Die Albaner und ihre Religionen
„Das Albanertum ist die Religion der Albaner“ – diesen Satz lernt jedes albanische Kind und hört jeder, der sich mit Albanien und seinen Menschen beschäftigt, wo auch immer sie leben. Ob er als Realität zu verstehen ist oder als Teil eines lebensnotwendigen, weil volkserhaltenden Mythos, lässt sich nicht eindeutig eruieren. Aber irgendeinen Mythos muss es in einem Volk geben, das erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen eigenen Staat ausrufen konnte, in dem nicht einmal ein Drittel aller Albaner leben, das sein albanisches Alphabet auch erst im gleichen Jahrhundert endgültig zur Anwendung bringen konnte, ein Volk, das sich in der kommunistischen Phase fast selbst zu Grunde richtete und von allen Nachbarn isolierte – und dennoch heute in der Weltöffentlichkeit präsenter ist als je zuvor, und sei es meist mit negativen Schlagzeilen. In ihm muss so etwas wie eine archaische Kraft vorhanden sein.
Es grenzt geradezu an ein Wunder, dass es dem Volk der Albaner bis heute gelungen ist eine eigene Sprache und einen eigenen Menschentyp, zudem das Bewusstsein einer geschichtlichen Gemeinsamkeit bewahrt zu haben, obwohl durch fast zwei Jahrtausende unzählige fremde Völkerschaften durch seinen Lebensbereich zogen, sich niederließen und assimiliert wurden, herrschten oder weiterwanderten. Die Albaner sind, darüber besteht heute Übereinstimmung in Fachkreisen, eines der ältesten Völker Europas, abstammend von den Iilyrern. Ihre Sprache gehört dem indoeuropäischen Raum an, nahm zwar romanische und slawische Elemente auf, blieb aber in ihrem Kern unverwechselbar „albanisch“.
Nicht weniger erstaunlich ist, dass das Christentum schon wenige Jahrhunderte nach seinem Entstehen bis zu den Albanern vordrang. Funde zeugen von Sakralbauten bereits im 6. Jahrhundert, seit dem 16. Jahrhundert wurde es in den Hintergrund gedrängt durch den Islam, der die am weitesten verbreitete Religion in diesem Raum werden sollte. Trotzdem kam es nicht zu einer feindlichen Polarisierung innerhalb der albanischen Bevölkerung - wohl aber zu unterschiedlichen kulturellen und sozialen Entwicklungen, vor allem zwischen dem Norden und dem Süden Albaniens. Ungebrochen jedoch bis in die Gegenwart verhalten sich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften - neben der katholischen die orthodoxe Kirche und einige islamische Sekten - mit Respekt und Toleranz zueinander.
Nicht einmal die mit einzigartiger Brutalität durchgeführte Eliminierung aller Religionen in Albanien unter Enver Hodschas Regime, das dieses Land 1967 zum „ersten atheistischen Staat“ der Welt machte, wie er stolz verkündete, konnte die Traditionen der Glaubensgemeinschaften innerhalb der Bevölkerung „ausrotten“. Es gehört zu den schrecklichsten Zeugnissen totalitärer Gewalt, was Enver Hodscha seinen Albanern angetan hat, und es ist ein Wunder, das sich nach der Wende ganz deutlich zeigte: Die Religionen haben trotzdem überlebt. Sakrale Gegenstände tauchten nach 1990 wieder auf, sie waren auf Dachböden, in Kellern oder Erdlöchern versteckt gewesen. Die Gläubigen aller Religionen halfen einander die geschändeten Gotteshäuser zu renovieren und feierten die ersten Gottesdienste gemeinsam, manchmal noch unter freiem Himmel, manchmal mit Geistlichen, die erst wenige Tage vorher aus dem Gefängnis entlassen worden waren, oder mit Laien, die sich an die Rituale erinnerten.
Alle diese „Wunder“ werfen Fragen auf: Wie war es möglich, die völkische Eigenart über die vielen Jahrhunderte wechselnder Fremdherrschaft zu bewahren? Woher kam diese Kraft? Worin liegt die Erklärung dafür, dass die zwei monotheistischen Religionen, Islam und Christentum, die auf politischer Ebene mit ihren weit auseinander liegenden Zentren in Rom und Konstantinopel grundsätzlich in einem Spannungsfeld agieren, in Albanien eine stabilisierende Funktion und eine fest verankerte Position innehatten - obwohl sie in anderen Bereichen Europas sich als Feinde gegenüberstanden?
