Bräuche, Brüche, Umbrüche.
Mit der Wende im Jahre 1989 erfüllte sich die Hoffnung vieler Menschen. Zwei Welten, eine sozialistische und eine kapitalistische, öffneten sich einander. Ich erlebte dieses Ereignis in Georgien, in meiner Heimat. Die Erinnerung daran ist noch ganz lebendig.
Oft werde ich gefragt, welche Traditionen das Leben meiner Landsleute prägten. Es gab einen Unterschied zwischen den Ritualen, die von der Regierung festgelegt, und denen, die vom Staat bekämpft, aber gleichzeitig in den Familien gepflegt wurden.
Symbole und Feiern
„Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben!“ So lautete das berühmte Motto in der ehemaligen UdSSR. Heute klingt dieses Motto für mich so, als hätten es die Kommunisten aus der christlichen Liturgie übernommen und anstatt des Namens Christi den Namen des Führers eingesetzt.
Eine Stellwand mit kleinen Fischen aus buntem Papier in einer Kirche in Deutschland, auf jedem Fisch das Foto eines Kommunionkindes, rief bei mir eine ähnliche Erinnerung hervor: Die siebenjährigen Grundschulkinder in der UdSSR wurden in die „Reihe der Oktobristen“ (der Name kommt von der Oktoberrevolution 1917) aufgenommen. Die Oktobristen mussten Brustanhänger in der Form kleiner roter Sterne tragen. Darauf war Lenins Kindheitsfoto zu sehen. In meinem Klassenzimmer hing ein Brett mit diesen Sternen aus rotem Papier und den Klassenkinderfotos darauf.
Das Schmücken des Tannenbaums an Silvester, nicht an Weihnachten wie im Zarenzeitalter oder im Westen, bot eine gute Möglichkeit für das Kombinieren der „veralteten“ Tradition mit den neuen „progressiven“ Riten. So blieb der Stern auf der Spitze des Baumes ein Symbol des Christussterns und ein Zeichen der Kommunisten zugleich. Alle dachten, dass der Baum zu Silvester gehörte und der Stern mit den fünf Ecken „Kommunismus“ bedeutete.
Am siebten November jedes Jahres wurde der Tag der Revolution gefeiert. Für die Schulen und Organisationen war es Pflicht, an der Demonstration auf dem Hauptplatz jedes Ortes teilzunehmen. Unsere Lehrer bekamen Instruktionen „von oben“, uns zu organisieren. Einerseits durch diesen Druck und andererseits aus Freude über die ausgefallenen Unterrichtsstunden marschierten wir durch die Kälte. Wir sollten uns in weißen Hemden mit Pionierhalstüchern als ordentliche Schüler vor der Regierung zeigen. Und alles nach dem Motto: „Augen zu und durch!“ Wenn wir Glück hatten, bestand unsere Aufgabe nur im Gehen und wir brauchten nicht mit Blümchen und Fahnen „freudig“ zu winken oder andere Attraktionen vor der Tribüne darzubieten.
Dagegen pflegten die Menschen andere Bräuche. Obwohl Ostern verboten war, hat fast jede Familie sich darauf vorbereitet. Man färbte die Eier nur dunkelrot. Meine Mutter erklärte uns, dass die Farbe des Blutes den am Karfreitag gekreuzigten Jesus symbolisierte. Bis zum Ostersonntag durften die Eier nicht gegessen werden. Der Duft des fast zwei Tage aufgehenden Osterkuchens erfüllte die Wohnungen. Am Sonntag, dem Tag der Auferstehung, frühstückten wir zusammen. Dann gingen wir auf die Friedhöfe, um die Gräber meiner Urgroßeltern und anderer Verwandter zu besuchen. Auf den Friedhöfen war eine so große Menge von Menschen, dass man mit dem Auto nicht hinfahren konnte. Manchmal musste man sich in einer langen Schlange anstellen, um zum Grab zu gelangen. Am Grab aßen wir einen Teil der roten Eier und den Kuchen. Die restlichen Eier ließen wir auf dem Grab liegen. Symbolisch wurde auch etwas Wein auf das Gedächtnis der Verstorbenen getrunken. Zum Schluss sprengten wir noch etwas Wein auf das Grab. Am Nachmittag gab es ein feierliches Essen bei unseren Großeltern.
