Frau und Familie im Polen der Transformationszeit
Einführung
Der folgende Beitrag zeigt einige Aspekte der Veränderungen, die die Transformationszeit für das Leben der Frauen und Familien in Polen gebracht hat. Die Problematik von Frau und Familie in einer gemeinsamen Analyse zusammenzufassen, entspricht der traditionellen Familienforschung in Polen, der zufolge die Familie den sozialen Status der Frau bestimmt und die Frau die Hauptverantwortung für das Funktionieren der Familie und die Kindererziehung trägt.
Ich will jedoch darauf hinweisen, dass dies nicht die einzige Forschungsorientierung ist. Die Transformationszeit eröffnete in Polen die Diskussion über Frauenrechte und -probleme, das Bewusstsein der Frauen erstarkte, und Frauengruppen erlebten eine Aktivierung. Es bildete sich eine feministische Perspektive zur Analyse gesellschaftlicher Probleme heraus; sie regte Reflexionen und Diskussionen über die Frage der Chancengleichheit und einer Gleichbehandlung der Geschlechter im beruflichen, familiären und öffentlichen Leben an. Diese Strömung wird heftig kritisiert, ja sogar verurteilt von der katholischen Kirche und von politischen Parteien der nationalen Rechten, die ihr Verrat an der polnischen Tradition, an religiösen und kulturellen Vorbildern vorwerfen.
In der folgenden Analyse halte ich mich jedoch an die traditionelle Konvention der Familienforschung. Dabei will ich die Umwandlungsprozesse darlegen, die auf die Entwicklungs- und Existenzbedingungen der Familie wie auch auf die familiäre und berufliche Rolle der Frau einwirken.
Einfluss der Transformation auf Familie und staatliche Familienpolitik
Die Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems bedeutete für die meisten Familien Hoffnung auf bessere Lebensperspektiven, auf eine Verbesserung der Existenzbedingungen, die Erfüllung der Träume von einem Lebensstandard ähnlich wie in westlichen Zivilisationen. Eine wesentliche Prämisse für die große Entschlossenheit der polnischen Gesellschaft bei ihren Aktivitäten zum Sturz des sozialistischen Systems waren der tiefe Niedergang der Existenz- und Entwicklungsbedürfnisse, das Gefühl, ein sinnloses Leben zu führen, und die zivilisatorische Degradierung. Verantwortung für das „Schicksal der polnischen Familien“ brachten einträchtig alle am „Runden Tisch“ versammelten politischen Kräfte zum Ausdruck.1 Diese Kräfte stärkten den Glauben der polnischen Gesellschaft an die Realisierbarkeit besserer Lebensperspektiven in naher Zukunft. Doch die Schockstrategie bei der Einführung des Marktprinzips in Polens Wirtschaft brachte es mit sich, dass die Familien sich an die neuen Bedingungen unter ökonomischen Realitäten anpassen mussten, die weit schwieriger waren als erwartet. Arbeitslosigkeit und Angst um den Arbeitsplatz, Mangel und Armut, Kommerzialisierung der sozialen Dienste und Rückzug des Staates aus der Wahrnehmung vieler vom Sozialismus ererbter sozialer Pflichten sind eine Dimension der Anpassungsschwierigkeiten.
Die zweite Dimension betrifft die psycho-soziale Sphäre und hängt damit zusammen, dass die Prinzipien für das Funktionieren von Individuum und Familie im Bereich des eigenen Lebens (stärkere Subjektverantwortung des Einzelnen, Auswahl des Lebensmodells), in der Arbeitswelt (Konkurrenz und Rivalität, Veränderung der Qualifikationen, Verfügbarkeit) sowie im öffentlichen Leben (Wahrnehmung der demokratischen Rechte, Vielfalt der kulturellen Muster) eine Neuorientierung erfuhren.