Um Antworten auf solche Fragen näher kommen zu können, wird es unvermeidlich sein, einerseits den Blick in die Vergangenheit der Albaner zu lenken und andererseits den Versuch einer psychologischen Analyse der Wesenszüge der albanischen Menschen zu wagen. Beides wird wenig oder zumindest nicht in befriedigendem Ausmaß mit Fakten zu tun haben, sondern mehr mit Beobachtungen und mündlichen Aussagen.
Unterschiede zwischen Nord- und Südalbanien
Ein Quellenwerk von besonderer Qualität in diesem Zusammenhang ist das Buch des österreichischen Diplomaten, Historikers und Juristen Dr. Walther Peinsipp „Das Volk der Shkypetaren. Geschichte, Gesellschafts- und Verhaltensordnung“, das 1985 in Wien erschien. Unter anderem untersuchte er die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen des nördlichen und des südlichen Albanien, den Tosken und den Gegen, die jeder einen eigenen Dialekt der gemeinsamen Sprache entwickelten. Ihr Siedlungsbereich wird von dem Fluss Shkumbin, der Albanien in zwei Teile teilt, voneinander getrennt. Peinsipps besonderes Interesse liegt auf dem jahrhundertealten, bis vor wenigen Jahrzehnten ungeschrieben gebliebenen Verhaltenskodex des „Kanun“ in den schwer zugänglichen Bergregionen im Norden, die er persönlich wiederholt besuchte. Zweifellos haben diese wahrhaft wilden Berge mit ihren weit voneinander gelegenen Dörfern und Siedlungen einen besonderen Menschentyp hervorgebracht, zugleich aber wurden diese Menschen auch vom „Kanun“ zutiefst geprägt. Der gleiche Verhaltenskodex hingegen, der auch im Süden Albaniens präsent war, nahm unter anderen klimatischen Bedingungen eine andere Form an, wurde gemildert von der mehr mediterranen Mentalität einer Bevölkerung, die in lebhaftem Kontakt mit der Umwelt, auch über die Landesgrenzen hinweg stand.
Außer diesen Einflüssen durch Klima und „Kanun“ wurde das kulturelle Leben im Norden, das heidnische Elemente nie ganz verlor, von der Präsenz der katholischen Kirche stark beeinflusst, die hier in der zeitweiligen Hauptstadt Shkodra ihr Zentrum hatte. Im Süden wiederum war das christliche Element durch die orthodoxe Kirche prägend, während der Islam vor allem in den Ebenen an Einfluss gewann. Im Zusammenhang mit der orthodoxen Kirche wird einerseits in manchen Regionen und zu unterschiedlichen Zeiten von einem slawischen Einfluss gesprochen und andererseits auf die Spannungen um die jeweiligen Minderheiten auf albanischer und griechischer Seite hingewiesen. Nichtsdestoweniger zeigen Kirchenbauten in verschiedenen albanischen Gebieten, dass katholische und byzantinische Elemente einander beeinflussten.
Die häufigen Kontroversen und Kämpfe innerhalb Albaniens durch die Jahrhunderte vor der Staatsgründung Albaniens im 20. Jahrhundert waren genau genommen weder religiös noch politisch motiviert, sondern es ging immer um die jeweiligen Herrschafts- und Territorialansprüche mächtiger Clans. Das konnten Kämpfe zwischen solchen aus dem Norden und dem Süden sein oder innerhalb des jeweiligen Teiles Albaniens. Erst Mitte des 15. Jahrhunderts war es dem legendären Feldherrn Skenderbeg gelungen, die ehrgeizigen Herren mit ihren eigenen kleinen und größeren Armeen gegen den gemeinsamen Feind - den Sultan in Konstantinopel, der seit dem Ende des 14. Jahrhunderts trachtete das Land zu unterwerfen, unter einer Fahne, der albanischen, zu vereinen - eine Einheit, die sich unmittelbar nach Skenderbegs Tod wieder auflöste. Damit war auch ein „Bollwerk des Christentums“ verloren gegangen und die Epoche einer Islamisierung am gesamten Balkan angebrochen.
