Frauen in Ungarn
Im September 1995 wurde in Ungarn ein Sekretariat für Frauenfragen im Arbeitsministerium ins Leben gerufen. Eine seiner Aufgaben besteht darin, überregionale statistische Daten und Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher und Artikel sind zu dieser Thematik erschienen. Vom Ministerium für Soziales und Familie wurde eine Bücherreihe gestartet. Der jüngste Band erschien 1999 unter dem Titel „Szerepváltozások. Jelentés a nők és férfiak helyzetéről 1999“ (Rollenwandel. Bericht über die Lage der Frauen und der Männer 1999). Dieser Studienband bildet die Basis der Darstellung.
Familie, Ehe, Kinder
Nach den Ergebnissen der Werte- und Verhaltensforschung hat die Ehe in der ungarischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Die Kernfamilie wird als die wichtigste Größe angesehen, wobei allerdings zahlreiche Herausforderungen auf ihr lasten. Dies hat zu gravierenden Veränderungen geführt: Rückgang der Eheschließungen, unverändert hohe Scheidungsrate sowie trotz sinkender Geburtenrate wachsende Zahl außerehelicher Schwangerschaften. Der Prozess des Wandels der Familienmodelle und der Formen des Zusammenlebens hat bereits Anfang der achtziger Jahre eingesetzt. Die Veränderungen sind inzwischen spektakulärer geworden und haben sich, wie die nachfolgende Tabelle zeigt, beschleunigt.
Quelle: Andras Klinger: Magyarország népességfejlődése (Die Bevölkerungsentwicklung Ungarns). Statisztikai Szemle, 1996, 8-9, S. 635; Magyar Statisztikai Zsebkönyv (Statistisches Taschenbuch Ungarns),1999.
Die Hälfte der Frauen über fünfzehn Jahre war zum Zeitpunkt der Erhebung, im Jahr 1999, verheiratet. Die Angaben lassen zwei Feststellungen zu: Erstens ist die traditionell hoch geschätzte Ehe nach wie vor die meist akzeptierte Form des Zusammenlebens in Ungarn. Zweitens hat sich aber ihre Akzeptanz in der Gesellschaft verändert. Im Vergleich zu 1949 (59,1 Prozent) ist bis zum Jahr 1999 (50,5 Prozent) ein klarer Rückgang der Zahl jener zu beobachten, die im Ehestand leben. Charakteristisch ist ferner die Erhöhung des Heiratsalters. Ein Großteil der jungen Menschen heiratet später als in früheren Jahrzehnten. Während die Eheschließungen zurückgingen, hat die soziale Akzeptanz anderer, außerehelicher Lebensgemeinschaften zugenommen. Im Vergleich zu den Ländern Westeuropas ist ihr Anteil in Ungarn allerdings weiterhin gering. Seit der Systemwende sich jedoch deren soziale Akzeptanz verändert. Laut einer Umfrage von 1994 lebten 15 Prozent der 20 bis 24Jährigen in einer außerehelichen Lebensgemeinschaft; 1980 lag dieser Anteil erst bei einem Prozent. Aus der Tabelle wird ferner ersichtlich, dass der Anteil der in Scheidung Lebenden (10,1 Prozent) im Vergleich zu 1949 (1,6 Prozent) sprunghaft zugenommen hat. Dieser Anteil begann in den achtziger Jahren anzusteigen, eine Tendenz, die sich in den neunziger Jahren fortsetzte. Der Anteil der Verwitweten hat im Vergleich zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abgenommen, sondern erhöhte sich sogar. Wegen der ungünstigen Sterblichkeitsrate der männlichen Bevölkerung Ungarns wird ein großer Teil der Frauen in ihren letzten Lebensjahren zur Witwe. Verwitwet zu sein, verbunden mit den finanziellen, seelischen und gesellschaftlichen Folgen, ist in Ungarn in erster Linie ein Frauenproblem.
