russischen Führung. Gerade „Katyn“ zeigt aber auch, wie fragil der neue Annäherungsprozess ist. Vielfach wird in Polen moniert, dass Moskau nicht gänzlich kooperativ sei. Die Federacja Rodzin Katyńskich, ein Verband von Angehörigen der in Katyn Ermordeten, geht vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg gegen die russische Regierung vor, da sie vollständigen Zugang zu allen im Zusammenhang mit dem Verbrechen stehenden Ermittlungsunterlagen sowie die Rehabilitierung der Opfer verlangt. Obwohl Polens Präsident Bronisław Komorowski im Sommer 2010 67 Aktenbände erhielt und weitere 20 Bände im Herbst folgten, lehnte Moskau im November 2010 die vollumfängliche Transparenz etwa bei der Aufhellung des Schicksals aller Ermordeten ab. Gegenüber Straßburg wird u. a. argumentiert, dass es sich bei Katyn nur um „gewöhnliche Verbrechen“ gehandelt habe, die schon verjährt seien. Es sind wohl derlei Stockungen, auf die die beiden Kovorsitzenden der mit einer gemeinsamen Aufarbeitung der schwierigen historischen Überhänge befassten polnisch-russischen „Gruppe für schwierige Angelegenheiten“, Adam Rotfeld und Anatolij Torkunow, hinweisen, wenn sie bei der Anerkennung des Erreichten vom „Konservatismus und der Trägheit von Teilen der Administration“ oder von „tief verwurzelten Stereotypen in beiden Gesellschaften“ schreiben.
Von der Verständigung zur Kooperation
Die politisch Verantwortlichen in Polen sind sich dessen bewusst, dass die polnisch-russische Annäherung ein zartes Pflänzchen ist. Nicht zuletzt das Fehlen eines innerpolnischen Konsenses stellt ein besonderes Risiko dar. Die jetzige Opposition um Jarosław Kaczyński, den Zwillingsbruder des am 10. April 2010 umgekommenen Staatspräsidenten, fordert eine härtere Gangart gegenüber Russland und hat die Katastrophe von Smolensk bzw. die Aufklärung der Unglücksursachen zu einer Priorität in ihrer Auseinandersetzung mit dem im Sommer gewählten neuen Staatsoberhaupt Komorowski und Regierungschef Tusk gemacht. Die auch von der Regierungsseite als schleppend beschriebene Zusammenarbeit mit den russischen Ermittlungsbehörden kann rasch zu einem Hemmschuh für das polnisch-russische Miteinander werden. Ebenso kann der Dialog zu historischen Fragen leicht wieder abrutschen, beispielsweise wenn das konstruktive politische Gespräch zu Themen wie Katyn eine stärkere rechtliche Komponente bekommt. Polens Regierung will daher die neue Qualität in den Beziehungen zu Russland festigen, indem die gegenseitigen Verflechtungen auch in Bereichen jenseits des Verständigungsprozesses ausgebaut werden. Vorrang haben hierbei offensichtlich die Wirtschaftskontakte. Polen möchte sein Handelsbilanzdefizit durch den Ausbau seiner Exporte nach Russland reduzieren. Insbesondere möchten beide Seiten die Kooperation im Energiesektor vertiefen. Im Herbst 2010 haben beide Seiten nach langem Ringen einen neuen Vertrag über die Ausweitung von Gaslieferungen nach Polen geschlossen. Ein weiteres Kooperationsfeld stellt das Kaliningrader Gebiet dar. Warschau und Moskau haben vorgeschlagen, die Zusammenarbeit der russischen Enklave mit benachbarten Gebieten durch ein großzügiges Modell des kleinen Grenzverkehrs zu erleichtern, der sich auf die gesamte Region Kaliningrad beziehen würde. Ebenso wichtig wie der bilaterale Aspekt ist jedoch der europa- und sicherheitspolitische Rahmen der Beziehungen Polens zu Russland. Polen hat in der EU deutlich gemacht, dass es die Idee einer europäisch-russischen Modernisierungspartnerschaft unterstützt und Liberalisierungen im Visumsregime gegenüber Russland möchte. Im Kontext der NATO ging Polens Außenminister sogar soweit, über eine hypothetische Mitgliedschaft Russlands in der Allianz nachzudenken – der natürlich entsprechende innere Reformen vorausgegangen sein müssten. Natürlich hat Polen seinen Argwohn gegenüber Russland nicht von einem Tag auf den anderen abgelegt. Nach wie vor sind von Russland ausgehende Risiken – und zwar eher neue, „weiche“ Risiken, wie etwa im Bereich der Energiesicherheit, als alte, militärische – elementarer Bestandteil der polnischen Bedrohungsanalyse. Die gegenwärtige polnisch-russische Entspannung gehört zu den erstaunlichsten, aber auch wichtigsten Entwicklungen auf dem Schachbrett bilateraler Beziehungen in Europa. Der Schwung der letzten Jahre und Monate wird sicherlich bald auf die Probe gestellt werden. Unklarheiten bei der Auslegung des neuen Gasvertrags, die Rückkehr von militärischen Fragen etwa im Zusammenhang mit der Konkretisierung der neuen Variante der Raketenabwehr, irgendwann vielleicht auch wieder Gegensätze über die strategische Ausrichtung osteuropäischer Staaten können jederzeit wieder zu Spannungen zwischen Warschau und Moskau führen. In solchen Situationen wird es wichtig sein, dass Polen das Gefühl hat, in einen effektiven euro-atlantischen Sicherheits- und Solidarverbund eingebunden zu sein. Denn wenn man in Warschau zum Schluss kommt, dass man sich bei eventuellen Auseinandersetzungen mit Russland auf die Partner verlassen kann, wird die Reaktion auf vermeintliche oder reale russische Bedrohungen gelassener ausfallen, als dies bisher oft der Fall war.