Ein Graben ohne Brücke?

Aktuelle Probleme in der Ökumene zwischen Ost und West
aus OWEP 4/2001  •  von Dagmar Heller

Dr. Dagmar Heller ist Referentin für ökumenische Fragen und Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen beim Kirchenamt der EKD in Hannover.

Die Spaltung zwischen Ost und West im kirchlichen Bereich ist wesentlich älter als die Kirchenspaltung, die durch die Reformation hervorgerufen wurde. Allgemein wird das Jahr 1054 als Datum angegeben. Wer aber die Kirchengeschichte genauer kennt, weiß um die wesentlich frühere Entfremdung zwischen Ost- und Westkirche. Zeitgleich mit solchen Divergenzen gab es aber immer auch Bemühungen um eine Wiederannäherung und um Wiederherstellung der Einheit. Damit ist die Ökumene zwischen Ost- und Westkirche die ältere im Vergleich zu anderen ökumenischen Bemühungen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bedauerlich und zum Teil für westliche Beobachter auch unverständlich, dass sich gerade diese Beziehungen innerhalb der ökumenischen Bewegung als besonders schwierig erweisen – eine Schwierigkeit, die in den letzten Jahren einen gewissen Höhepunkt erreicht hat.

Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, diese Schwierigkeiten besser zu verstehen, um sie von der Wurzel her angehen zu können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung der Spannungen zwischen den orthodoxen Kirchen und den nicht-orthodoxen Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen (abgek.: ÖRK).

Schwierigkeiten der orthodoxen Kirchen mit den nicht-orthodoxen

Schwierigkeiten der orthodoxen Kirchen in der Gemeinschaft des ÖRK sind im Laufe der gemeinsamen Geschichte immer wieder zutage getreten. Aber in den letzten Jahren wurden diese Schwierigkeiten sehr viel deutlicher und auch schärfer zum Ausdruck gebracht – zum ersten Mal in den Beschlüssen einer inner-orthodoxen Tagung, die im April/Mai 1998 in Thessaloniki stattfand. Dieses Treffen wurde auf Veranlassung der Russischen Orthodoxen (abgek.: ROK) und der Serbischen Orthodoxen Kirchen im Vorfeld der 8. Vollversammlung des ÖRK einberufen, um eine gemeinsame Strategie der Orthodoxen auf der Vollversammlung zu beraten, nachdem die Georgische Orthodoxe Kirche ihren Austritt aus dem ÖRK und der KEK erklärt hatte1, Bulgarien einen ähnlichen Schritt überlegte und die Synode der ROK einen solchen knapp verhindert hatte.

Das Papier von Thessaloniki beginnt mit einer deutlichen Verurteilung von “schismatischen” und “extremistischen Gruppen” innerhalb der orthodoxen Kirchen, die sich anhand des Themas “Ökumene” gegen ihre Kirchenoberen auflehnen. Dies ist eine deutliche Abgrenzung gegenüber denjenigen, die z. B. in Georgien den Patriarchen mit der Androhung eines Schismas unter Druck setzten, um den Austritt aus dem ÖRK zu erwirken. Gleichzeitig wird die Teilnahme an der ökumenischen Bewegung als in der orthodoxen Tradition verankert festgehalten und die Fortsetzung der ökumenischen Arbeit bekräftigt. Nach diesem positiven Einstieg wird jedoch eine Entwicklung in einigen protestantischen Mitgliedskirchen des ÖRK beklagt, die für Orthodoxe unannehmbar ist. Die Orthodoxie musste sich im ÖRK oft mit ihr fremden Themen beschäftigen, wie z. B. Interkommunion mit Nicht-Orthodoxen, inklusiver Sprache, Frauenordination, Rechte sexueller Minderheiten und Probleme des religiösen Synkretismus. Die Haltung der Orthodoxen erscheint dabei stets als Minderheitenvotum. Die Entwicklung der Ökumene geht statt in Richtung einer Annäherung auf eine Vertiefung des Grabens zwischen Orthodoxen und Protestanten. Daher wird eine radikale Neustrukturierung des ÖRK gefordert. Dann folgt die Empfehlung an alle orthodoxen Delegierten bei der Vollversammlung in Harare, ökumenischen Gottesdiensten fern zu bleiben und nicht abzustimmen außer bei Angelegenheiten, die die Orthodoxen betreffen. Schließlich wird die Idee, eine “gemischte Kommission” einzurichten, vorgetragen, um eine für die Orthodoxen akzeptierbare Form der Beteiligung am Ökumenischen Rat der Kirchen zu erarbeiten.

