OWEP 1/2011

OWEP 1/2011

Schwerpunkt:
Polen und Russland – eine schwierige Beziehung

Editorial

Von den vielen schwierigen Nachbarschaften in Europa ist die zwischen Polen und Russen sicher die schwierigste. Historische Verwerfungen prägten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern für lange Zeit, die ja heute nicht einmal Nachbarn im eigentlichen Sinne sind, wenn man von der russischen Enklave Königsberg absieht.

Im vergangenen Jahr ist die Nachbarschaft zwischen beiden Staaten in die Schlagzeilen geraten. Die Flugzeugkatastrophe von Katyn, bei der neben dem polnischen Staatspräsidenten zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Polens umkamen, hat auf dramatische Weise gleich mehrere Aspekte des belasteten Verhältnisses vor Augen geführt. Bei aller Tragik des Unglücks hat der Umgang beider Seiten mit dem Ereignis aber auch gezeigt, dass es ein Potenzial zur Empathie auf russischer Seite gibt, die die Polen immer so schmerzlich vermisst haben, und damit einen Ansatz zur Versöhnung. In dieser Zeit wurde im russischen Fernsehen ein polnischer Film gezeigt, der das Drama von Katyn des Jahres 1941 thematisiert. Vielen Russen wurde dadurch überhaupt erst bewusst, welche Bedeutung dieser Ort für die polnischen Nachbarn hat. "Es ist schwer, Worte zu finden, um die Erschütterung zu beschreiben, die die Russen damals empfanden", so beschreibt eine russische Autorin in diesem Heft die Emotionen ihrer Landsleute.

Diese neueren Ereignisse tragen dazu bei, dass bei der Behandlung der russisch-polnischen Nachbarschaft in diesem Heft das Thema "Katyn" einen prominenten Platz einnimmt: das Massaker von 1941, der Ort des Flugzeugunglücks und der Film. Doch bieten wir Ihnen auch zahlreiche andere, oft wenig bekannte Aspekte dieser Nachbarschaftsbeziehung. Nun noch ein Hinweis in eigener Sache: Unsere Zeitschrift erscheint ab dieser Ausgabe im Verlag Friedrich Pustet, Regensburg. Für Sie als Leserinnen und Leser wird sich nichts ändern; doch können Sie bei der Lektüre einige kleinere Verbesserungen der äußeren Gestaltung feststellen.

Die Redaktion

Kurzinfo

Auch wenn es in Mittel- und Osteuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gegeben hat, lässt sich nicht leugnen, dass die Beziehungen zwischen vielen Ländern immer wieder Belastungen ausgesetzt waren und sind. Zwar haben die Bemühungen um die Einigung Europas auch im östlichen Teil Europas Früchte getragen, dennoch reißen in bestimmten Situationen, oft im Zusammenhang mit Gedenktagen, unvermittelt alte Wunden auf und kommen Ressentiments an die Oberfläche. Dies gilt selbstverständlich auch für den Westteil des Kontinents: Deutsche, Franzosen, Niederländer – die Schatten der Vergangenheit sind lang. Polen und Russland sind durch eine lange und verwickelte Geschichte miteinander verbunden. Mit dem Datum „10. April 2010“ ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. An diesem Tag kamen hochrangige polnische Politiker und Vertreter der Gesellschaft bei einem Flugzeugabsturz unweit von Smolensk ums Leben. Die Reise galt dem Gedenken an das Massaker von Katyn 1940. Die Trauer um die Opfer beider Katastrophen hat beide Völker, Polen und Russen, einander näher gebracht, jedoch haben sich auch wieder schrille Töne unter die Klagen gemischt. Das aktuelle Heft möchte ein wenig Licht in das komplizierte polnisch-russische Verhältnis bringen, um damit zum besseren Verständnis der beiden östlichen Nachbarn beizutragen.

Am Anfang steht der Schicksalsort Katyn, stellvertretend für die Ermordung von über 20.000 polnischen Offizieren im Frühjahr 1940 auf Befehl Stalins. Der Kölner Osteuropahistoriker Prof. Dr. Christoph Schmidt zeichnet die damaligen Vorgänge und die anschließende Geschichte des Verdrängens und der falschen Schuldzuweisungen bis in die Gegenwart nach. Dr. Kai-Olaf Lang, Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, geht den großen Linien des polnisch-russischen Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren nach. Neben politischen und wirtschaftlichen Fragen haben immer wieder auch sicherheitspolitische Reibungen zu Dissonanzen geführt. Auch die Haltung der führenden Politiker beider Länder spielt eine große Rolle. Ergänzende Ausführungen bietet der Beitrag des in Kiel tätigen Politikwissenschaftlers Dr. Sven C. Singhofen, der speziell die russische Polenpolitik beleuchtet. Durch die polnische Geschichte der letzten drei Jahrhunderte zieht sich das Trauma der Teilung, der gewaltsamen Zerstückelung durch die übermächtigen Nachbarn in Ost und West. Bis heute prägt dies die Einstellung vieler Polen gegenüber den Nachbarn und führt dazu, dass Deutschland und Russland in schlechtem Ruf stehen, Frankreich und auch die USA hingegen in ziemlich gutem. Der in Krakau lehrende Soziologe Prof. Dr. Janusz A. Majcherek wertet dazu Umfrageergebnisse aus den letzten zehn Jahren aus, in denen sich alte Vorbehalte zeigen, jedoch auch allmähliche Veränderungen widerspiegeln.