Am Ende der achtziger Jahre nahmen immer mehr Menschen an der Osternachtfeier in den Kirchen teil. Diejenigen, die nicht in die Kirche gingen, durften zu Hause im Fernsehen westliche Filme anschauen, die an normalen Tagen nicht ausgestrahlt wurden und extra nach Länge und Thematik ausgewählt waren, um die Ruhe in der Stadt zu bewahren und die Leute von einer Massenwanderung zu den Kirchen abzuhalten. Die Filme liefen fast parallel zur Liturgie in den Kirchen. Wir durften in dieser Nacht vor dem Fernseher aufbleiben.
An Heiligabend (wir nannten den Tag „Weihnachtstag nach dem Neuen Kalender“) wurde bei uns eine kleine Weihnachtspyramide aufgebaut, die meine Tante als Spielzeug aus der DDR mitgebracht hatte. Am siebten Januar, an dem Tag, an dem die Kirche nach dem alten Kalender Weihnachten feierte, waren wir bei unserer Großmutter zum Weihnachtsessen eingeladen. Gewöhnlich gab es eine süße Weizenspeise und Käsegebäck. Das eigentliche Fest war die Neujahrsfeier. In den Kindergärten gab es ausgedehnte Vorbereitungen. Die Kinder haben viele Gedichte, Tänze und Lieder für das Fest im Kindergarten gelernt und eingeübt. Es gab vom Staat angebotene Neujahrsfeiern und Sonderprogramme nur für Kinder, so zum Beispiel den Schneemann analog zum Weihnachtsmann mit dem Bart, der aus dem Wald kam und den Kindern Geschenke brachte.
Medien und Kulturveranstaltungen
Mein Vater war, wie eigentlich alle, besonders begierig danach, Nachrichten aus dem Westen zu hören. Ständig versuchte er den amerikanischen Radiosender „Stimme der Freiheit“ zu empfangen. Die Regierung hatte jedoch Spezialeinrichtungen, die diese „feindlichen“ Wellen störten. Im Ohr blieb mir davon ein unklares Geräusch mit wenigen Wortfetzen und die Klage meines Vaters wegen des schlechten Empfangs.
Von offizieller Seite in Moskau wurden wenige Sendungen über die westliche Welt durchgelassen. Wenn etwas gesendet wurde, dann über Streiks, Gewerkschaftsproteste und Demonstrationen. Im georgischen Fernsehen gab es jedoch eine positive Tendenz zur verdeckten Verbreitung der westlichen Kultur. Es wurden viele Sonderprogramme präsentiert, die verschiedene westliche kulturelle Ereignisse kommentierten. Wir wussten zum Beispiel sehr gut über die Berühmtheiten der Musikwelt Bescheid. Auch die wichtigsten Sportveranstaltungen, die im Westen stattfanden, wurden übertragen. Die Sendung „Illusion“, die immer am Samstagabend kam und allgemein sehr beliebt war, spielte eine große Rolle im persönlichen Entwicklungsprozess vieler Menschen. Durch dieses Programm lernten wir die westlichen Filmklassiker kennen. Filme über den Zweiten Weltkrieg wurden oft gezeigt. Danach spielten die Kinder, beeindruckt vom erlebten Heroismus, „Stalin“ und „Blockade“. Nicht nur das Fernsehen hatte die Funktion einer „Aufklärungsmaschine“. Theater, Konzerte, Opern und Ballett waren sehr populär. Oft war es sehr schwierig, die Eintrittskarten zu den Veranstaltungen zu besorgen. Aber man wollte unbedingt die schönen Aufführungen erleben. All das hat eine sehr wichtige Rolle gespielt, denn es waren die einzigen Möglichkeiten, die Frustrationen der Menschen zur Sprache zu bringen und Kreativität zu beflügeln. Ein erstaunlich deftiger Humor zeigte sich in der Satire, in der Kleinkunst, im Film und im Theater. Meistens wurde über das Regime gelacht.
Bücher
Um gute Bücher zu bekommen, musste man entweder viel Geld bezahlen, gute Bekanntschaften aktivieren oder eine bestimmte Menge von Altpapier abgeben. Dann bekam man einen Schein, mit dem man Bücher oder Schallplatten erwerben konnte. Die Bücher waren ein wichtiger Teil des Familienbesitzes. Die Romane und Erzählungen der russischen und europäischen Klassiker, und natürlich auch die georgische Literatur, standen in den Bücherregalen vieler Familien.
