Ungarn als Brückenkopf der Stabilisierung und der Integration in der Region.
OWEP: Ungarn wird voraussichtlich in der ersten Runde der so genannten Ost-Erweiterung Mitglied der Europäischen Union werden. Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf der Beitrittsverhandlungen und welche Schwierigkeiten sind vor deren Abschluss noch zu lösen?
Martonyi: Auf Grund des in Nizza beschlossenen Fahrplans sind die Beitrittsverhandlungen spürbar intensiver geworden. Von den 29 Verhandlungskapiteln hat Ungarn bereits 22 vorübergehend geschlossen. Nach meiner Einschätzung ist es ein bedeutender Durchbruch, dass es gelungen ist, die auf die „vier Freiheiten“ (Freizügigkeit von Personen, Kapital, Gütern und Dienstleistungen) bezogenen Kapitel, die die Grundlage des einheitlichen Marktes bilden, sowie das Kapitel Umweltschutz abzuschließen.
Bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte wurde in zahlreichen Studien festgestellt, dass die Mobilität der ungarischen Arbeitskräfte so niedrig ist, dass sie für den Arbeitsmarkt der Mitgliedsländer keine Gefahr darstellen. Daher waren wir der Meinung, dass durch den Beitritt die Freizügigkeit der Arbeitskräfte gewährleistet werden soll. Nach der nun erzielten Übereinkunft werden für eine gewisse Zeit nationale Regelungen gelten. Das macht es möglich – Schweden und die Niederlande sagten schon zu –, dass einzelne Mitgliedsländer den ungarischen Arbeitskräften gleich nach unserem Beitritt die volle Freizügigkeit gewähren. Die Mitgliedsländer verpflichteten sich außerdem, nach unserem Beitritt die Möglichkeiten für ungarische Arbeitskräfte, auf den Unionsmarkt zu gelangen, erheblich zu verbessern.
Im Kapitel über den freien Kapitalverkehr ist das Eigentum am landwirtschaftlich genutzten Grund und Boden für uns eine in wirtschaftlicher Hinsicht sensible Frage. Da die Bodenpreise in Ungarn viel niedriger sind als im europäischen Durchschnitt, akzeptierten die Mitgliedsländer, dass das Verbot, Ackerland zu kaufen, für ausländische natürliche und juristische Personen nach unserem Beitritt für sieben Jahre aufrechterhalten wird. Diejenigen aber, die aus den Mitgliedsländern kommen, landwirtschaftliche Tätigkeit hauptberuflich ausüben und sich in Ungarn niederlassen, können schon nach drei Jahren Ackerland käuflich erwerben.
Auf der Tagesordnung stehen nun die wirklich gewichtigen und komplexen Fragen, die gleichzeitig auch in finanzieller Hinsicht von besonderer Bedeutung sind, wie die Landwirtschaft oder die Struktur- und Regionalfonds. Wir sind weiterhin bestrebt, das Tempo der Beitrittsverhandlungen zu bewahren und, wenn möglich, zu beschleunigen. Bis zum Ende des Jahres 2001 werden wir voraussichtlich noch weitere Kapitel abschließen können. Daher bin ich überzeugt, dass es uns gelingen wird die Verhandlungen im Laufe des Jahres 2002 erfolgreich abzuschließen. Ungarn wird somit Ende 2002 für den Beitritt bereit sein.
OWEP: Zur Zeit steht noch nicht fest, welche Länder wann in die EU aufgenommen werden. Offiziell soll allein die Erfüllung der wirtschaftlichen und politischen Kriterien über den Beitrittszeitpunkt entscheiden. Werden aber letztlich nicht doch politisches Kalkül und historische Rücksichtnahme darüber entscheiden, wer zur ersten Runde der Beitrittskandidaten gehört?
Martonyi: Die politische Entscheidung ist gefallen, als sich die Mitgliedsländer für die Ost-Erweiterung ausgesprochen und damit den wirklich historischen Prozess der europäischen Wiedervereinigung eingeleitet haben. Auch das Datum gewinnt immer konkretere Gestalt. Heute ist schon klar, dass die ersten Beitritte zwischen 2003 und 2005 erfolgen werden. Die Europäische Union hat in Nizza bekräftigt, dass sie ab 2003 zur Erweiterung bereit stehen wird. Die Mitgliedsstaaten haben darüber hinaus ihren Willen artikuliert, dass die ersten neuen Mitglieder bereits an den Europawahlen 2004 teilnehmen sollen. Ich rechne damit, dass Ungarn an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 schon als gleichberechtigtes Mitglied teilnehmen wird.
Neben dem politischen Willen sind auch die Beitrittsbedingungen bekannt. Wir halten es für grundlegend wichtig, dass der Grundsatz der individuellen Behandlung der Beitrittskandidaten aufgrund ihrer Leistung restlos eingehalten wird. Welches Land als erstes Mitglied werden kann und wann, kann also ausschließlich von der Vorbereitung der einzelnen Kandidaten und dem Fortschritt der Verhandlungen abhängen. Wir vertreten markant den Standpunkt, dass der Beitritt eines Kandidatenlandes nicht mit dem eines anderen gekoppelt werden kann.
OWEP: Was erhofft sich die ungarische Regierung und was erwarten die Menschen in Ungarn von der EU-Mitgliedschaft? Überwiegen in Ihrem Land die Hoffnungen oder gewinnen auch in Ungarn die Euroskeptiker zunehmend an Gewicht?