In Albanien wie in den anderen Staaten, die Untertanen des Osmanischen Reiches wurden, schreiben die Historiker vom „Türkischen Joch“, das fünfhundert Jahre währte. Die Türken haben einerseits mit allen zu Gebote stehenden Grausamkeiten und administrativen Härten ihre Macht und ihre Interessen gefestigt, andererseits aber ließen sie den Unterjochten einen erstaunlichen Freiraum im kulturellen, d.h. auch im religiösen Rahmen. Vor allem die Feudalherren in den besetzten Regionen hatten viele Möglichkeiten, um ihren Reichtum zu erhalten oder sogar zu vergrößern. Gemessen an der Zahl der albanischen Bevölkerung erreichten unverhältnismäßig viele Albaner hohe Posten in Militär und Verwaltung des Osmanischen Reiches. Sie genossen einen hervorragenden Ruf als Soldaten und unter den Intellektuellen. Es war mit anderen Worten üblich den Islam anzunehmen, um sich Privilegien zu sichern und Vermögensverluste zu vermeiden oder zu begrenzen. Die Reichen lebten diese Methode vor, die Massenislamisierung der Bauern folgte. Es hat zahlreiche Beispiele dafür gegeben - der Held Skanderbeg ist ein solches -, dass der Islam auch wieder abgelegt und mit dem Christentum getauscht werden konnte, wenn die politische oder militärische Situation dies opportun erscheinen ließ. Was wiederum bedeutete, dass „die Religion keine sehr bedeutende Rolle spielte“, wie fast alle Historiker und andere Beobachter der albanischen Entwicklungen feststellen.
Das ist ein Element in der Beziehung der Albaner zu den beiden monotheistischen Religionen, mit denen sie enge historische Wurzeln verbinden. Das Element der Toleranz, das ebenfalls von allen Autoren, seien sie In- oder Ausländer, beobachtet wird - und im Übrigen auch in anderen Balkan-Regionen vor denselben Hintergründen anzutreffen ist - stellt ein weiteres Phänomen dar. In Albanien aber kommt dazu noch ein spezifischer Faktor, der große Bedeutung bekommen sollte: der Bektashi-Orden, eine islamische Sekte, die vom traditionellen Islam abgelehnt, zeitweise verfolgt und verboten wurde.
Die Bedeutung des Bektashi-Ordens
Ausführlich berichtet Bernhard Tönnes in seinem 1980 erschienenen fesselnden Buch über Albanien auch über die Bektashi. Dieser Derwisch-Orden stammt aus Kleinasien, wo es vom 13. Jahrhundert an eine „ausgesprochene religiöse Toleranz zwischen den verschiedenen christlichen, islamischen und heidnischen Bevölkerungsgruppen“ gab. In die frühen Lehren des Derwisch-Ordens flossen so Glaubensinhalte aller Gruppen ein - im 16. Jahrhundert erhielt er seine endgültige Form unter dem Großmeister Balim Sultan. Die Bektashi waren von Anfang an politisch und sozial engagiert, vor allem aus Gründen der Opposition zum orthodoxen Islam, auch seinem westlichen Repräsentanten, dem Sultan. 1925 wurde der Orden in der Türkei verboten.
Zu den christlichen Elementen der Bektashi gehören eine Art Abendmahl mit Brot, Wein und Käse, und die Beichte mit Absolution. Sie pflegten einen Heiligenkult, der auch christliche Heilige einbezog, sie verhielten sich tolerant gegenüber Nichtmuslimen überhaupt, was ihnen Vertrauen von christlicher Seite einbrachte. In der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts bekannten sich rund 20% der albanischen Gläubigen zu diesem Orden, der Zentren in Tirana, in Berat und in Djakovica (Kosovo) unterhielt. 1945 wurden die Bektashi neben dem sunnitischen Islam und der Halvetiye eine staatlich anerkannte eigene Religionsgemeinschaft. Das hinderte das Regime Enver Hodschas aber nicht, sie ebenso wie alle anderen Religionsangehörigen im Zuge der Ereignisse von 1967 systematischen Vernichtungsmethoden zu unterziehen. Nach dem Sturz der Kommunisten in Albanien 1990 wuchs die Gemeinde der Bektashi langsam wieder an - mit Sitz in Tirana - und spielt nun wieder eine Rolle in der dortigen Gesellschaft. In Deutschland und in Österreich sind sie ebenfalls anzutreffen – zugleich auch der Widerstand gegen sie in den Reihen der traditionellen Muslime. Nicht zuletzt die positive Haltung der Bektashi gegenüber der Frau trägt sowohl zu ihrer Popularität auf der einen Seite als auch zur Anfeindung von der anderen Seite bei.