Es kam zu einem Abbau des zuvor propagierten Musters der sozialistischen Familie, dem zufolge das gewünschte Modell eine Familie war, in der es berufstätige Eltern plus Kinder gab, eine Familie, die umfassend durch soziale Leistungen des Staates gestützt wurde, die es der Frau ermöglichen sollten, familiäre und berufliche Pflichten zu vereinbaren. Der politische Pluralismus brachte unterschiedliche Konzeptionen für die Rolle der Familie im Leben des Individuums und der Gesellschaft, für den Bereich ihrer Rechte und Pflichten, für das Modell der staatlichen Familienpolitik. Diese letzte Frage war recht häufig Gegenstand des politischen Spiels und der Manipulation, insbesondere in Wahlkampagnen. Analysiert man die Wahlprogramme, die parlamentarischen Diskussionen und die politischen Entscheidungen der Regierungen2, die unterschiedliche weltanschauliche Optionen vertraten, so lassen sich drei verschiedene Standpunkte zur Familienpolitik erkennen:
Der liberale Standpunkt
Ihm zufolge stellt die Familie eine private Sphäre im Leben des Einzelnen dar. Es besteht kein Bedarf für eine Einmischung des Staates in die individuellen Angelegenheiten seiner Bürger. Auch soll der Staat die Familien nicht bei der Gestaltung ihrer ökonomischen Existenz unterstützen.3 Der freie Markt reguliert die Einkünfte des Einzelnen und der Familie. Die liberale Steuerpolitik lässt die Familiensituation des Steuerzahlers außer Betracht. In kritischen Situationen sei die Anwendung selektiver Hilfsprogramme für die Familie zulässig. Propagiert wird ein Lebensstil, der sich auf Arbeit und Berufskarriere konzentriert, hervorgehoben wird die Freiheit des Individuums bei der Wahl des Lebensstils, die Toleranz gegenüber alternativen Formen des Familienlebens. Akzeptiert wird die aktive Haltung der Frauen im beruflichen und öffentlichen Leben.
Der sozialdemokratische Standpunkt
Familienpolitik müsse ein Element der staatlichen Sozialpolitik bilden; unerlässlich seien öffentliche Institutionen zur Vertretung der Interessen von Familien. Grundlegende Aufgabe der Familienpolitik ist es, das Kriterium für die „unabdingbaren Bedürfnisse der Familie“ und die Prinzipien für die Zuerkennung von Leistungen durch öffentliche Stellen festzulegen; denn die Familienpolitik müsse sich auf das Prinzip gerechter Verteilung des Nationaleinkommens stützen. Folglich zahlen alle gleiche Steuern, abhängig nur vom Einkommen, doch die Bedürftigen erhalten Unterstützung in Form von Sozialleistungen. Verwiesen wird auf die Notwendigkeit, in der Familienpolitik die Rechte der Frauen und Kinder innerhalb der Familie zu respektieren. Man spricht sich für Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf dem Beschäftigungssektor und bei der Pflichtenteilung in der Familie aus. Ein partnerschaftliches Familienmodell erhält Präferenz. Gefordert wird eine Lockerung der Rechtsvorschriften in der Abtreibungsfrage.
