Sah es und ging nicht vorüber
Der feuchte und eiskalte Märzwind treibt Schnee und Regen über die Felder vor Krakaus Toren. Es ist Sonntagmorgen. Auf der Dorfstraße Richtung Piekary sind viele Menschen unterwegs: Kirchgang. Man reibt sich die Augen. Solche Bilder waren zuletzt in den Jahren der Kindheit zu sehen, zu Hause, auf dem Land, in den kleinen Städten.
Dann zwischen eher ärmlichen Häusern eine große Baustelle, Bagger, Baumaschinen, Gebäude, gedeckt aber noch nicht fertig. Und eine Kirche voller Menschen. Ein einfacher Sonntagsgottesdienst, mit auffällig vielen Kindern. Herz und Mitte des Zentrums "Frohe Botschaft 2000". Bis September 2001 soll alles fertig sein: die Schule, ein Internat, offene Sportanlagen, und eben diese Kirche, in der in dieser Morgenstunde das Lob Gottes zu hören ist.
Der Ort ist geschickt gewählt: weit genug von der Stadt entfernt, um den Kindern Ruhe und Konzentration zu verschaffen. Nah genug, um den Anschluss an die Stadtwelt nicht zu verlieren, nicht in der ländlichen Idylle eine Welt entstehen zu lassen, die mit dem zukünftigen Leben der Kinder wenig zu tun hat.
Der Anfang liegt weit zurück
Rückblende: 1882, Krakau. Pater Kazimierz Siemaszko, 1847 geboren, begegnet auf seinen täglichen Gängen zur Lazaristenkirche obdachlosen, verwahrlosten, allein gelassenen Kindern, die betteln. Die Patres der Kongregation, der er angehört, die "Missionspriester vom heiligen Vinzenz von Paul" haben immer Augen gehabt, die die Not von Kindern wahrgenommen haben, früh schon und an vielen Orten in Europa.
Der Pater blieb stehen, sah es und ging nicht vorüber. Er bot den Kindern Hilfe an. Wer Kindern konkrete Hilfe anbietet, sich auf sie einlässt, sich ihnen hingibt, der muss mit Folgen rechnen, die nicht immer planbar und vorhersehbar sind. Die Situationen, Umstände und Zustände wechseln schnell und oft.
Pater Kazimierz kaufte ein Haus in der Długastraße 42 und ließ es ausbauen. Es entstand ein Zentrum, das armen Kindern und Jugendlichen ein Dach über dem Kopf bot, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten eröffnete und, was mindestens ebenso wichtig ist, ein Obdach für ihre verletzten und verletzlichen Gefühle, für ihre Seelen schuf. Ein Ferienheim und eine Schule außerhalb Krakaus kamen dann noch dazu. Pater Kazimierz starb an einem Maitag des Jahres 1904.
Wichtig ist Dauer
Was damals von großem, von entscheidendem Vorteil war, ist es auch heute noch: die Vinzentiner, seine Mitbrüder, sorgten für Kontinuität. Deshalb hat das Unternehmen die beiden großen Weltkriege und die schwierige Zeit der kommunistischen Herrschaft in Polen überstanden.
Das ist schnell dahin geschrieben. Aber dahinter steckt eine Menge Idealismus, Konsequenz, Geduld und wohl auch ein Beweggrund, der aus einem tiefen und echten Glauben kommt. Wer sich dauerhaft für Kinder einsetzt, nicht nur ein paar spektakuläre Aktionen macht, ist nicht automatisch in den "Charts" des gesellschaftlichen Ansehens. Auch in Polen nicht.