Martonyi: Seit der Wende besteht innenpolitischer Konsens über die Frage der Integration Ungarns in die euroatlantischen Strukturen. Dies wurde voriges Jahr durch die gemeinsame Erklärung der im Parlament vertretenen Parteien weitgehend bekräftigt. Es besteht volle Einigkeit in der Frage, dass die ungarische Nation ihr Schicksal und ihre Zukunft in der europäischen Integration sieht.
Neben den politischen Kräften spricht sich auch die Öffentlichkeit eindeutig für den Beitritt aus. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Beitritt und die Tendenz ist eindeutig steigend. Das ist auch nach außen sehr wichtig, es ist ja bei den Verhandlungen von grundlegender Bedeutung, welche innere Unterstützung der Beitritt genießt. Und diese Unterstützung baut nicht auf Illusionen auf, sondern auf den Vorteilen, die die Mitgliedschaft bieten kann. Seit 1996 läuft ein Öffentlichkeitsprogramm, das über alle Fragen des Beitritts umfassend und ausgeglichen informiert, damit die Öffentlichkeit ermessen kann, was ihr der Beitritt bringen wird.
OWEP: Welche Auswirkungen wird der EU-Beitritt Ungarns auf die Beziehungen zu seinen östlichen und südöstlichen Nachbarn (Serbien, Rumänien, Ukraine) haben, die voraussichtlich noch längere Zeit nicht zur EU gehören werden? Wird sich die Grenze zwischen dem „Westen“ und dem „Osten“ nur ein Stück weiter nach Osten verschieben oder kann Ungarn die Rolle eines Brückenlandes zwischen Ost und West einnehmen?
Martonyi: Für uns bedeutet der Aufstieg der gesamten Region nachhaltige Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Ungarn ist keine Brücke, sondern sieht sich eher als Brückenkopf der Stabilisierung und der Integration in der Region. Wir übernehmen und erfüllen die daraus folgende Aufgabe: die Ausstrahlung der Stabilität in die Region. Die Weitergabe der Integrations-, Wirtschafts- und Transformations¬erfahrungen bedeutet eine wirksame politische und diplomatische Hilfe bei der allmählichen Eingliederung der ost-, mittel- und südosteuropäischen Länder in die euroatlantischen Organisationen. Es ist unser grundlegendes Interesse, dass die europäische Erweiterung ein offener Prozess bleibt.
Ich bin überzeugt, dass unser Beitritt die ungestörten Beziehungen mit den Nachbarländern in keiner Weise hindern wird. Als Mitgliedsland werden wir vielmehr die Möglichkeit haben, die Entwicklung der Nachbarn und der Region tatkräftig zu fördern. Wir betrachten die Förderung einer immer engeren und breiteren grenzüberschreitenden und regionalen Zusammenarbeit als wichtige Voraussetzung dafür, dass mit der sich allmählich entfaltenden Wiedervereinigung Europas keine neuen Trennlinien aufkommen. Am europäischen Aufbau werden alle teilhaben, die den Erwartungen entsprechen können und wollen. So wird sich Ungarn in einigen Jahrzehnten wahrscheinlich im geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sinne im Mittelpunkt und nicht am Rande dieses Prozesses finden.
OWEP: Die EU will durch ihre „Ost-Erweiterung“ die Voraussetzungen für das Zusammenwachen unseres geteilten Kontinents schaffen. Wird die europäische Integration ausschließlich durch Politik und Wirtschaft vorangetrieben oder kann auch die Zivilgesellschaft diesen Prozess mitgestalten? Welche Bedeutung kommt Ihrer Meinung nach den christlichen Kirchen im europäischen Integrationsprozess zu?
Martonyi: Europa war nie ein bloßer geographischer Begriff. Europa ist eine Wertegemeinschaft: Die europäische Integration baut auf der Gleichheit der geistigen und moralischen Werte der teilnehmenden Staaten und Völker auf. Eine Quelle des Europäertums stellen gerade die durch das Christentum verkörperten Werte dar. Heute ist die Diskussion über die Zukunft Europas, über ein europäisches Verfassungswerk und über eine wahrhaftige politische Union bereits voll im Gange. Diese sollte auf Grundsätzen und moralischen Werten beruhen: Nur so kann die Zusammengehörigkeit gesichert und gestärkt werden, nur das kann die wirkliche europäische Identität hervorbringen.
Europa ist zum Europa der Bürger und der Bürgerrechte geworden und bei der moralischen Erneuerung muss es sich neben der politischen Elite auf die Zivilgesellschaft stützen. Die wirtschaftlichen und politischen Überlegungen spielten und spielen bei der Entwicklung der Integration eine unbestrittene Rolle, zugleich muss aber die Entwicklung auch mit der Bewahrung, Übernahme und Erneuerung der geistigen und moralischen Werte einhergehen. Und dabei haben die Kirchen, die im Leben einer jeden Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen, eine bestimmende Bedeutung. Die katholische und die anderen europäischen Kirchen unterstützen auf diesen Grundlagen die Erweiterung und das politische und moralische Zusammenwachsen Europas. Dies ist meine Erfahrung auch in Ungarn, wo die historischen Kirchen den Beitritt unseres Landes eindeutig unterstützen.