In anderem Rahmen fand dieses Treffen eine Fortsetzung in der Zusammenkunft orthodoxer Delegierter für Harare in demselben Jahr in Damaskus, diesmal unter Einbeziehung auch der orientalisch-orthodoxen Delegierten. Hier wurde deutlich, dass durchaus keine Einigkeit darüber bestand, wie weit an Abstimmungen teilgenommen werden sollte. Hinsichtlich der Schwierigkeiten Orthodoxer mit den anderen Mitgliedskirchen des ÖRK werden die Frage der Mehrheitsabstimmungen und die ekklesiologische Frage als Hauptprobleme genannt. Zur Frage des gemeinsamen Betens wird nur bemerkt, dass “die erhöhte Spannung in unseren (d. h. den orthodoxen, DH) Kirchen im Hinblick auf dieses Problem und der veränderte Charakter dessen, was wir in den vergangenen Jahren und Vollversammlungen als ‚ökumenischen Gottesdienst‘ erlebt haben”, das gemeinsame Gebet schwieriger machen als bisher. Die angedeutete Schwierigkeit wird deutlicher in einem Artikel von Bischof Vasilios Karayiannis2, wonach das Gebet in der orthodoxen Auffassung die wesentliche Beziehung des Menschen zu Gott betrifft, also nicht nur ein soziologisches Phänomen ist. Wenn, wie das in vielen ökumenischen Gottesdiensten der Fall ist, (liturgische) Elemente aus verschiedenen Traditionen einfach zusammengemischt werden, werden Gebet oder Gottesdienst auf Folklore oder eine Art “Show” reduziert, zumal der ekklesiologische und ekklesiale Charakter fehlt. Ähnliche Schwierigkeiten gelten für Diskussionen über Themen der “christlichen Moral”.

Aus beiden Texten wird deutlich, wie sehr man einerseits um die Fortsetzung der ökumenischen Arbeit bemüht ist, gleichzeitig aber die kritischen Stimmen in den eigenen Reihen sehr ernst nimmt und um die inner-orthodoxe Einheit besorgt ist. Die gleiche Ambivalenz zeigte sich dann in der tatsächlichen Haltung der orthodoxen Delegierten auf der Vollversammlung im Dezember 1998 in Harare: Nur ein Teil folgte den Empfehlungen von Thessaloniki. Die grundlegenden Probleme, die in Thessaloniki und Damaskus formuliert worden waren, wurden von den Delegierten der nicht-orthodoxen Mitgliedskirchen des ÖRK mit großer Betroffenheit und Sensibilität gehört. Ergebnis war der Beschluss zur Bildung einer “Sonderkommission”, die zu 50% aus orthodoxen, zu 50% aus nicht-orthodoxen Vertretern bestehen soll.

Die Verlautbarungen der Bischofssynode der ROK

Um die Gesamtsituation zu erfassen, muss hier kurz über die Diskussionen im ÖRK hinaus geblickt werden. Mit Bestürzung auf Seiten der westlichen Kirchen wurde vor allem ein Papier der Russischen Orthodoxen Bischofssynode vom August 2000 über “Grundlegende Prinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Nicht-Orthodoxen”3 aufgenommen. Ähnlich wie in den oben vorgestellten gesamt-orthodoxen Texten ist der Zwiespalt zu spüren zwischen dem Willen, an der Ökumene weiterhin beteiligt zu sein, und der harschen Kritik aus den eigenen Reihen. Viel schärfer als die bisherigen Verlautbarungen profiliert dieser Text die Einzigartigkeit der orthodoxen Kirche als der „wahre(n) Kirche Christi, geschaffen von unserem Herrn und Heiland selbst.” Die „Gemeinschaften“, die sich von der orthodoxen Kirche abgespalten haben, sind zwar „nicht völlig der Gnade Gottes verlustig gegangen“, aber es wird deutlich gemacht, dass Einheit nur durch „Rückkehr in die Einheit der Kirche“ wiederhergestellt werden kann.

