Hat der Nationalstaat in Europa Zukunft?
Im November 1998, als die Flucht und Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus den Dörfern des Kosovo in die Berge schon im vollen Gange, als aus den Bergen nächtens Gewehrfeuer sich begegnender UÇK- und jugoslawischer Polizeipatrouillen schon im Hotelzimmer in Prishtina zu hören war, sagte mir Rexhep Qosia, ein Literat mit der Attitüde eines selbstgewissen nationalistischen Studienrats vom Ende des 19. Jahrhunderts: Nach dem Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts habe jetzt die zweite Runde der Nationalstaatenbildung auf dem Balkan begonnen. Ich entgegnete ihm, wir lebten nicht mehr im 19. Jahrhundert, wir lebten nach Helsinki; jetzt verändere man keine Grenzen mehr, man mache sie durchlässig.
Qosia gehörte zu den von Rugovas Politik Enttäuschten, der gewaltfrei, aber eben auch vergeblich die kosovarisch-albanische Unabhängigkeit forderte. Zur Zeit erleben wir im Presevo-Tal in Südserbien und im albanisch besiedelten Teil Makedoniens die letzten Provokationen einer Minderheit von UÇK-Desperados zugunsten ihres Traumes von Großalbanien. Er wird sowenig in Erfüllung gehen wie Tudjmans Traum von Großkroatien oder Miloševićs von Großserbien. Zurückbleiben wird ein Kosovo, wo fast jede Familie Opfer und Vertreibung zu beklagen hat, weshalb eine Rückkehr zum status quo ante in eine „weitestgehende Autonomie innerhalb der serbischen Republik“ so wenig möglich scheint wie der Eintritt Kosovos als „Dritte Republik“ in den jugoslawischen Staatsverband. Zurückbleiben wird ein Montenegro, das in Jugoslawien verbleibt, sofern seine Forderungen nach gleichberechtigtem Verfassungsrang erfüllt werden, sonst aber weiter seinen Weg in die Unabhängigkeit suchen wird. Zurückbleiben werden auch frustrierte Kroaten in der Herzegowina und Serben in der Republika Srpska, die sich unter wohlmeinendem Druck des UN-Protektors an ein Zusammenleben mit muslimischen Bosniaken in der gemeinsamen Republik Bosnien und Herzegowina gewöhnen müssen – und eben nicht „Nationalstaaten“ mit Serbien bzw. Kroatien werden bilden können. Jugoslawien, jene staatliche Klammer um das multiethnische, multikonfessionelle, multikulturelle Zusammenleben auf dem Balkan zerfiel in den inneren Grenzen der Tito-Verfassung. Der Versuch, dabei mit dem Mittel ethnischer Säuberungen Nationalstaaten zu bilden, scheiterte, weil die nach Helsinki 1975 in Europa ausgebildeten menschen- und minderheitenrechtlichen Vorstellungen dem entgegenstanden.
Die mörderische Form, mit der versucht wurde, insbesondere einen serbischen Nationalstaat auf der Grundlage historischer wie gegenwärtiger Siedlungsgebiete zu schaffen, ließ schaudern vor dem Gedanken, was ähnliche Versuche der Nationalstaatsbildung auf ethnisch-rassistischer Grundlage zur Folge hätten, sollte ein solches Denken sich der Gemüter in dem weit größeren Raum zerfallender Ein-Parteien-Herrschaft bemächtigen, der früheren Sowjetunion. Ansatzweise ist es dazu gekommen. Die ersten Flüchtlinge russischer und anderer nationaler Minderheiten, die in Moskau während des Zerfallsprozesses der Sowjetunion ankamen, stammten aus dem Fergana-Tal, jenem fruchtbaren Tal, in dem die ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan aneinander grenzen. In den Flüchtlingslagern von Baku leben etwa eine Million aus Nagorny-Karabach vertriebener Azeris, in den Lagern in Georgien etwa eine Million aus Abchasien Vertriebener.
Es sind dies die „frozen conflicts“, die seit zehn Jahren international kontrolliert werden, aber kaum lösbar scheinen. Die Geografie auch dieser Konflikte hat damit zu tun, dass eine Einparteienherrschaft, diesmal die der Sowjetunion, in den Grenzen ihrer Verfassung zerfiel. Sie war entworfen von einer durch Stalin definierten Nationalitäten- und Großmachtpolitik: Jeweils verschiedene Ethnien sind in Staaten oder autonomen Republiken zusammengebunden worden, so Georgien und Abchasien, indem Abchasien autonom innerhalb der Republik Georgien wurde, so noch krasser die Völkerschaften im russischen Kaukasusvorland. Einfache Lösungen sind da schwer zu finden, sowohl vom Selbstbewusstsein der beteiligten Völker her als auch aufgrund der russischen Politik, die das Prinzip des „divide et impera“ gerade für Transkaukasien beibehält. So bleibt Armenien im Bündnis mit Russland, während sich Georgien von russischer Dominanz zu befreien sucht und um die Aufgabe der letzten vier russischen Militärstützpunkte verhandelt.
