Zerrspiegelbilder
Seit der persönlichen Begegnung mit Polen hat sich mein Blick geschärft für dessen Wahrnehmung in Deutschland. Ich horche auf, wenn in den Nachrichten – was selten genug vorkommt – von polnischer Politik die Rede ist, wenn polnische Sportler bei nationalen oder internationalen Wettkämpfen an den Start gehen, oder ich im Bus auf den Klang der polnischen Sprache treffe. So geht es wohl jedem, der längere Zeit im Ausland verbracht hat. Wer aus Spanien kommt, achtet auf das Spanische, wer aus Frankreich kommt, auf das Französische, und wer aus Amerika oder England kommt, auf das Englische. Wobei letzteres vielleicht schon zu selbstverständlich seinen Weg in den deutschen Alltag – und die deutsche Sprache – gefunden hat, als dass es noch besonders wahrgenommen werden würde. Aber während die Mauer zu Deutschland von der polnischen Seite immer mehr bröckelt, weist sie auf deutscher Seite immer noch eine beunruhigende Standfestigkeit auf.
In beiden Ländern hingen lange Zeit die Bilder vom Nachbarn schief, aber während die Polen dabei sind, Einiges gerade zu rücken, gibt man in Deutschland andere Sorgen vor. Mag das kommunistische Rot der Ziegel von einst verblasst, die politischen Vorbehalte gesunken sein. Die Verträge zwischen den Regierungen lassen kaum noch Spielraum für antipolnische Vorbehalte politischer Art. Aber im Gegensatz zu den Polen mangelt es den Deutschen am Willen, der politischen Vernunftehe auch eine geistige Nähe folgen zu lassen. Es macht mich nachdenklich, dass das „Deutsche Polen-Institut“ noch immer Briefe erreichen mit der Aufschrift „Deutsches Pollen-Institut“ oder „Deutsches Pohlen-Institut“. Auf der Straße blickt die Jugend noch immer Richtung Westen, meist mit gehobenen Köpfen hinüber nach Amerika, wo die Musik herkommt oder wirtschaftliche Innovation. Und wenn die Game-Boy-Hysterie ausbricht oder eine neue Play-Station auf den Markt kommt, blickt man nach Japan nicht über Polen und Russland, sondern geht auch hier den Umweg über Amerika. Die Strecke ist vertrauter, sicherer, populärer. Tritt das polnische Gespenst doch einmal in Erscheinung, dann in den meisten Fällen als Schmutzfink, Autodieb oder Zigarettenschieber. Stereotypen schlagen um sich mit Wortstöcken, lachen dabei ohne zu denken, weil es Spaß macht, auf diese Weise den Eigenwert zu heben.
Natürlich gibt es auch hier Unterschiede, nicht nur zwischen den Generationen. So, wie viele ältere Polen Vorbehalte gegenüber den Deutschen aufgrund von Erfahrungen während des Kriegs haben, sind auch viele ältere deutsche Vertriebene nicht gut auf Polen zu sprechen. Die Vernunft vermag auch hier nicht einzudringen in Köpfe, die vom Schmerz aus der Vergangenheit regiert werden. Die Nachkommen, vor allem die in Deutschland geborenen, haben sich häufig distanziert von der Diskussion ihrer Eltern um das Recht auf die Heimat, eine Heimat übrigens, die sie selbst zum Teil nie gesehen haben, nicht sehen wollten, weil sie in einem Land liegt, das sie nicht interessiert, nicht motiviert: in Polen. Auch bei uns zu Hause ging der Riss von der Vorstellung von Heimat mitten durch die Familie. Für die Schwester meines Vaters, ebenso wie für ihre Mutter, lag die Heimat immer in Oberschlesien. Alben mit alten Fotos wurden gebastelt, alte Lieder gesungen, Heimattreffen veranstaltet. Von meinen Eltern dagegen hörte ich nie etwas in dieser Richtung. Heimat hat man nicht, Heimat baut man sich, hatte mein Vater einmal gesagt.
Polen ist mir in Deutschland als ein trauriges Gespenst entgegengetreten. Geliebt allein von einer Gruppe Polenenthusiasten, die ihr Bestes tut, um wenigstens den Schein zu wahren, die Oberfläche des Gewandes sauber zu halten, deren Idealismus aber kaum über ihre Grenzen hinaus wirksam zu werden vermag. Der Funken springt (noch) nicht über, der Stock wird noch gewetzt über dem Stroh, bisher bleibt das Engagement auf einige wenige, umso wichtigere Institute und Verbände beschränkt. Polnisch spielt als Fremdsprache an Schulen so gut wie gar keine Rolle, ausgenommen vielleicht Grenzregionen, obwohl dort die Vorbehalte dem Land gegenüber am Größten – weil den Problemen am nächsten – sind. Ich treffe kaum auf Deutsche, die in der Lage wären, Russisch und Polnisch auseinander zu halten, oder Breslau, Warschau, und Krakau auf einer Polenkarte einzuzeichnen. Danzig vielleicht, irgendwo am Meer, pi mal Daumen. In Deutschland herrscht eine Art Genickstarre, westliche (Ver)Blendung, die das Begehen der Brücken – die durchaus gebaut werden – unmöglich macht, weil sie für unattraktiv gehalten werden. Als ich in Polen wohnte, kamen mich kaum Freunde oder Bekannte besuchen. Natürlich gab es Versprechungen, natürlich war man neugierig auf dieses Land. Aber die Neugier war bezähmbar, nicht halb so groß, als wenn ich nach New York oder Rio de Janeiro gegangen wäre.
Die „Stummen“ – so die wörtliche Übersetzung von „Deutschland“ im Polnischen – machen ihrem Namen alle Ehre. Sie sprechen kaum mit dem Nachbarn, und wenn, kaum etwas Gutes. Schlagworte wie „kaum in Polen, schon bestohlen“ oder Polenwitze machen die Runde. Nur bei den wenigen, die sich die Mühe gemacht haben, gegen den Strom zu schwimmen, über die Oder gefahren sind um die Begegnung zu suchen, ist die Mauer im Kopf durchbrochen und der Aufgeschlossenheit, dem Verständnis oder gar Begeisterung gewichen. Die Schlagwörter sind in sich zusammengefallen, haben Differenzierungen Platz gemacht, manchmal auch aufrichtiger Achtung und Sympathie. Wer sich von dem polnischen Gespenst in Deutschland nicht abschrecken und sich zu einer Fahrt in dessen Heimat, aus welchen Gründen auch immer, überreden ließ, hat es, so meine Erfahrung, in den seltensten Fällen bereut. Viele Deutsche haben erst in Polen gemerkt, was sie an ihrem eigenen Land haben und – was ihnen dort fehlt.