Wie weiter dargelegt wird, besteht offenbar auf Seiten der orthodoxen Kirchen ein grundlegend anderes Verständnis von der Einheit der Kirchen und damit von den ökumenischen Bemühungen überhaupt, als dies bei den reformatorischen Kirchen der Fall ist: Auf der orthodoxen Seite wird die Suche nach Einheit als Überwindung einer grundlegenden Spaltung verstanden, während nach protestantischer Auffassung nur eine bereits bestehende Einheit sichtbar gemacht werden muss. Für die Protestanten geht es um die Versöhnung von legitimen Unterschieden, die die Orthodoxie allerdings als trennend und damit als inakzeptabel versteht. Hier kommt eine unterschiedliche Ekklesiologie zum Tragen: Die Auffassung von der irdischen Kirche, wie sie sich in der orthodoxen Kirche als der Kirche Jesu Christi darstellt, steht gegen die Auffassung von der Kirche als menschlicher Institution, die von der unsichtbaren Kirche als eschatologische Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Beide Auffassungen stehen sich somit diametral gegenüber, und zwar in einem Sinne, der eine gewisse Unausgeglichenheit beinhaltet. Von protestantischer Seite ist eine Anerkennung der Orthodoxen als Kirche möglich, sofern man zeigen kann, dass das Evangelium „rein gepredigt und die Sakramente gemäß dem Evangelium gefeiert werden“4. Von orthodoxer Seite ist solch eine Anerkennung wesentlich schwieriger, da die „Ordnungen“, also das Bischofsamt und seine Weitergabe, entsprechend der orthodoxen Praxis als wesensmäßig zur Kirche zugehörig verstanden werden.

Die Charta Oecumenica

An dieser Stelle muss auch auf die Charta Oecumenica eingegangen werden, die am Sonntag nach Ostern 2001 in Straßburg vom Präsidenten der KEK und dem Vorsitzenden des Rates der (katholischen) Europäischen Bischofskonferenzen unterzeichnet wurde. Dieses Dokument ist ein Versuch, der Ökumene in Europa mehr Verbindlichkeit zu verleihen. Dabei fällt u. a. auf, dass unter der Überschrift „Miteinander beten“ die Verpflichtung lautet: „Wir verpflichten uns, füreinander zu beten.“5 Im ersten Entwurf dieses Textes hatte an dieser Stelle zusätzlich das Wort „miteinander“ gestanden, das aber auf Antrag des russisch-orthodoxen Vertreters in der Redaktionsgruppe gestrichen wurde, um dem Papier in Russland überhaupt eine Chance zur Beachtung zu geben.6 Dennoch hat sich ein Sprecher der ROK nach der Unterzeichnung von der Charta distanziert.7 Hier wird deutlicher als in den bisher dargestellten Dokumenten, dass die Schwierigkeiten der Orthodoxie nicht nur die protestantischen Kirchen betreffen, sondern auch die Römisch-Katholische Kirche. Allerdings sind in dieser zwischenkirchlichen Beziehung die Unterschiede in der Ekklesiologie anders gelagert.8

Hintergründe

Wie tief der angedeutete Graben zwischen Ost und West ist, zeigt sich ganz besonders augenfällig in den erwähnten Äußerungen zum gemeinsamen Gottesdienst. Wie Karayiannis ausführt, gibt es hier v.a. zwei Schwierigkeiten: Einige fundamentalistische Orthodoxe berufen sich auf altkirchliche Kanones, die einem Christen das gemeinsame Beten mit Häretikern verwehren9, und beziehen den Begriff „Häretiker“ auf alle Nicht-Orthodoxen. Aber selbst für Orthodoxe, die nicht so weit gehen, sind ökumenische Gottesdienste nicht unproblematisch, da ihr Gottesdienstverständnis sehr viel stärker auf die als mystisch zu bezeichnende Gottesbeziehung hin verstanden wird, während die westlichen Kirchen stärker den zwischenmenschlichen und Gemeinschaftsaspekt hervorheben.10 Die Frage, die sich hier stellt, ist nun die, weshalb dieser Graben sich gerade jetzt auftut und wie er zu erklären ist. Zwei Entwicklungen scheinen mir hier eine Rolle zu spielen.