Die schlimmsten Folgen ethnischer Separation aber würden in der Ukraine entstehen: 22 % ihrer Bevölkerung sind Russen, 72 % Ukrainer. Deshalb muss man wünschen, dass ein ethnischer Nationalstaat in diesem Teil Europas auch in Zukunft keine Verfechter findet.
Es ist zu fragen, von welchem Europa wir überhaupt sprechen. Die EU ist bisher ein Staatenbund sui generis. Mit ihrer Osterweiterung auf mehr als 27 gleichberechtigte Staaten wird sie in ihrem zentralen Lenkungsorgan, dem Rat, immer unfähiger zu effizienter Regierung. Deshalb wird seit einem Jahr intensiv um ihre zukünftige Gestalt debattiert. Es geht im Kern um die Frage, wie weit sich der Nationalstaat vergemeinschaften lässt. Dabei wird immer deutlicher: Angesichts des über Jahrhunderte gewachsenen und ungebrochenen Verhältnisses der westeuropäischen und der skandinavischen Völker zur Nation und der erst mühsam gegenüber sowjetischer Beherrschung von den mittel-osteuropäischen Völkern zurückgewonnenen nationalen Souveränität ist eine Vergemeinschaftung unter Aufgabe des Nationalstaats diesen Ländern sehr viel weniger zuzumuten als den Deutschen, die über Jahrhunderte in Ländervielfalt, erst seit 1870 in einem Nationalstaat lebten und die seit 1945 nur noch ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer Nationalgeschichte haben.
Zu Beginn der Debatte hatte Außenminister Fischer in seiner Rede vor der Humboldt-Universität eine Europäische Föderation vorgeschlagen, unter Berücksichtigung nationalstaatlicher Elemente. Den meisten gewachsenen Nationalstaaten, insbesondere England und den skandinavischen Ländern, ging eine solche Umformung zu weit. So spricht Fischer heute von einer Föderation der Nationalstaaten und trifft sich in diesem Modell mit den jüngsten Vorschlägen des französischen Ministerpräsidenten Jospin. Auf welches Modell sich EU-Europa in seiner finalen Gestalt endgültig einigen wird, sei dahingestellt. Sicher ist: Die Nationalstaaten bleiben, in wie auch immer gebrochener Form, Bausteine eines kooperativen Europa.
Anders steht es mit den Ländern jenseits der polnischen Ostgrenze. Die politischen Eliten dieser neuen Staaten stammen aus Einparteiensystemen, in denen die politische Klasse sich weitgehend identisch fühlte mit den Parteikadern. Die Transformation in Marktwirtschaften führt dazu, dass diese ihre Interessen über die Staatenbildung abzusichern suchen. So sehr für sie die Vorstellung, sich Europa zu öffnen, auch mit der Vorstellung des Beitritts zur EU verbunden ist, so wissen sie doch, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen hierfür auf lange Sicht noch nicht gegeben sind. Deshalb streben sie zunächst die Mitgliedschaft im Europarat an. Der Europarat aber versteht sich als Zusammenschluss europäischer Länder, die sich zu den gleichen Werten und Normen bekennen, zu Menschen- und Minderheitenrechten. Der Übergang zu „europäischen“ Staaten in diesem Sinne bedeutet nicht nur die Transformation zu einer Marktwirtschaft, sondern vor allem auch die Demokratisierung einer zuvor in totalitären Einparteiendiktaturen lebenden Gesellschaft. Rückfall in ethnischen Nationalismus zu vermeiden, ist die Hauptaufgabe der sich transformierenden politischen Eliten und der Gesellschaften. Insofern sind die osteuropäischen Länder „Demokratien im Werden“.
Zu oft wird Europa gleichgesetzt mit der EU. Es ist wichtig zu sehen, dass es neben der EU ein größeres Europa gibt, in dem die eigentliche Auseinandersetzung um demokratische Staatsbildung erst geführt wird. Für sie taugt der Begriff des Nationalstaats nicht, weil er zu stark dem Missverständnis einer Formierung auf ethnischer Grundlage ausgesetzt ist.