Als Kind hatte ich den Eindruck, dass mein Vater die Bücher „verehrte“. Er hat alle Zeitschriften über westlichen Lebensstil, sämtliche erreichbaren Bücher, Enzyklopädien und Illustrationen über Kunst und Architektur gesammelt. Die Geschichten über Kriegszeiten und die Geschichten über die Kindheit unserer Eltern und Großeltern, die wir immer wieder zu hören bekamen, waren ein beliebtes Mittel der Kommunikation zwischen den Generationen. Der Krieg war in unserer Vorstellung das größte Übel, das es gab. Das Wunder, dass meine beiden Großeltern den Krieg überlebt hatten, faszinierte mich als Kind.
Unsere Schulbücher waren eine Sammlung von manipulierten Fakten, besonders im Fach Geschichte. Die Ironie der Geschichte: Dank der Kritik an den Imperialisten im Zuge der Beschreibung solcher Ereignisse wie der Kreuzzüge oder der Französischen Revolution lernten wir manches über die Geschichte, was eigentlich nicht beabsichtigt war. Die Wahrheit hinter den Schilderungen zu erkennen, war eine große Herausforderung. Ohne die zusätzliche Aufklärung in der Familie hätte ich das nicht vermocht.
Religion im Alltag
Die nicht zu übersehende Ungerechtigkeit der Regierung hat bei vielen Menschen, die ja selber nichts ändern konnten, eine deutliche Protesthaltung ausgeprägt. Das Ideal moralischen, gerechten und solidarischen Handelns bildete eine natürliche Basis für religiöse Erfahrungen. Die alten Bräuche und Überlieferungen brachten Farbe in die Erfahrungen. Sie halfen mir auch in meiner Suche nach Gott. Wenn man in einer Schulklasse gefragt hätte, ob jemand an Gott glaube, hätten wahrscheinlich fast alle Kinder „ja“ gesagt. Fast alle Kinder in meiner Generation – ich bin Jahrgang 1970 – wurden getauft. Die Großeltern waren die letzten, die noch von ihren Eltern über die Religion aufgeklärt worden waren. Meine Großmutter war gläubig und die einzige Kirchgängerin in der Familie. Mein Großvater war der einzige Kommunist in der Familie. Im Gymnasium hatte er aber noch eine religiöse Erziehung genossen. Als wir das herausfanden, musste er für uns Kinder alte Gebete rezitieren. Die Gewohnheiten meiner Großmutter, die Kinder mit Weihwasser zu besprengen, morgens zu beten oder geweihtes Brot nach Hause mitzubringen, wurden ohne Kommentar oder viel Nachfrage respektiert. Sie hat auch immer wieder von ihrem Vater erzählt, der aus christlichen Motiven heraus Almosen an die Armen verteilte.
In den meisten Familien gab es keine christliche Erziehung. Das Beten, die Schriftlesung oder der Gottesdienstbesuch waren in Vergessenheit geraten. Sehr oft aber haben wir Kirchen aus kulturellem Interesse heraus besucht. Dabei haben wir vor den Ikonen manchmal Kerzen angezündet. Über Religion wurde nicht geredet. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich ein Büchlein mit Gebeten geschenkt bekam und dann eine Gebetsecke für mich einrichtete. Erst mit achtzehn Jahren bin ich bewusst zu einer Messfeier in die Kirche gegangen.
Überlieferungen
Meine Mutter hat uns oft griechische Sagen vorgelesen. Dort habe ich zum ersten Mal das Wort „Gott“ wahrgenommen. Georgien war stolz darauf, dass es trotz vieler Gefahren und Kämpfe im Laufe seiner Geschichte das Christentum als Religion bewahrt hatte. Die Legende von der Christianisierung Georgiens war die erste christliche Geschichte, die ich zu Ohren bekam: die Geschichte vom König, der nicht an das glauben wollte, was die Glaubensbotin Nino1 predigte, und der doch einmal in einer schwierigen Lage den Namen Jesu Christi angerufen hatte, worauf er Hilfe erhielt und das ganze Land gläubig wurde. Diese Bekehrungsgeschichte kann ich heute, bei meiner Hinwendung zum Glauben, wieder beobachten.