Die politische Entwicklung in Osteuropa und deren Folgen

In der Zeit der sozialistischen Regime war es nur einer kleinen Gruppe von Kirchenvertretern möglich, an der ökumenischen Bewegung mitzuarbeiten. Gleichzeitig bestanden für diese kaum Möglichkeiten, ökumenische Erkenntnisse oder Erfahrungen an die Basis des Kirchenvolkes weiter zu vermitteln. Daher gab es so gut wie keine Rezeption der Ergebnisse ökumenischer Gespräche in den orthodoxen Kirchen Osteuropas. Gleichzeitig erscheint Ökumene nach dem Umbruch im Rückblick als Arbeit in engster Verbindung mit den sozialistischen Regierungen, da es den orthodoxen Ökumenikern nur durch Kontakte mit diesen Regierungen möglich gewesen war, an ökumenischen Tagungen im Ausland teilzunehmen. Hinzu kam nach der Wende eine regelrechte Überschwemmung der osteuropäischen Länder durch evangelikale oder gar sektiererische Gruppen aus den USA, aber auch aus Westeuropa und Asien (v. a. Korea), die das theologische Urteilsvermögen der wenigen, oft nur minimal theologisch ausgebildeten orthodoxen Kleriker überforderte. Die psychologisch leicht erklärbare Reaktion ist Unsicherheit und Angst und damit Abwehr gegen alles, was aus dem Westen kommt. Dies wird verstärkt durch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem Westen, das beispielsweise in der russischen Geschichte schon in früheren Zeiten entstanden ist. Schließlich ist auch nicht zu verkennen, dass vor allem viele Neu-Gläubige die Orthodoxie, wohl unbewusst, als Ersatz für die Ideologie des Sozialismus verstehen und dementsprechend geprägt mit dem neuen Glauben umgehen.11 Die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit erleichtert außerdem die Kritik an ökumenisch ausgerichteten Kirchenleitungen und bringt sogar Phänomene wie Erpressung hervor.

Die historische und geistesgeschichtliche Entwicklung

Dies erklärt zwar, weshalb die Schwierigkeiten zwischen Orthodoxen und Nicht-Orthodoxen gerade zum jetzigen Zeitpunkt so deutlich zutage treten, aber der tiefe Graben zwischen beiden ist noch nicht ausreichend verständlich. Denn auch in Ländern, die nicht in demselben Maße unter dem Sozialismus gelebt haben, findet sich in den orthodoxen Kirchen die oben dargestellte Haltung gegenüber Nicht-Orthodoxen. Folglich liegen die Probleme tiefer. Wie sich im skizzierten Papier der ROK-Synode gezeigt hat, fällt es der Orthodoxie grundsätzlich schwer, andere Kirchen als „Kirchen“ anzuerkennen. Dies hat zu tun mit einer tiefen Prägung durch die Geschichte. Der Schock, den die Eroberung Konstantinopels 1204, stärker aber noch die ausschließende Errichtung eines lateinischen Patriarchats im östlichen Teil des Römischen Reiches im Zusammenhang der Kreuzzüge hinterlassen hat, wird im Westen kaum wahrgenommen. Dieses Ereignis hat die orthodoxe Ekklesiologie, in der die Eigenständigkeit jeder Ortskirche und deren gleichzeitige Verbindung untereinander, wie sie sich im Prinzip der Pentarchie12 ausdrückt, eine große Rolle spielt, und damit das Vertrauen der Byzantiner in die Einheit mit dem Westen, d. h. zunächst mit Rom, zutiefst erschüttert. Diese Entfremdung wurde noch vertieft durch die Erfahrungen Konstantinopels mit Rom im Zusammenhang der Unionsversuche.13

Spätestens hier wird deutlich, dass an der Ausbildung der Schwierigkeiten zwischen Ost und West beide Seiten ihren Anteil haben. Was 1054 den bereits vorher entstandenen Graben unüberbrückbar gemacht hatte, entwickelte sich weiter. Für die spätere Entwicklung muss die Aufklärung mit ins Spiel gebracht werden, die nur auf der einen Seite des Grabens stattgefunden hat. Offenbar ist es den westlichen Kirchen nicht gelungen, mit der Andersartigkeit der Orthodoxie richtig umzugehen.