Der konservative Standpunkt
Die Familie wird als Institution von grundsätzlichem Wert gesehen. Das Modell der traditionellen Familie stellt das absolute Muster dar (der Mann verantwortlich für den wirtschaftlichen Familienunterhalt, die Frau in der Rolle der Gattin, Mutter und Hausfrau). Stark betont wird die geburtenfördernde Funktion der Familie als Garant der Bevölkerungsentwicklung. Man unterstreicht den wirtschaftlichen Beitrag der Familie zu Erziehung und Bildung, die im Erziehungsprozess den Kindern vermittelten humanistischen Werte, die häusliche Arbeit, die Sorge für die Familienmitglieder. Verwiesen wird auf die besondere Bedeutung der Familie für das Funktionieren aller gesellschaftlichen Bereiche und auf ihre konstitutive Rolle bei der Formung des sozialen Zusammenhalts. Man optiert für eine familienfreundliche Sozialpolitik, die die Familie begünstigt und sie bei der Erfüllung ihrer emotionalen, geburtenfördernden, ökonomischen, erzieherischen, fürsorgenden und sozialisierenden Funktion unterstützt. Man wendet sich gegen die starke Herausstellung der Rechte von Kind und Frau (Widerspruch finden solche Institutionen wie der Fürsprecher für Kinderrechte oder der Regierungsbevollmächtigte für Frauenfragen).4 Man wendet sich gegen informelle Verbindungen – Konkubinate – und dagegen, ihnen das Erbrecht oder das Recht auf Familienrente zuzuerkennen. Instrumente der Familienpolitik, die Familien mit kleinen Kindern stützen, legen den Nachdruck auf die berufliche Deaktivierung der Frauen, nicht auf Hilfe bei der Vereinbarkeit von häuslichen Pflichten und Berufstätigkeit (Forderung nach Verlängerung des Erziehungsurlaubs, Leistungen für Mütter, die für die Zeit der Kindererziehung auf Berufstätigkeit verzichten). Die Steuerpolitik soll – im Verständnis der konservativen Option – in erster Linie die Bedürfnisse der Familien berücksichtigen. Die Besteuerung soll abhängig gemacht werden von der Steuerfähigkeit, d. h. von den persönlichen Belastungen, die dem Steuerzahler aus der Notwendigkeit der Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse sowie der seiner Familie erwachsen. Bei dieser Orientierung gibt es keine Zustimmung zur Abtreibung, Gewalt in der Familie wird marginalisiert.
Über alle diese Trennungslinien hinweg spielen der Verarmungsprozess der polnischen Familie und die Krise der öffentlichen Finanzen eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Familiensozialpolitik. Während Anfang der neunziger Jahre ideologische Konflikte um die Abtreibung, um die Einführung des schulischen Religionsunterrichts, um das Einschreiten öffentlicher Stellen im Falle von Gewalt in der Familie, um das Familiengehalt und um den Verzicht der Mütter von Kleinkindern auf Berufsarbeit oder schließlich die Ersetzung der Scheidung durch Trennung zahlreiche Emotionen weckten und Politiker wie auch die Gesellschaft entzweiten, wurden Ende der neunziger Jahre die Steigerung des Wirtschaftswachstums, der Kampf gegen Not und Arbeitslosigkeit sowie der schlechte Zustand der öffentlichen Finanzen zur gemeinsamen Sorge aller politischen Orientierungen. Angesichts des großen Defizits im Staatshaushalt sucht die jetzige Regierung nach Einsparungen und begrenzt die ohnehin bescheidenen sozialen Leistungen. Mit Rücksicht auf die oben genannten Gründe – politische und ökonomische Stabilisierung des Staates – wurde es still um die ideologischen Streitigkeiten in Fragen der Familienpolitik. Und so billigte das polnische Parlament im Dezember 2001 erstaunlich gelassen einen Antrag der von dem postkommunistischen Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) und der Bauernpartei (PSL) getragenen Regierung, dem zufolge der Mutterschaftsurlaub gekürzt wurde, und dies, obwohl dessen Verlängerung 1999 ein wichtiges Element in der familienfördernden Politik der damaligen Rechtskoalition aus Wahlaktion der „Solidarność“ (AWS) und Freiheitsunion (UW) dargestellt hatte.5 Es scheint, dass die Auseinandersetzungen um die Konzeption von Familie und Familienpolitik auf die Zeit einer besseren Wirtschaftskonjunktur vertagt worden sind.
Der Alltag polnischer Familien: Gefahren und Herausforderungen
Die Bilanz der Transformationszeit lässt, was die Verfassung der polnischen Familien betrifft, keinen Platz für Illusionen. Dominierend sind die Elemente, die ihre Existenz und Entwicklung untergraben, wie Arbeitslosigkeit, Mangel, Not, ein niedriges Konsumniveau, schlechte Wohnbedingungen, begrenzte Möglichkeiten der Ausbildung für die Kinder, mangelhafte medizinische Betreuung, Kommerzialisierung der Sozialdienste, das Gefühl fehlender sozialer Sicherheit. Verschärft wird die Differenzierung im Armutsniveau; eine Polarisierung der Familien greift Platz. Der Konsum bei den wohlhabenden Familien liegt deutlich über dem Standard, die ärmsten kämpfen ums Überleben.
