OWEP 3/2001
Schwerpunkt:
Kirche und Nation
Editorial
Kirche und Nation bilden eine für das historisch gewachsene Gesicht Europas grundlegende Polarität. Der universalen Geltung der Frohen Botschaft, die „weder Juden noch Griechen“ mehr kennt, steht die Ausformung der nationalen Kulturen gegenüber, die freilich immer wieder unter maßgeblichem Einfluss des Christentums erfolgte. Die Verbindung von National- und Kirchengeschichte ist dabei gerade für den europäischen Osten charakteristisch und beeinflusst - ungeachtet der durch den kommunistischen Atheismus verursachten Brüche - auch das moderne Nationalbewusstsein.
Der Frage, ob innerhalb Europas unterschiedliche Typologien von Nationalismus zwischen Ost und West festgestellt werden können, geht im vorliegenden Heft Martin Schulze Wessel nach. Russland weist nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs vielfache Züge eines Wiedererwachens der überlieferten Bindung an Tradition und Nation auf. Die Schlüsselrolle, die dabei dem orthodoxen Christentum zukommt, untersucht Robert Hotz. Viele Menschen in Litauen haben während der als Fremdherrschaft empfundenen Zeit der Zugehörigkeit zur Sowjetunion ihre kulturelle und nationale Identität durch die bewusste Zuwendung zur katholischen Kirche bewahrt und verteidigt. Noch viel bekannter und wirkungsreicher ist die zeitweise fast fraglose Identifikation von Kirche und Nation in Polen. In den Beiträgen von Kestutis Girnius und Wolfgang Grycz werden diese nur scheinbar eindeutigen Wechselbeziehungen daraufhin untersucht, ob sie heute noch tragfähig sind.
Für die Krise, in die ein aus der Gleichsetzung von „polnisch“ und „katholisch“ abgeleitetes Identifikationsmuster geraten ist, steht derzeit in der Öffentlichkeit unseres Nachbarlandes die durch die Erinnerung an den Judenmord von Jedwabne ausgelöste Diskussion. Einen zentralen Text, das Sühnegebet der polnischen Bischöfe, dokumentieren wir. Ein Interview mit dem ungarischen Außenminister Dr. János Martonyi, dessen Land bald vollständig in die europäischen Strukturen integriert sein wird, rundet das vorliegende Heft ab.
Kirche und Nation - in der Fülle der Ausformungen dieser Polarität eröffnen sich wahrhaft „europäische Perspektiven“, die den Blick auf den europäischen Diskurs der Zukunft neu eröffnen.
Die Redaktion