Nicht nur die Institution Ehe, sondern auch die traditionelle Orientierung auf Kinder hin befindet sich im Wandel. Erhebungen unter jungen Frauen und Ehepaaren ergaben, dass der Rückgang der Kinderzahl nicht durch die Abschwächung des Wertes des Kindes, sondern durch den Wandel des einschlägigen Verhaltens bedingt ist. Am folgenreichsten ist das Hinausschieben der ersten Schwangerschaft in ein immer höheres Lebensalter. Frauen bringen ihr erstes Kind nicht unter 25, sondern immer häufiger erst mit 25 bis 29 Jahren zur Welt. Demzufolge wird die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen zu einem zweiten oder dritten Kind bereit sind, immer geringer. Die Sehnsucht nach Kindern wird mit einem oder vielleicht maximal zwei Kindern befriedigt. Die Verschiebung der Schwangerschaften in ein höheres Alter hängt, wie die Untersuchungen ergeben haben, mit den Schwierigkeiten zusammen, Mutterschaft und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Hinzu kam nach der Wende der Wandel in der Wirtschaftsstruktur. Unsicherheit des Arbeitsplatzes und drohende Erwerbslosigkeit schufen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich Frauen im reproduktiven Alter (also etwa zwischen 18 und 40 Jahren) als diskriminiert empfanden. Wenn diese aber in ihrer reproduktiven Phase das Gefühl haben, als Mütter schwieriger eine Stelle zu bekommen, und wenn sie sich auf dem Arbeitsplatz benachteiligt fühlen, kann in gewissen Schichten sehr wohl eine Einschränkung der Reproduktionsfunktion eintreten. Wünschenswert ist es allemal, diesem Prozess mit familienpolitischen Maßnahmen Einhalt zu gebieten, um die ungünstigen Entwicklungen zu korrigieren.
Arbeit und Karriere
Zur Zeit des Sozialismus, vor der Wende, zeichneten sich die ungarischen Frauen durch eine hohe wirtschaftliche Aktivität aus. Die überwiegende Mehrheit der Frauen war berufstätig, der Beschäftigtenanteil unter den Frauen übertraf weit das Niveau westlicher Gesellschaften. Diese Situation änderte sich Anfang der neunziger Jahre. Der Grund liegt zum Teil im Rückgang der Beschäftigungszahlen. Außerdem nahm der Anteil der Rentner, der inaktiven Familienmitglieder und der Arbeitslosen zu. Der Anteil der Frauen in einem Arbeitsverhältnis war 1997 in Ungarn kleiner (31,1 Prozent) als im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (32,2 Prozent). Beim Vergleich muss allerdings beachtet werden, dass der Anteil der erwerbstätigen Frauen in den Ländern in der Europäischen Union stufenweise zugenommen hat und so das Niveau von 32 Prozent erreichte. In Ungarn vollzieht sich hingegen eine abnehmende Entwicklung, die allerdings auch günstige Auswirkungen hat. Die durchschnittliche Qualifikation der berufstätigen Frauen hat sich zum Beispiel erhöht, weil Frauen mit einem niedrigeren Schulabschluss von dem Beschäftigungsrückgang mehr betroffen wurden. Weiterhin hat sich die Gruppe der berufstätigen Frauen verjüngt, weil in der Generation der über Fünfzigjährigen mehr Frauen aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Frauen konnten so in der sozioökonomischen Umgestaltung des Landes erfolgreich mitwirken. Der Erfolg lässt sich unter anderem daran feststellen, dass in den ersten Jahren nach der Wende der Frauenanteil in den Chefetagen zugenommen hat (von 33 Prozent auf 37 Prozent). Im Einklang damit ist der Unterschied zwischen den durchschnittlichen Gehältern der Männer und der Frauen kleiner geworden, obwohl die Männer weiterhin einen Vorsprung haben. Ergänzend dazu ist, im Vergleich zu den achtziger Jahren, der Frauenanteil unter den Unternehmern gewachsen (von 33 Prozent auf 40 Prozent).