In meiner Analyse werde ich mich auf jene Veränderungen im Leben polnischer Familien konzentrieren, die sich in Form von Zahlenindikatoren charakterisieren lassen. Diese Methode erlaubt es, den Umfang und die Dynamik von Folgen der Transformationsprozesse für das Leben der Einzelnen und ihrer Familien zu erfassen.
Arbeitslosigkeit ruiniert Lebensbedingungen der Familien
Die Neustrukturierung von Polens Wirtschaft brachte ein im Sozialismus völlig unbekanntes soziales Risiko, nämlich die Arbeitslosigkeit.6 Im Januar 2002 erreichte der Grad der Arbeitslosigkeit den höchsten Stand – 18 Prozent. Nach Angaben des Hauptamtes für Statistik sind 3.253.000 Polen ohne Beschäftigung. In Wirklichkeit ist die Zahl der Arbeitslosen größer. Nicht alle Arbeitslosen lassen sich nämlich in den Arbeitsämtern registrieren, 483.000 Personen erhalten Leistungen aus dem Vorruhestand, die verborgene Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft wird auf 600.000 bis 800.000 geschätzt. 80 Prozent der Arbeitslosen haben keinen Leistungsanspruch. Der Arbeitsmangel bedeutet, dass die Zahl der Familien mit einem erwerbstätigen Elternteil wächst, ebenso die Zahl jener, in denen sowohl Eltern wie erwachsene Kinder arbeitslos sind. Denn besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit unter der Jugend – 41 Prozent aller Arbeitslosen. Während der ganzen Transformationszeit war die Arbeitslosigkeit der Frauen höher als die der Männer (1990 stellten die Frauen 50,9 Prozent der Arbeitslosen, 1998 61 Prozent, 2001 55 Prozent). Die Situation der arbeitslosen Frauen ist auch schwieriger als die der Männer; sie bleiben länger ohne Arbeit und haben größere Schwierigkeiten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.7
Angemessenes Lebensniveau nicht gesichert
Die grundlegenden Einkünfte der Familien in Polen kommen aus Lohnarbeit, sozialen Leistungen und eigener wirtschaftlicher Tätigkeit. Im Polen der neunziger Jahre wird die Politik der niedrigen Entlohnung fortgesetzt. Sie wird unabhängig vom Wert der Arbeit und ohne das Kriterium der „angemessenen Bezahlung“ festgelegt, die es dem Mitarbeiter gestatten würde, sich und seine Familie auf einem gebührenden Niveau zu unterhalten, wie das die Europäische Sozialcharta empfiehlt. Das niedrige Entlohnungsniveau impliziert auch den bescheidenen Umfang jener Sozialleistungen, deren Höhe von den Arbeitseinkünften abhängt, z. B. Altersrente, Erwerbsunfähigkeitsrente, Arbeitslosengeld. Zu verweisen ist auch auf die großen Diskrepanzen bei Löhnen und Gehältern im öffentlichen Sektor; bei arbeitgebenden Stellen, die Zugang zu öffentlichen Mitteln haben (z. B. die Regierungs- und regionale Verwaltung) sind die Gehälter oft fünf- bis zwanzigmal höher als die Durchschnittsentlohnung. Diese Stellen setzen das Niveau der Entgelte bedeutend höher fest, als dies aus der zentral festgelegten Höhe der Gehälter (Haushaltsgesetz) für so wichtige Bereiche wie Hochschulwesen, Gesundheitsdienst, Bildungswesen oder Sozialeinrichtungen resultiert. So betrug die Brutto-Durchschnittsentlohnung im Jahre 2001 2.047,29 Zloty. Das Existenzminimum für drei Personen in einer lohnabhängigen Familie (Mann + Frau + jüngeres Kind) ergab 1783,7 Zloty.8 Nach Abzug der Steuer ist der Durchschnittslohn etwas niedriger als die Höhe des Existenzminimums für drei Personen in einer lohnabhängigen Familie (er stellt etwa 93 Prozent des Minimums für diese Kategorie von Haushalten dar). Der Mindestlohn von 760 Zloty brutto (616 netto) stellt 85,7 Prozent des Existenzminimums einer alleinstehenden berufstätigen Person dar.