Ein Grundproblem liegt darin, dass die protestantischen Kirchen die Orthodoxie unter dem Einfluss von Gelehrten wie z. B. Adolf von Harnack lange als eine theologisch nicht auf gleicher Höhe befindliche Glaubensrichtung verstanden. Dies wirkt sich indirekt bis heute aus, wenn – oft unbewusst – als selbstverständlich vorausgesetzt wird, die Orthodoxen müssten sich den hermeneutischen Erkenntnissen und Methoden westlicher Theologie früher oder später einfach anschließen. Damit werden aber die Orthodoxen mit einem für sie völlig fremden Maßstab beurteilt und mit einem Überlegenheitsanspruch auf protestantischer Seite konfrontiert. Wegen der anderen geistesgeschichtlichen Entwicklung ohne Aufklärung gibt es in der orthodoxen Theologie in Osteuropa wenig Ansätze dafür, die eigene Auffassung zu hinterfragen und dadurch die geschichtliche und kontextuelle Gebundenheit des eigenen Denkens zu erkennen. Daher wird die protestantische Analyse der Orthodoxie von Orthodoxen als Überstülpen eines falschen Bildes empfunden, wodurch ihnen fremde Themen aufgezwungen werden. Beide Seiten beurteilen einander also mit jeweils fremden Maßstäben, was zu Missverständnissen führen muss: Aus einer unhinterfragten Auffassung von der Einzigartigkeit der Orthodoxie heraus wird im ROK-Papier den anderen Kirchen das Kirche-Sein abgesprochen, aus einem aufgeklärten protestantischen Denken heraus wird das theologische Denken der Orthodoxen in seinem Anders-Sein nicht ernst genommen.

Lösungsansätze

Wo die Linien des Grabens zwischen Ost und West verlaufen, ist in der bisherigen Untersuchung deutlich geworden. Aber wie sind diese grundlegenden Unterschiede zu überwinden? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich zunächst die Arbeit der im ÖRK eingesetzten Sonderkommission skizzieren, um dann einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen.

Bisherige Ergebnisse der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK

Die vom ÖRK eingesetzte Sonderkommission konstituierte sich im Dezember 1999. Man arbeitete vier Problembereiche heraus – die Organisationsstruktur des ÖRK, Stil und Ethos des gemeinsamen Lebens im ÖRK, Theologische Konvergenzen und Differenzen, Modelle für einen neuen strukturellen Rahmen für den ÖRK – und bildete dementsprechend vier Unterausschüsse.

Auf der zweiten Sitzung wurden aus den Berichten der Unterausschüsse Zwischenergebnisse zur weiteren Prüfung erarbeitet, die auf der Sitzung des Zentralausschusses des ÖRK im Februar 2001 vorgelegt wurden. Die Sonderkommission schlägt vor, die Mitgliedschaft von Kirchenfamilien zu untersuchen.14 Außerdem wird für die Entscheidungsfindung im Rat angeregt, in Zukunft insbesondere in Fragen der Lehre und der sozialen, ethischen und politischen Haltung das Konsensverfahren anzuwenden. Zusätzlich wird die Möglichkeit eines paritätisch besetzten Geschäftsausschusses ins Auge gefasst. Die Vorschläge im Hinblick auf gemeinsame Gottesdienste empfehlen, jeglichen Synkretismus wie auch die inklusive Sprache beim Reden von Gott zu vermeiden. Unklar bleibt die Bedeutung des Satzes „Das gemeinsame Gebet sollte aus den lebendigen liturgischen Traditionen der ÖRK-Mitgliedskirchen erwachsen“. Außerdem wird gefordert, die orthodoxe Ekklesiologie solle erklären, ob es in ihr Raum für andere „Kirchen“ gibt. Die reformatorischen Kirchen werden gefragt, wie sie ihre Zugehörigkeit zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche bewahren und zum Ausdruck bringen.

