Institutionelle Souveränität der Bürger des Kosovo oder nationale Unabhängigkeit?

(Diskussion)
aus OWEP 2/2001  •  von Nenad Stefanov

Nenad Stefanov aus Frankfurt/Main promoviert am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.

Unlängst wurde im Ort Drenica des Massakers vor drei Jahren gedacht, bei der nahezu die gesamte Familie Jasari umgekommen war. In Serbien wurde das brutale Vorgehen als polizeiliche Maßnahme in der auch andernorts üblichen Terroristenbekämpfung bezeichnet. Adem Jasari galt als einer der Anführer einer bewaffneten Gruppe mit dem zu dieser Zeit noch kryptischen Kürzel UÇK. Allerdings unterschied sich die serbische Variante der „Terroristenbekämpfung“ von solchen andernorts vor allem darin, dass bei der Verfolgung gleich das gesamte Dorf „niedergemacht“ wurde. Drenica markiert den Aufstieg der UÇK und die vorbehaltlose Identifizierung bei einem Großteil der albanischen Bürger des Kosovo. Umgekehrt demonstrierte dieses Verbrechen die Bereitschaft der serbischen staatlichen Organe die albanischen Bürger als Terroristen zu identifizieren. Fand die Marginalisierung und Unterdrückung bis dahin in einem institutionellen Zusammenhang statt, so wurde sie nun schrankenlos. Das in den serbischen Medien seit Mitte der achtziger Jahre gepflegte Vorurteil über den Albaner als potenziellen Verschwörer materialisierte sich nun in verhängnisvoller Weise.

Der Phase politischer und institutioneller Diskriminierung, die seit 1989 andauerte, folgte nun die offene Feindschaft. Keine Region des ehemaligen Jugoslawien war vor dem Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen derart polarisiert wie das Kosovo. In Kroatien oder Bosnien-Herzegowina hatte Gewalt mithin die Funktion unüberschreitbare Grenzen zwischen nationalen Gruppen zu schaffen. Im Kosovo war das nicht notwendig, die schon existenten Gräben wurden nur noch vertieft. Der grausame Höhepunkt dieser vor allem von staatlicher Seite betriebenen Ethnisierung war die Vertreibung der albanischen Bevölkerung während der NATO-Intervention.

Nach dem Abzug des serbischen Militärs wurde die noch verbliebene serbische Bevölkerung, ohne jede politisch oder juristisch vermittelnde Institution, zum Objekt der Sühne. Es scheint, als müssten die Bewohner der wenigen serbischen Enklaven oftmals stellvertretend für die Verbrechen jener büßen, die sich nach Serbien in Sicherheit gebracht haben. Dieser Aspekt zeigt neben anderen, dass die albanische Mehrheitsbevölkerung kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen in Serbien bzw. mit der Republik Serbien als institutionellem Bezugspunkt hat.

Mit dem Einmarsch der NATO wurde der Verlust des Kosovo für Serbien evident. Während zuvor das Kosovo ein von Mythen verschleiertes, symbolisches Territorium war, dass kaum jemand in Serbien aus eigenen Reiserfahrungen kannte, wurde es mit dem Abzug der serbischen Armee zum ersten Mal wirklich, mit der mehrheitlich albanischen Bevölkerung, die den NATO-Truppen zujubelte. War das Kosovo bis dahin also unbekannt, so wirkte es nun, nachdem die mystifizierenden Schleier gelüftet wurden – fremd.

Zur Mystifizierung, die umgekehrt Indifferenz gegenüber den wirklichen Verhältnissen auf dem Kosovo bedeutete, hat auch die ehemalige Opposition – und jetzige Regierung – beigetragen. In den letzten zehn Jahren hat sie die Unterdrückung auf dem Kosovo nicht thematisiert. Es erscheint demnach schwer vorstellbar, dass diese neue politische Elite nun für eine substanziell andere Politik gegenüber dem Kosovo stehen könnte.

Aus all dem scheint notwendig die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien zu folgen, da es zunächst um die Interessen der Bevölkerung des Kosovo und deren Vorstellung von einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung geht.

„Professionelle Politikberatung“, wie sie sich insbesondere auf dem Balkan in den letzten Jahren entfaltet hat, ist schnellen und eindeutigen Konfliktlösungs-Rezepten zugeneigt und reduziert damit oftmals die Komplexität der Gesellschaften des Balkan. Bei allem Reiz, den nationale Unabhängigkeit als Problemlösung hat, bleibt allerdings zu fragen, ob nationale Ordnungskonzepte den Gesellschaften des Balkan in den letzten hundert Jahren nicht eher abträglich waren.

Es ist dringend notwendig den Status des Kosovo zu klären, wie vor allem die Eskalation in jüngster Zeit deutlich macht, und die Souveränität der Bürger des Kosovo auch institutionell zu festigen. Allerdings kann das nicht nationale Homogenisierung und beiderseitige Abschottung bedeuten. Ob es nun irgendwann eine Grenze zwischen dem Kosovo und Serbien gibt oder nicht: Albaner und Serben bleiben immer noch Nachbarn, die aufeinander angewiesen sind. Gerade die Geschichte des Verhältnisses dieser beiden Nationen zueinander zeigt, dass Ignoranz und daraus resultierende Unterdrückung eine verhängnisvolle Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang setzt. Vor allem für die serbische Gesellschaft bedeutet das die Notwendigkeit, sich mit den Vorurteilen gegenüber Albanern kritisch auseinander zu setzen und sich mit den im Krieg begangenen Verbrechen zu konfrontieren.

Ein Kosovo als albanischer Nationalstaat würde diese Spirale nicht zum Stillstand bringen, sondern Ratlosigkeit gegenüber einer politischen Praxis bedeuten, deren Resultat homogene ethnische Gemeinschaften sind. Wohlgemerkt einer Praxis, die genuines Produkt des ehemaligen serbischen Regimes ist und aus der Zerstörung von Politik und der Schaffung ethnischer Gemeinschaften bestand. Gerade Drenica ist ein grausames Beispiel für diese Praktiken und zeigt die Notwendigkeit von Institutionen auf, die den traumatischen Erfahrungen gerecht werden und ihre Wiederholung unmöglich machen.

Langfristig wird sich allerdings wohl zeigen, dass es dabei nicht allein um nationale Grenzen gehen kann, sondern vor allem um Prozesse gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung, insbesondere in Serbien, die zukünftig dazu beitragen einen solchen Rückfall in die Barbarei zu verhindern.