Unter den Haushalten, die von Berufsarbeit leben, nehmen die Haushalte von auf eigene Rechnung arbeitenden Personen (Selbständigen) eine privilegierte Einkommensposition ein. Ihre Einkommen sind im Mittel über ein Viertel höher (im Jahre 1997 um über 30 Prozent) als die der Gesamtbevölkerung.9 Frauen in Polen verdienen bedeutend weniger als Männer. Dieser Unterschied liegt etwa bei einem Viertel des Durchschnittslohns.
Auch die Einkünfte aus Sozialleistungen – und von ihnen lebt über ein Drittel der Bevölkerung in Polen – sind niedrig und gewährleisten kein Leben auf dem Niveau des Existenzminimums. So lag die niedrigste Altersrente, Familienrente und Erwerbsunfähigkeitsrente 2001 mit 530,26 Zloty bei 68,9 Prozent des Existenzminimums eines Beschäftigten. Die Arbeitslosenunterstützung stellte mit 476,70 Zloty 61,8 Prozent des Lohnminimums dar. Die Familienbeihilfe betrug 2001 5,3 Prozent des Existenzminimums. Der Wert des Erziehungsgeldes (308,80 Zloty) machte 41,1 Prozent des Sozialminimums aus und das Erziehungsgeld für Alleinerziehende (491 Zloty) 63,8 Prozent.
Armut in Polen wird zur Massenerscheinung
Die Transformationszeit vertiefte den Verarmungsprozess der polnischen Gesellschaft. So stieg die Zahl der unter dem Existenzminimum lebenden Personen von 16 Prozent im Jahre 1989 auf über 54 Prozent im Jahre 2001. Man schätzt, dass ca. 1,7 Millionen Personen in Familien leben, denen es schwer fällt, die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, und in denen die Ausgaben unterhalb des Existenzminimums angesiedelt sind. Das sind hauptsächlich Menschen, die von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe leben, Familien der Langzeitarbeitslosen, Bauernfamilien, kinderreiche Familien und solche mit nur einem Elternteil. Aus Daten für 1997 ergibt sich: unter den Kindern bis zu 14 Jahren lebte fast jedes zwölfte (ca. 8 Prozent) in Familien, in denen die Ausgaben unter dem Existenzminimum lagen. Kinder bis zu 14 Jahren stellten ein Drittel der in extremer Armut lebenden Personen dar.10 Die zunehmende Erweiterung und Vertiefung der Armut in den folgenden Jahren lässt die Vermutung zu, dass heute der Anteil der Kinder in extremer Armut noch größer ist. Bei Meinungsumfragen im Jahre 200011 gaben 58 Prozent der Polen an, sich finanziell benachteiligt zu fühlen. Die Zahl der unter schlechten materiellen Bedingungen lebenden Familien (36 Prozent) liegt deutlich über der Zahl sich zufrieden gebender Familien (21 Prozent). 43 Prozent der Befragten beurteilten die materiellen Bedingungen ihrer Haushalte als durchschnittlich. 55 Prozent brachten Furcht vor Armut zum Ausdruck.
Rationale Wahl bei Familiengründung immer häufiger
Familiengründung und -modell sind im Polen der neunziger Jahre stark durch die genannten ökonomischen Faktoren und den geringen Umfang sozialer Garantien von Seiten staatlicher Sozialpolitik bedingt. Nicht ohne Bedeutung ist auch die – besonders in der Haltung der jungen Generation sichtbare – Tendenz zur Individualisierung im Bereich von Sexualität und Familienleben.