Die Situation erfordert Nüchternheit und Leidenschaft
Der Wind des Wandels hat auch Polen erfasst. Schon seit einigen Jahren. Die alte volkskirchliche Idylle beginnt sich langsam aufzulösen. Es wird länger dauern als in anderen Ländern des ehemaligen kommunistischen Machtbereichs. Aber verschont davon bleiben auch die Kirche und die Gesellschaft Polens nicht. Die Patres und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung wissen das. Allesamt wache, freundliche, jüngere Leute, die dicht an den Kindern sind und deshalb nüchtern sprechen, keine heiße programmatische Luft ablassen, sondern die harten Fakten sehen, sie analysieren und dann zu handeln versuchen.
Die Fakten: Die Zahl der seelisch und körperlich verwahrlosten Kinder wächst. Das Drogenproblem spitzt sich zu. Eine schnell sich hochtechnologisch entwickelnde, sich immer mehr aufteilende und deshalb komplexere und komplizierte Gesellschaft produziert Opfer. Es sind, wie überall auf der Welt, immer wieder die Kinder, die Kinder und noch einmal die Kinder. Wer hilft ihnen? Wer begleitet sie? Und vor allem: Wer bleibt bei ihnen? Sagt ihnen: "Ich meine DICH, DU bist wichtig!"? In Krakau, in der Siemaszko-Stiftung, die 1991 entstanden ist, wird eine Antwort zu geben versucht, täglich, stündlich, nüchtern und passioniert zugleich. Das macht Mut, das gibt Hoffnung. Das Gesicht einer alt gewordenen Kirche trägt mit einem Mal junge Züge, lacht einen an mit den Augen der Kinder.
Natürlich braucht man Geld
Wer den Traum, den Idealismus in die Tat umsetzen will, braucht natürlich auch Geld. Wer es gut machen will, braucht viel Geld. Er braucht immer mehr Geld. Das Unternehmen finanziert sich aus mehreren Quellen. Zum Beispiel durch die Vermietung eines größeren Hauses, das dem Werk Anfang des Jahrhunderts vererbt wurde. Hinzu kommt die Unterstützung von Institutionen und Privatpersonen im Inland und im Ausland. Auch RENOVABIS, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel und Osteuropa, hat geholfen.
Der Phantasie, dem Unternehmergeist sind keine Grenzen gesetzt. Jetzt plant der Direktor der Stiftung, Pater Bronisław Sieńczak, ein umtriebiger Vinzentiner und gleichzeitig der Provinzial seiner Kongregation, ein kleines Wasserwerk an der Weichsel vor Krakau. Damit soll Strom erzeugt werden, der verkauft werden kann und auf diese Weise zusätzliches Geld bringt.
Vielleicht gehen dadurch ein paar Lichter mehr an in Polen. Auch in der Kirche dort. Gemessen an dem, was für Kinder zu tun wäre im Land und was getan werden könnte in der katholischen Kirche des Landes, ist die Siemaszko-Stiftung ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werkes, sie sind wirklich „Werktätige des Volkes“, muten an wie Pioniere. Jedenfalls sind sie weit vorn. Zu viele in Polen sitzen noch hinten und warten. Das ist nicht nur in der Kirche so, auch in der Gesellschaft, auch in der Politik. Bei der Kirche fällt es deshalb besonders auf, weil sie einen anderen Anspruch hat als Parteien, Gruppen und Gewerkschaften.
Da macht jemand ernst mit dem Beispiel des Evangeliums, "Kinder in die Mitte" zu stellen. Denn schließlich sind sie ja nicht nur die Zukunft eines Volkes, sondern sie wurden und werden ja auch von Jesus ganz besonders geliebt.
Zuflucht bieten
Die drei Zentren in der Stadt, von unterschiedlicher Größe, sind Orte, zu denen die Kinder gerne kommen. Wenn man ihnen bei der Arbeit und beim Spiel zuschaut, ihnen auch ein paar Fragen stellen kann, dann sieht, spürt und hört man das.