Dr. Irina Scherbakowa, Mitarbeiterin der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, skizziert die Ursachen für die Verbitterung vieler Polen gegenüber Russland durch einen Blick auf die sowjetische Geschichte seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren polnische Sowjetbürger Repressalien ausgesetzt, später hat dann die Leugnung der Verantwortung für Katyn das Verhältnis auf Dauer vergiftet. Die gemeinsame Trauer über die Opfer der Katastrophe vom April 2010 war, wie sie ernüchtert feststellt, nicht von Dauer und ist neuem Streit über Ursache und Verantwortung gewichen. Ebenso aus russischer Sicht äußert sich die in Moskau tätige Redakteurin Marija Rosinskaja zu Katyn und dessen Bewertung. Auf polnischer Seite vermisst sie die Aufrichtigkeit, für ein russisches Schuldeingeständnis im Gegenzug polnische Verbrechen gegenüber Sowjetbürgern, die es zweifellos gegeben hat, einzugestehen. Mit dem Beitrag von Wojciech Soczewica, Mitarbeiter von Prof. Dr. Władysław Bartoszewski in der Kanzlei des Ministerpräsidenten der Republik Polen, wendet sich das Heft wieder der polnischen Seite zu. Der Autor beschreibt die diplomatischen Wege und Irrwege der letzten Jahre und verbindet damit die Hoffnung, dass die beiderseitigen Missverständnisse zwischen Polen und Russen durch verstärkte gegenseitige Kontakte vor allem der jüngeren Generation nach und nach abgebaut werden können. „Inszenierung von Religion“, Rolle und Einfluss von Religion im öffentlichen Leben in Russland und Polen: Mit diesen Fragen beschäftigt sich Katharina Ilić, die z. Zt. in St. Gallen promoviert. Zwischen Russland und Polen gibt es in dieser Hinsicht im Blick auf die größten kirchlichen Gemeinschaften – Russische Orthodoxe Kirche und römisch-katholische Kirche – interessante Parallelen, denen nachzugehen es sich lohnt. Auf Verbindungen ganz anderer Art weist der Publizist Dr. Friedemann Kluge hin, der in einem Doppelporträt die musikalischen Beziehungen zwischen dem polnischen Komponisten Krzysztof Meyer und dem russischen Komponisten Dmitrij Schostakowitsch darstellt. Unter der Rubrik „Erfahrungen“ stehen die beiden folgenden Texte. Der ukrainische Journalist Juri Durkot schildert seine Erlebnisse im „kleinen Grenzverkehr“ zwischen Polen und der Ukraine. Dort, an der östlichen Außengrenze der EU, ist Europa immer noch geteilt; die Menschen müssen sich mit einem oft absurden Alltag an der Grenze herumschlagen. Eine Außensicht auf Polen und Russland, ihre beiderseitigen Beziehungen und die besondere Verantwortung, die Deutschland gegenüber beiden Ländern hat, beinhaltet der Essay von Ministerpräsident a. D. Prof. Dr. Bernhard Vogel. Nach vielfältigen, zuletzt im 20. Jahrhundert eskalierenden Auseinandersetzungen sieht er für die Zukunft die Chance, dass alle drei Länder gemeinsam zu einer friedlichen Entwicklung in Europa beitragen. Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu einigen neueren Veröffentlichungen. Hingewiesen sei an dieser Stelle bereits auf den Schwerpunkt von OWEP 2/2011. Das Heft ist dem Thema „Bleibende Wunden. Psychische Folgen des Kommunismus“ gewidmet.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

2
„Die auf den Gräbern gepflanzten Bäume waren drei Jahre alt.“ Katyn gestern und heute.
Christoph Schmidt
9
Rivalität, Versöhnung, Kooperation? Neue Impulse und alte Konflikte in den polnisch-russischen Beziehungen
Kai-Olaf Lang
18
Russlands Polenpolitik – Chance für (noch) einen Neubeginn?
Sven C. Singhofen
26
Polen im internationalen Kontext
Janusz A. Majcherek
33
Russland – Polen: eine schwierige Nachbarschaft
Irina Scherbakowa
40
Das polnische Katyn-Problem aus russischer Sicht
Marija Rosinskaja
46
Soll Polen den Bären umarmen?
Wojciech Soczewica
52
Reale und symbolische Nähe der Kirche zum Staat heute. Ein polnisch-russischer Vergleich.
Katharina Ilic
61
Krzysztof Meyer – Dmitrij Schostakowitsch. Ein Beispiel polnisch-russischer Musikbeziehungen
Friedemann Kluge
68
Eine andere Welt. (Erfahrungen)
Juri Durkot
74
Polen und Russland, unsere Nachbarn im Osten – heute Partner – Freunde? (Erfahrungen)
Bernhard Vogel
79
Bücher

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