Die neunziger Jahre sind durch deutliche Veränderungen im demographischen Bild der Familie charakterisiert:12
- Die Zahl der geschlossenen Ehen sinkt. Dies ist ein Effekt der zeitlich verschobenen Heiratsentscheidung und der zunehmenden Popularität informeller Verbindungen (das mittlere Alter der Eheschließung betrug 1990 22,7 Jahre für Frauen, 24,9 Jahre für Männer, im Jahre 2000 23,5 Jahr für Frauen, 25,7 Jahre für Männer).
- Die Kinderzahl in den Familien sinkt, das Modell der Ein- und Zwei-Kind-Ehe verfestigt sich (die Durchschnittskinderzahl für Frauen im gebärfähigen Alter betrug 1990 2,04, 1995 1,61 und 2001 1,37).
- Die Zahl der unehelichen Geburten steigt ständig (1990 6,2 Prozent, 2000 12 Prozent).
- Systematisch wächst die Zahl der Familien mit nur einem Elternteil (1.574.000 im Jahre 1988, 1.772.000 im Jahre 1995).
Was den Kinderwunsch angeht, so liegen die Präferenzen der Polen etwas höher, als die in den letzten Jahren festgestellten Geburtsdaten ausweisen. Nach Forschungen des Instituts CBOS aus dem Jahre 200013 wünschen sich 49 Prozent der erwachsenen Polen zwei Kinder, 22 Prozent drei, 10 Prozent träumen von einer kinderreichen Familie (vier und mehr), und nur 13 Prozent würden sich mit einem Kind zufrieden geben. Unter den von den Polen bevorzugten Ehemustern konkurrieren zwei Modelle miteinander: das traditionelle mit streng abgegrenzten Rollen für Frau und Mann sowie das partnerschaftliche, in dem Mann und Frau sich die beruflichen und familiären Pflichten teilen. 1997 hatten beide Modelle fast die gleiche Zahl von Anhängern (38 Prozent für das traditionelle, 37 Prozent für das partnerschaftliche); im Jahre 2000 hatte sich das Gewicht leicht zugunsten des traditionellen Ehemodells (42 Prozent gegen 38 Prozent, die sich für das Partnerschaftsmodell aussprachen) verschoben.
Zum Schluss sei betont: Die Familie bleibt – trotz vieler wirtschaftlicher Schwierigkeiten, trotz veränderter Aufgaben und Funktionen unter den neuen politischen und sozialen Bedingungen, trotz des Chaos in der Welt der Normen und Modelle – im Polen der neunziger Jahre der am meisten deklarierte und in der Praxis verwirklichte Wert. Wenn man den Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts CBOS glauben darf, dann verschafft das Familienleben den meisten Polen Genugtuung. Über 90 Prozent sind zufrieden mit den Kindern, über 80 Prozent mit der Ehe. Dieses Phänomen wird sehr treffend durch die folgende Äußerung erläutert: „Die Familie – diese kleinste und emotional engste Gemeinschaft – war in Polen stets eine Stütze unter den Bedingungen fehlender staatlicher Unabhängigkeit und eine Quelle der Selbsthilfe unter den Bedingungen einer unterentwickelten Sozialpolitik. Sie war also – und ist wohl weiterhin – ein Wert wie auch ein Instrument, das das Überleben ermöglicht.“14
Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.