Aber in manchen Kindergesichtern sind auch ganz deutlich die Angst, die Verlassenheit und die Schrecken des Milieus, aus dem sie kommen, zu lesen: Blasse Gesichter mit rot geränderten Augen, kleine Menschen, vor der Zeit alt geworden, sitzen, stehen und liegen da vor einem. Es schnürt einem die Kehle zu. Man schluckt. Hier jedoch haben sie einen Raum, in dem sie ihre sonst gestutzten und manchmal auch schon angebrochenen Flügel ausstrecken und den Traum vom freien Flug träumen können und dürfen.
Perspektiven eröffnen
Dem Beobachter fällt auf, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Zentren Krakaus relativ schweigsam bleiben, wenn man sie nach der ferneren Zukunft der Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft fragt, was sie tun, wie sie leben können, wenn sie einmal den Zentren entwachsen sind. Ob zum Beispiel eine Vermittlung von sicheren Arbeitsplätzen und Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist. Da ist noch einiges zu tun, scheint es.
Aber jetzt geht es erst einmal darum, die Möglichkeiten der Hilfen langsam besser zu strukturieren und sich den schnell wandelnden Verhältnissen anzupassen.
Das Geld wird für die Kinder ausgegeben
Was in den Stadtzentren auffällt: die gute Ausstattung, das solide und sinnvolle Ausbildungsmaterial, die Spielmöglichkeiten, die den Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellt werden, die Musikinstrumente, die Bücher, die Sportgeräte, das gute Essen. Da wird nicht gespart. Man kann sehen, wohin das Geld geht. Weniger in die Verwaltung des nötigen Apparates, als in die tägliche Praxis.
Die Kompetenz und die Freundlichkeit, die Präsenz und Nähe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden schnell offenbar, wenn man sieht, wie sie mit den Kindern umgehen, nicht übertrieben und nicht unterkühlt, ganz in freundlicher und bestimmter Gelassenheit. Wenn man Fragen stellt, erhält man präzise Auskünfte, die von Professionalität zeugen.
Soweit die Kinder befragbar sind, ohne den Gang der Dinge, den Sport, die Musik, die Nachhilfe und die Lektüre zu unterbrechen, antworten sie ganz offen und frei. Sie machen nicht den Eindruck, Vorzeigekinder sein zu müssen. Es gefällt ihnen, was sie angeboten bekommen und sie scheinen sich wohl zu fühlen. Ihre Ansprüche wachsen auch.
Wie gesagt, was bleibt, ist die Frage einer strukturierten Hilfe für die Zeit danach. Bis dahin ist noch ein gutes Stück des Weges zu schaffen. Und angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation in Polen wird diese Aufgabe nicht leichter. Bereits jetzt leben zwei von rund vierzig Millionen Polen unterhalb der absoluten Armutsgrenze, weitere sechs Millionen sind relativ arm. Das hat Folgen. Vor allem für die schwächsten und verletzlichsten unter ihnen: für die Kinder und Jugendlichen.
Die Anerkennung wächst
Auch die Schulsituation in Polen ist im Umbruch. Jerzy Lackowski, der Schulkurator, so etwas wie ein 'Erziehungsminister' für Südpolen, braucht viele Sätze, um den gegenwärtigen Stand der Dinge in Umrissen zu skizzieren, die schnell wechselnden Trends, die wachsenden Probleme zu beschreiben. Er ist sehr froh, dass es so etwas wie die Siemaszko-Stiftung gibt. Gerne hätte er mehr solcher Initiativen. Aber in der Gesellschaft rührt sich in dieser Hinsicht nicht viel. Man ist sehr mit sich selbst beschäftigt.
Wie gut, dass es die Vinzentiner gibt. Rund dreihundert arbeiten im Land, schon lange Zeit. Und immer haben sie viel für die Armen getan. Aus den Pfarreien, in denen sie in der Seelsorge tätig sind, kommen die meisten der Kinder in die Zentren.