Eine Bibel hatten wir zu Hause bis Ende der achtziger Jahre nicht. Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal etwas über die Evangelien gehört. Ich brauchte für einen Schulaufsatz eine Stelle aus dem Neuen Testament und stellte dabei fest, dass wir ein Buch hatten, in dem die Evangelien in Altgeorgisch zu lesen waren. Das Buch war zum Zweck der wissenschaftlichen Sprachanalyse herausgegeben worden. Diese erste Begegnung mit der Jesusgeschichte war wichtig für meine persönliche Entwicklung.
Die Wende
Die Situation war reif für eine grundlegende Veränderung. Die Perestroika begann, nachdem Michail Gorbatschow im Jahre 1985 Präsident der UdSSR geworden war. Ich erinnere mich, mit gerade erwachendem politischem Interesse, mit welcher Skepsis die Menschen die von ihm durchgesetzten Maßnahmen aufnahmen. Man war an die bestehenden stagnierenden Umstände gewöhnt. Deswegen ist Gorbatschow auch nie ein richtiger Volksheld geworden. Nur einige verklärten seine Person zu einem apokalyptischen Helden wegen seines Zeichens auf der Stirn.
Die dramatischen Umbrüche der Geschichte waren in allen Republiken der ehemaligen UdSSR ähnlich erschreckend. Nationalistische Visionen standen plötzlich wieder im Vordergrund. Die Republiken, die nur darauf gewartet hatten, selbständig zu werden, verloren die Orientierung. Die gewohnte Stagnation, verbunden mit gewissen Sicherheiten, wurde jetzt vom Chaos abgelöst.
Meine Kommilitonen und ich haben die ersten Jahre an der Universität in Tbilisi mit Demonstrationen verbracht. Die lauten Rufe nach Selbständigkeit hatten unsere „Ohren gesalbt“, wie man bei uns sagt. Mit dem Frieden war es aus und vorbei. Wegen politischer Meinungsverschiedenheiten spalteten sich ganze Familien, Freunde wurden zu Feinden, Fundamentalismus und Fanatismus machten sich breit. Das Thema „Verlorene Generation“ kam immer öfters in meinem Freundeskreis zur Sprache.
Ich wurde 1992 im Urlaub mit meiner Freundin am Schwarzen Meer (Abchasien) vom plötzlichen Ausbruch des Krieges überrascht. Wir, georgische Touristen und Einheimische, wurden als Geiseln festgehalten und nur auf Grund glücklicher Umstände wieder freigelassen. Nie vergesse ich den Augenblick, in dem zwei uns bekannte junge Abchasier uns bei der Abfahrt freundlich zuwinkten, während die Angst vor dem, was in ein paar Tagen auf sie zukommen sollte, in ihren Augen zu lesen war. Die Nachricht, dass zwei meiner georgischen Freunde drei Tage nach Kriegsausbruch in Abchasien gefallen waren, war die erste Nachricht, die ich nach der Rückkehr hörte. Tausende von Menschen mussten aus dem Kriegsgebiet flüchten, ihre Häuser, ihre Männer oder sogar Söhne verlassen. Nach vielen Zerstörungen und Tragödien, die sich in den folgenden Jahren ereigneten, schien es dann langsam, dass das Leben doch weiter ging. Allmählich wurden verschiedene ausländische humanitäre Projekte in Georgien wirksam. Die jungen Leute, die Sprachen beherrschten, fingen an zu arbeiten. Ich selbst hatte eine gut bezahlte Arbeit gleich in mehreren Projekten. Ich übersetzte Texte für Politiker, Handwerker, Bauern, Ministerien und andere Einrichtungen. Meine vorherige Arbeit als Lehrerin, meinen eigentlichen Beruf, gab ich auf, weil ich damit so gut wie nichts verdienen konnte.
Nach der Öffnung der ersten ausländischen Botschaften strebten viele Menschen ins Ausland. Manche flüchteten, manche gingen weg, um Handel zu treiben, andere um ein wissenschaftliches Studium zu beginnen.
Fußnote:
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Der Überlieferung nach brachte die syrische Christin Nino im 4. Jahrhundert das Christentum nach Georgien. Schon 325 (nach anderen Quellen 337 oder 350) wurde es unter König Mirian in Ostgeorgien Staatsreligion (Anm. d. Redaktion). ↩︎