Schon seit dem 15. Jahrhundert waren die Bektashi in Albanien tätig. Im Zuge der innerosmanischen Aufstände, bei denen sie auf der Seite der rebellierenden Janitscharen zu finden waren, standen sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor ihrer totalen Ausrottung. Sie konzentrierten sich in der Folge auf Aktivitäten in Albanien, wo sie die keimende nationale Bewusstwerdung unterstützten. Einer der Protagonisten dieser Bewegung innerhalb Albaniens war Naim Frasheri (1846-1900), der zugleich eine bedeutende Position innerhalb der Bektashi einnahm und eine Grundsatzstudie entwarf, in der er versuchte „die traditionelle Denkweise der Religion“ mit der zeitgenössischen Idee des Nationalismus zusammenzubringen. Wichtig ist, dass er, wie auch seine Brüder Sami und Abdyl und andere Vorkämpfer für Albaniens „Erwachen“ (Rilindja), hochgebildete Zöglinge der orientalischen Kultur waren. Naim Frasheri studierte sowohl Naturwissenschaften als auch persische Dichtkunst und beherrschte außerdem die türkische und arabische Sprache. Frasheri, so schreibt Tönnes, „blieb auch als patriotischer Dichter ein Mittler zwischen östlich-islamischer und westlich-europäischer Kultur“. So übersetze dieser erstaunliche Albaner sowohl den realistischen Roman „Die Elenden“ von Victor Hugo ins Albanische als auch das mystische Werk „Die Flöte“ des persischen Dichters Dschelaluddin Rumi ins Albanische.
Frasheri sei hier nur als ein Beispiel erwähnt, es ließen sich noch eine Reihe von anderen albanischen Intellektuellen anführen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großem Mut, enormen Energien und Opferbereitschaft für die nationale Einheit und Selbstständigkeit Albaniens eintraten. Unter ihnen sind Vertreter des Islam, der katholischen und der orthodoxen Kirche anzutreffen - und gerade dieser Umstand hilft uns, den Schlüssel zum Verständnis der jüngeren albanischen Geschichte und der Mentalität, die von dieser Geschichte geprägt wurde - oder, wenn man will, auch umgekehrt - zu erkennen.
Das „Erwachen“ des albanischen Volkes
In Albanien wurde die Entwicklung von einer kleinen Schicht kosmopolitisch gebildeter, intelligenter, humanistisch gesonnener, religiös gebundener Menschen artikuliert und vorangetrieben. Sie wussten, dass die Voraussetzung für eine auch nur schrittweise Annäherung an ihr politisches Ziel - innerhalb des Osmanischen Imperiums, das es zwar noch gab, aber schon Risse und Reformen erlebte - geben könnte, wenn größere Teile der Bevölkerung Zugang zur Bildung erhalten würden. Sie konzentrierten sich daher in erster Linie auf die Forderungen nach albanischsprachigen Schulen und Publikationen. Für beide Vorhaben war die Schaffung eines Alphabetes in albanischer Sprache eine unabdingbare Voraussetzung. Gerade dieses Thema zeigte plötzlich tiefe Unterschiede zwischen den Glaubensgemeinschaften: Muslime forderten ein arabisches Alphabet, Orthodoxe ein griechisches und die Katholiken das lateinische, was letzten Endes siegte, allerdings erst nach schweren Kämpfen und Opfern auf allen Seiten. Wäre es nicht so gekommen, hätte Albaniens Entwicklung zweifellos eine stark orientalisierte Wendung genommen. So aber war die Zuwendung zum Europäischen gesichert. Auf einem anderen Gebiet zogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Glaubensgemeinschaften am gleichen Strang, nämlich im Zusammenhang mit dem Aufbau eines albanischsprachigen Schulwesens in den jeweiligen Regionen, gegen das türkische Verbot und gegen griechischen nationalistischen Fanatismus. Ebenso bei der Verbreitung von verschiedensten Publikationen, deren Druck innerhalb des Osmanischen Reiches verboten war und die deshalb unter schwierigsten Umständen im Ausland hergestellt und nach Albanien geschmuggelt werden mussten.
Mehreren prominenten Albanern der „Rilindja-Bewegung“ wird der Ausspruch, dass die Religion des Albaners das Albanertum sei, zugeschrieben. Er bedeutete, wie Gashi/Steiner in ihrem „Albanien“-Buch meinen, nicht nur einen Appell an die Albaner, sondern vor allem an „die Anrainervölker und Europa“, um ihnen klarzumachen, dass die Albaner über der Religion stünden und eine kompakte Nation seien. Darüber hinaus scheint in diesem Satz aber noch eine weitere politisch-soziale Botschaft zu liegen: Das Albanertum sollte eine Brücke sein zwischen den Religionen, es baut damit auf der tagtäglich gelebten Tradition der Toleranz zwischen den Glaubensgemeinschaften, die sich in einer Vielfalt von ineinander verbundenen Praktiken durch die Jahrhunderte manifestierte - im Übrigen bis auf den heutigen Tag. Damit hatten die Initiatoren dieses patriotischen Appells auch den so wichtigen Zugang zu den nicht-gebildeten Schichten der albanischen Bevölkerung hergestellt.