Die Vinzentiner stellen sicher, dass die Siemaszko-Stiftung kein Strohfeuer ist, das kurz brennt und dann nur noch kalte und bittere Asche für die Betroffenen zurücklässt. In vielen "Stiftungen" und Projekten für Kinder und Jugendliche in aller Welt ist das leider so. Hier nicht. Dauer, Langzeit-Engagement sind eine wesentliche Voraussetzung wirksamer Hilfe für junge Menschen. Die Kinder sind eben nicht nur 'Kleine', die man eben mal abspeisen kann. Sie sind Menschen eigenen Rechts. Sie haben einen eigenen Anspruch, eine eigene Würde.
Dass die Arbeit der Stiftung inzwischen auch dem Staat mehr und mehr Eindruck macht, wird an der Tatsache sichtbar, dass seit dem Jahr 1998 das Zentrum "U Siemachy" in Krakau, das größte der drei städtischen Zentren, von den Landesbildungsbehörden als "vorbildliches Modell außerschulischer Jugendbetreuung und Soziotherapie" anerkannt und gefördert wird.
Inzwischen gibt es Zentren auch in Tarnów (Südpolen) sowie in Iłowa und Żmigród (Westpolen). Derzeit besuchen rund 800 Kinder und Jugendliche die Zentren, rund 600 davon in Krakau selbst. Mit der Eröffnung des großen Unternehmens in Piekary im September 2001 wird die Zahl weiter steigen.
Vertrauen in die Lebenskraft von Kindern
Das pädagogische Konzept, an dem man unentwegt arbeitet, setzt auf die eigene Lebenskraft auch schwieriger und bedrängter Kinder und Jugendlicher. Sie gilt es zu aktivieren. Es wird weniger 'von oben' betreut, mehr wird 'von unten' geholfen. Das erfordert viel Geduld, einen größeren Aufwand an Zeit als die einfache Anordnung und Durchführung von in Büros ausgedachten Maßnahmen, die dann meist doch nur auf dem Papier stehen und für geschönte Erfolgsbilanzen herhalten müssen.
Sehr gut wird das Grundkonzept sichtbar im "Siemachy-Pentalog", den „Fünf Geboten“ der Stiftung, die an den Wänden und Türen der Zentren für alle gut lesbar und unübersehbar angeschlagen sind. Sie lauten:
- In diesem Haus gibt es keinen Zwang
Du bist hier, weil du das willst. - Du bist hier nicht allein.
Sei lieb und freundlich zu den anderen.
Wir brauchen einander. - Versuche, viel zu wissen
Und noch mehr zu verstehen.
Nutze die Zeit gut aus. - Zerstöre nicht die Dinge,
die um dich herum sind.
Morgen wirst du sie brauchen. - Fühle dich wohl in diesem Haus.
Von dir wird es abhängen,
was hier geschieht.
Kinder in die Mitte stellen
"Es ist besser ein Licht in der Dunkelheit anzuzünden als über die Dunkelheit zu klagen." Dieser Satz könnte das Programm der Krakauer Kinderinitiative ganz gut kennzeichnen. Besser noch und vor allem bezogen auf die "Gegenstände", die lebendigen Kinder und Jugendlichen, sagt es das Evangelium, in dem vom zentralen Handeln Jesu die Rede ist:
In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der Größte? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein wie dieses Kind sein kann, der ist im Himmelreich der Größte. Und wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf." (Mt 18, 1-5)
"Kinder an die Macht" heißt ein ziemlich nichts sagender, aber viel zitierter Song in Deutschland. Er ist fast schon zu einem Schlagwort geworden. Schlagworte erschlagen.
"Kinder in die Mitte" ist ehrlicher und wirklichkeitsnäher. Es geht bei der Hilfe für Kinder und Jugendliche nicht um Macht. Es geht um Nähe, um Menschenfreundlichkeit. Es geht um Hilfe zur Menschwerdung.
In Krakau, in den Zentren der "Pater-Siemaszko-Stiftung" für Kinder und Jugendliche, die diese Hilfe dringender brauchen als andere, ist das ganze Jahr Weihnachten.