Auch wenn diese Vorschläge noch nicht in ihrer endgültigen Form ausgearbeitet sind, geben sie doch eine Richtung an, aus der die Bemühung deutlich wird, den tiefen Graben, der sich zwischen den Orthodoxen Kirchen und den anderen Mitgliedskirchen des ÖRK aufgetan hat, zu überwinden, indem man den Anliegen der Orthodoxen mehr Gehör zu verschaffen sucht und Vorgänge vermeiden möchte, die bei Orthodoxen Anstoß erregen könnten. Ob damit eine Brücke über den Graben geschlagen werden kann, hängt vor allem davon ab, wie gut es beiden Seiten gelingen wird, diese Vorschläge, aber auch die jeweils andere Position in den jeweils eigenen Kirchen deutlich zu machen.

Grundlegende Überlegungen

Bei dieser Rezeptionsarbeit scheinen mir einige grundsätzliche Überlegungen notwendig zu sein. Nüchtern und gewissermaßen von außen betrachtet haben wir es mit einer Situation zu tun, in der zwei Positionen einander gegenüber stehen, die sich gegenseitig ausschließen, eine potenzielle Konfliktsituation, die ohne den grundlegenden Willen zur Einigung auf Seiten aller Beteiligten nicht gelöst werden kann. Diese Voraussetzung scheint bei Kirchen – zumindest deren, die sich ganz offiziell in der ökumenischen Bewegung engagieren – der Fall zu sein. Jedenfalls werden der Wille zur Einheit und das Leiden an der Spaltung von allen Seiten immer wieder betont.

Der nächste Schritt ist normalerweise das Gespräch miteinander – eventuell unter Vermittlung eines Dritten –, die gegenseitige Darstellung der Situation aus der jeweiligen Perspektive, die Untersuchung der Konfliktsituation, die Klärung von Missverständnissen etc. In der ökumenischen theologischen Diskussion hat man sich bisher vor allem damit beschäftigt, die verschiedenen Positionen kennen zu lernen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden deutlich herausgearbeitet. Wäre es nun nicht an der Zeit, die Entstehung der unterschiedlichen Positionen genauer zu untersuchen? Wäre es nicht an der Zeit, gemeinsam Kirchengeschichte zu schreiben, in der jede Seite darstellt, wie sie die Ereignisse erlebt hat und die Entwicklungen versteht? So würden westliche Christen die Kreuzzüge aus der Sicht der Orthodoxen kennen lernen und verstehen lernen, wie sehr ihre damaligen Fehler zur Kirchenspaltung beigetragen haben. Oder Orthodoxe würden verstehen lernen, dass Lutheraner ihre Kirche und Theologie als Rückkehr zur alten Kirche und zu den Vätern verstehen, nicht einfach als willkürliche Abspaltung von der Kirche. Wäre dann nicht der dritte Schritt Buße und Umkehr von allen beteiligten Seiten? Könnte dieses neue Verständnis der jeweils anderen, könnten Buße und Umkehr nicht dazu führen, dass Forderungen an die jeweils anderen, die auf einseitigen Prämissen basieren, aufgegeben werden?

Von orthodoxer Seite wird immer wieder der „Dialog der Liebe“ betont, vermutlich aufgrund der engen Verbindung von Einheit und Liebe im Grundtext der ökumenischen Bewegung (vgl. Joh 17,20ff.). Was aber bedeutet das genau? Für viele westliche Kirchen scheint ein Widerspruch darin zu bestehen, wenn auf der einen Seite der Dialog der Liebe beschworen wird, auf der anderen Seite das gemeinsame Gebet abgelehnt bzw. Protestanten nicht als Kirchen wahrgenommen werden. Auf der westlichen Seite wird mit dem Begriff Liebe sparsamer umgegangen, z. T. auch aus Angst vor Missbrach. Aber sollten wir uns nicht auf das Liebesgebot als Grundgebot Jesu Christi besinnen? Und sollte Liebe nicht heißen, dass einer den anderen akzeptiert, wie er/sie ist? So wie Jesus kein Urteil über die Sünderin gefällt und mit Judas das Abendmahl geteilt hat? Das würde konkret bedeuten, dass Protestanten Orthodoxe wirklich ernst nehmen, ohne deren Auffassung gleich als veraltet oder konservativ abzutun. Entsprechend wäre auf orthodoxer Seite zu erwarten, dass Protestanten als Schwestern und Brüder anerkannt werden, die denselben Herrn Jesus Christus, die eine Taufe und die Heilige Schrift kennen. Beide Seiten müssten im Gespräch miteinander die Gründe für ihre unterschiedlichen Auffassungen herausfinden. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir unsere unterschiedlichen hermeneutischen Ansätze studieren und überlegen, ob die Gründe für ihre Entstehung legitim sind. Orthodoxe könnten dabei etwas von der Zeitgebundenheit der schriftlichen Dokumente lernen, Protestanten könnten dabei etwas vom Wert der Tradition entdecken und von dem, was man unter „Ökumene in der Zeit“ versteht. In diese Richtung scheint auch das Dokument der ROK zu deuten, wenn es fordert: „Von daher muss eines der wichtigsten Probleme im Dialog der orthodoxen Theologie mit den Nicht-Orthodoxen das der theologischen Sprache, des Verständnisses und der Interpretation sein.“