Das Chaos der 90er Jahre – eine Folge des Hodscha-Regimes
Es knüpft sich aber noch eine Beobachtung an, die sich auf die heutige Zeit in Albanien bezieht. Die zwar in Albaniens Demokratisierung nach dem Kommunismus engagierte, aber oft verständnislose internationale Umwelt ist nach dem Zusammenbruch dieses Regimes mit einigen politischen Phänomenen konfrontiert worden, die für sie - und wohl auch für die Albaner selbst - unerwartet waren. Das selbstzerstörerische Chaos - in zwei Etappen unmittelbar nach 1990 und nach dem „Pyramiden-Skandal“ 1997 - und die Massenflucht der Albaner waren ein solches Phänomen, die Unfähigkeit zum Dialog innerhalb der neuen pluralistischen Parteienwelt auf politischer Ebene ein weiteres. Hintergründe für diese Erscheinungen könnten auch in den Parolen des 19. Jahrhunderts und einem entsprechenden Mangel an skeptischen Erfahrungen mit sich selbst zu suchen sein.
Erst der Kommunismus mit dem Zuchtmeister Enver Hodscha (der vor der Revolution selbst Lehrer war) an der Spitze hat dem albanischen Volk eine elementare und lückenlose Schulbildung verschafft – und das zu einem Zeitpunkt, wo das Terrorregime jede Art der Fragestellung unterband, wo die Religionen - auch vor 1967 - verpönt und verfolgt waren, das Albanertum hingegen 24 Stunden am Tag gepredigt wurde. Auch die Vergangenheit wurde auf einen Hochglanz-Patriotismus getrimmt - und zugleich die Umwelt zu Feindbildern umfunktioniert. Eine solche Erfahrung, die rund vierzig Jahre währte, hat Generationen geistig und psychisch verbogen. Und dann kam der plötzliche Umbruch, das Zusammenfallen der allmächtigen Partei – und zugleich die Erfahrung des Wissens über die Hunderttausende Albaner, die bis zu vierzig Jahren in schrecklichen Gefängnissen verbringen oder in jahrzehntelanger Deportation in unwegsamen Gebieten des Landes vegetieren mussten - häufig auf Grund von Denunziationen oder Verrat der eigenen Landsleute. Das alles war ein Schock für die Bevölkerung, zu dessen Überwindung kein Psychiater, keine Richtlinie, keine Perspektive zur Hand waren. Darum das Chaos, darum die Massenflucht vor sich selbst. Von „Albanertum“, von „Patriotismus“ wollte keiner mehr etwas hören, diese Begriffe waren gründlich verraten worden von einem Regime, das nicht nur das Land, sondern auch seine Menschen zerstört hatte. Darum aber zweifellos auch die Rückkehr zu den Religionen heute bei denen, die noch Kraft hatten zu einem Glauben.
Aber auch das Phänomen nach dem Umsturz, dass die führenden Politiker, die christlich-demokratischen ebenso wie die vom Kommunismus zum Sozialismus gewandelten lange keine konstruktive Sprache zum Besten ihres Landes fanden, dürfte eine Erklärung in der Vergangenheit haben. Toleranz, wenn sie bewusst gewählt und entfaltet wird, ist ein wunderbares Element in einer Gesellschaft. Wenn Toleranz aber nur Tradition in ferner Vergangenheit blieb, wenn ein solches soziales Leitmotiv wie mit einem scharfen Messer durchschnitten wurde, wie es im kommunistischen Albanien geschah - dann hinterlässt sie keine Erinnerung, die eine Wegweisung hätte sein können. Dann bleibt nur die Ebene persönlicher Machtgelüste und Fehden wie in den Zeiten, als Albanien noch kein „nationales Erwachen“ erlebt hatte, sondern eine Gesellschaft von rivalisierenden Feudalherren war.
Es gibt allerdings in jüngster Zeit leise Anzeichen dafür, dass sich die Politiker und Medien in zunehmendem Ausmaß konstruktiven Themen für die Zukunft des Landes zuwenden. Zeichen, die Hoffnung aufkommen lassen - eine Hoffnung, die das Land braucht wie die Fische das Wasser, denn die ständige Abwanderung von jungen Menschen, die von ihrem Vaterland nichts mehr wissen wollen und nur in die Welt hinaus streben, muss eine Ende nehmen. In dieser Entwicklung seit 1990 scheinen die Religionen allerdings bisher bei der jungen Generation keine Rolle spielen zu können. Hier sind offensichtlich sowohl „Albanertum“ als auch „Religion“ abhanden gekommen.