Fußnoten:
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Die Übereinkunft des „Runden Tisches“, unterzeichnet am 05.04. 1989, stellte den politischen Konsens der Vertreter der „Solidarność“ und der reformerischen Linie des bis dahin regierenden sozialistischen Lagers für den Beginn des Prozesses dar, der zu einem Systemwandel, zur Einführung der Marktwirtschaft und zum Aufbau eines demokratischen Staates führen sollte. ↩︎
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In den Jahren 1989 bis 2001 wechselte in Polen neunmal die Regierung, fünfmal fanden Parlamentswahlen statt. ↩︎
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Zitiert sei hier die für diese politische Option charakteristische Meinungsäußerung des früheren Ministers Leszek Balcerowicz über die Schädlichkeit des Sozialstaates: „Die soziale Übersättigung der Wirtschaft in den meisten Ländern Westeuropas führte zu drei Schäden: zum ersten zur Verlangsamung des wirtschaftlichen Entwicklungstempos durch Erschütterungen im Bereich der öffentlichen Finanzen, zum zweiten zum Anwachsen der strukturellen Arbeitslosigkeit, zum dritten führte sie zur Demoralisierung der Menschen und zum Zerfall der Familie.“ In: O kilku sprawach społecznych (Über einige soziale Fragen), Warschau 1994. ↩︎
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So z. B. J. Hrynkiewicz: „Alle diese Institutionen sollen, ‚als Verteidiger‘ oder als ‚Fürsprecher‘, die Familie in ihren Funktionen ersetzen und sind somit in ihrem Wesen familienfeindlich, denn sie schwächen das Band und das solidarische Bemühen der Familie bei der Überwindung von Schwierigkeiten“ (in: Polityka społeczna wobec rodziny (Sozialpolitik und Familie), Büro für Studien und Expertisen der Sejm-Kanzlei, Warschau 1998. ↩︎
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Seit dem 1. Januar 2002 beträgt die Länge des Mutterschaftsurlaubs 16 Wochen statt der früher zustehenden 26 Wochen. ↩︎
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Arbeits- und Lohnsicherheit stellten die Pfeiler sozialer Sicherheit im sozialistischen Staat dar. ↩︎
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Bezrobocie rejestrowane w Polsce. II kwartał 1998, GUS, 1998 (In Polen registrierte Arbeitslosigkeit. Zweites Quartal 1998, Hauptamt für Statistik, 1998); Informacja o stanie i strukturze bezrobocia w październiku i listopadzie 2001r. (Information über den Stand und die Struktur der Arbeitslosigkeit im Oktober und November 2001), Rynek pracy (Der Arbeitsmarkt) Nr. 11/12, 2001; Gazeta Wyborcza, 22.02.2002. ↩︎
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Piotr Kurowski, Minimum socjalne (Das Existenzminimum), in: Polityka społeczna (Sozialpolitik), Nr. 9, 2001. ↩︎
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Elżbieta Kryńska, Socjalne skutki zmian w zatrudnieniu i dochodach z pracy w okresie przebudowy (Soziale Folgen der Veränderungen in Beschäftigung und Arbeitseinkommen in der Periode des Umbaus), Warschau 1999, IPS, IPiSS (Institut für Sozialpolitik, Institut für Arbeit und Sozialwesen). ↩︎
-
Lidia Beskid, Analiza skali, dynamiki i społecznego rozkładu procesów pauperyzacji i marginalizacji (Analyse des Maßstabs, der Dynamik und der sozialen Verteilung der Verarmungs- und Marginalisierungsprozesse), Warschau 1999, IPS, IPiSS. ↩︎
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Zasięg biedy i postrzeganie ludzi biednych w Polsce. Badanie „Aktualne problemy i wydarzenia“ (Umfang der Not und Wahrnehmung der notleidenden Menschen in Polen. Untersuchung „Aktuelle Probleme und Ereignisse“), Juni 2000. Centrum Badania Opinii Społecznej (CBOS/Zentrum für Meinungsforschung). ↩︎
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Rocznik Statystyczny 2001 (Statistisches Jahrbuch 2001), Warschau. Główny Urząd Statystyczny (Hauptamt für Statistik). ↩︎
-
Aktualne problemy i wydarzenia (wie Anm. 11). ↩︎
-
Jolanta Supińska, Przemiany systemu wartości (Veränderungen im Wertesystem), in: Grażyna Firlit-Fesnak/Helga Oberloskamp (Hrsg.), Polsko-niemiecki i niemiecko-polski leksykon polityki społecznej i pracy socjalnej (Polnisch-deutsches und deutsch-polnisches Lexikon der Sozialpolitik und Sozialarbeit), Warschau 2000. ↩︎