Fußnoten:


  1. Thomas FitzGerald/Peter Bouteneff, Orthodox Reflections on the Way to Harare, WCC, Genf 1998, S.136, Par. 1. (im Folgenden: Reflections). ↩︎

  2. „What are the Theological Issues that Lie at the Heart of the Orthodox Concerns?“ Veröffentlicht unter www.wcc-coe.org/wcc/who/cretepost-o2-e.html↩︎

  3. Deutsche auszugsweise Übersetzung: ÖR 2/2001, S. 210-215, und Orthodoxie aktuell, September 2000, S. 6-12. In ÖR 2/2001 sind auch zwei Raktionen auf das ROK-Dokument zu finden (Autoren: Johannes Oeldemann und Christof Gestrich). ↩︎

  4. Confessio Augustana, Art. 7. Diese Formulierung wird trotz der innerprotestantischen Unterschiede von protestantischer Seite in diesem Kontext immer wieder als Konsensformel zitiert. ↩︎

  5. Kap. II, Par. 5; Text der Charta: www.cec-kek.org oder www.kath.ch/ccee↩︎

  6. Diese Information entnahm ich einem Vortrag von Dr. Reinhard Frieling, einem Mitglied der Redaktionsgruppe, im Juni 2001 in Walldorf/Baden. ↩︎

  7. Vgl. die Berichterstattung in: ENI Bulletin, Nr. 8, 25.04.2001, S. 29. ↩︎

  8. Dies kann hier nicht vertieft werden. Aber vgl. dazu etwa Anastasios Kallis, Petrus der Fels – der Stein des Anstoßes. Unterschiedliche Kirchenstrukturen in Begegnung und Auseinandersetzung, in: ders., Brennender, nicht verbrennender Dornbusch. Reflexionen orthodoxer Theologie, Münster 1999, S. 358-372. ↩︎

  9. Z. B. Apostolischer Kanon 45: „Jeder Bischof oder Presbyter oder Diakon, der gemeinsam mit Häretikern betet, soll suspendiert werden ...“ (ähnlich Kanon 34 des Konzils von Laodicea, Kanones 2 und 4 des dritten Ökumenischen Konzils und Kanon 9 bei Timotheos von Alexandrien. Zitiert bei Karayiannis aus Vlassios Pheidas, The Holy Canons, Athens 1997, S. 255). ↩︎

  10. Vgl. die Hinweise zum Treffen der Delegierten in Damaskus (oben Anm. 1). ↩︎

  11. Vgl. dazu den Olivier Clément, „Malaise et scandale dans l’Eglise orthodoxe russe“, in: Le Monde, 10. 06.1998, S. 14. ↩︎

  12. Damit ist die Gleichberechtigung der fünf altkirchlichen Patriarchate Jerusalem, Antiochien, Alexandrien, Konstantinopel und Rom gemeint. ↩︎

  13. Vgl. dazu Anastasios Kallis, Ferrara – Florenz (1438-1439). „Räubersynode“ oder Modell eines Unionskonzils?, in: ders., Dornbusch (wie Anm. 21), S. 342-357. ↩︎

  14. Wie das genauer aussehen könnte, hat Metropolit Kyrill von Smolensk in seinem Artikel „A Possible Structure of the World Council of Churches: Proposals for Discussion“, in: The Ecumenical Review 4/1999, S. 351-354 dargelegt. Der Zwischenbericht der Sonderkommission ist abgedruckt in ÖR 2/2001. ↩︎