Diese Angaben bedeuten nicht, dass in Ungarn so viele Frauen leitende Positionen bekleiden, wie es potenziell möglich wäre. Auch in den Karrierechancen der Männer und der Frauen gibt es nach wie vor Ungleichheiten, die sich jedoch verändern. Die Forschung belegt eindeutig, dass bei einer Bewerbung für einen Posten der Schulabschluss den Ausschlag gibt. In dieser Hinsicht sind die Frauen den Männern gegenüber nicht benachteiligt. Nach Angaben aus den neunziger Jahren sind Frauen in höherem Maße am Hochschulstudium beteiligt als Männer. Ihrer Schulbildung nach sind also die Frauen in einer günstigeren Position als die Männer. Dieser Vorsprung schlägt sich allerdings im Karriereverlauf nicht nieder. Der Grund dafür kann darin liegen, dass das in den Bildungsinstitutionen angeeignete Wissen Frauen seltener als Männer dazu bewegt, ihre zukünftige Karriere bewusst zu planen und ihr Leben danach zu richten. Diese Differenz der Verhaltensweisen ist auf die unterschiedliche Sozialisierung der Geschlechter zurückzuführen. Im Endergebnis nahm jedenfalls der Anteil der Frauen in Führungspositionen innerhalb der Wirtschaftselite in den letzten zehn Jahren nicht zu, sondern blieb bei 1/6 dieser sozialen Schicht.
Gesundheit
Über den Gesundheitszustand der Frauen kann am leichtesten Auskunft gegeben werden, wenn dieser mit dem Gesundheitszustand der Männer verglichen wird. In Industriestaaten mit einem entwickeltem Gesundheitsbewusstsein leben Frauen im Durchschnitt 6 bis 7 Jahre länger als Männer. In Ungarn besteht in der Lebenserwartung der Geschlechter ein größerer Unterschied. 1998 lag die Lebenserwartung der Frauen bei 75,2 und die der Männer bei 66,1 Jahren. Die Differenz beträgt also 9,1 Jahre. Wenn wir noch daran erinnern, dass diese Differenz zur Zeit der Jahrhundertwende lediglich 1,6 Jahre betrug, so kann der Schluss gezogen werden, dass in dieser Hinsicht die Frauen erheblich mehr von der sozioökonomischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts als die Männer profitiert haben. Die günstigeren Lebenschancen lassen sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Unterschiede in der Lebensweise spielen nachgewiesenermaßen dabei eine wesentliche Rolle. Frauen rauchen und trinken weniger und ernähren sich gesünder. Ferner gehört zum Bild, dass Frauen in Ungarn mit ihrem Gesundheitszustand weniger als die Männer zufrieden sind und folglich öfter ihren Arzt aufsuchen. Die geschlechtsspezifische Differenz in der Häufigkeit des Konsultierens eines Arztes ist im Wesentlichen unabhängig vom Gesundheitszustand. Die gesunden Männer suchen ihren Arzt jährlich 1,5 mal, die gesunden Frauen dagegen 2,7 mal, die kranken Männer 9,1 mal und die kranken Frauen 11,1 mal auf. Man kann daraus schließen, dass sich die Wahrnehmung einer Krankheit im Prozess der Sozialisierung bei den beiden Geschlechtern unterschiedlich entwickelt. Die Feststellung, wonach Frauen gesünder und geregelter leben und weniger Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, trifft auf die Gesamtheit der Bevölkerung zu. Im Leben der jüngeren Generation sind aber die gesundheitsschädigenden Einflüsse auch bei den Frauen häufiger geworden.
Insgesamt kann festgestellt werden: Als Frau geboren zu sein, bedeutet in der heutigen Welt eine besondere Herausforderung, deren Bewältigung nicht leicht ist. Dies gilt auch und gerade in einer Gesellschaft wie der ungarischen, in der sich ein radikaler Wandel vollzieht.