Zwischen Resignation und Hoffnung
Das, was wir in unserem beschränkten Gesichtskreis in Rumänien wahrnehmen, spiegelt sich auch in den Landesstatistiken wieder. Dennoch möchten wir uns über die Gespräche, Begegnungen in der Schule, im Bibelkreis und anderswo hinaus in unserem Stimmungsbericht auf einige schriftliche Quellen beziehen. Neben der ADZ, der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“, die fast täglich erscheint, war für uns das Buch von Michael W. Weithmann, „Die Donau, ein europäischer Fluss und seine dreitausendjährige Geschichte“ (Verlag Pustet, Regensburg 2000) sehr aufschlussreich für das Verständnis der südöstlichen Hälfte Europas; außerdem das spannende Buch von Hannelore Baier und Cornelia Schlarb „Frauen in Rumänien“ (Verlag hora, Sibiu 2000), das Interviews mit 25 rumänischen Frauen enthält und ihre spannenden Lebensläufe dokumentiert.
Wir bewundern die rumänischen Frauen, hegen einen tiefen Respekt für sie. Sie sind mehrfach belastet; fast alle müssen berufstätig sein, weil man hier von einem Gehalt nicht leben kann. Außerdem ist die Hausarbeit wesentlich anstrengender als bei uns: Wer kann sich schon eine Wasch- oder gar Spülmaschine leisten? Häufig wird auch Gemüse angebaut und Kleinvieh gehalten. Dazu kommt noch die Pflege alter Familienangehöriger. Wir kennen in unserem Bekanntenkreis niemanden, der seine Eltern in ein staatliches Altersheim gegeben hat oder geben würde. Solche Heime sind unter allen westlichen Standards – mit bis zu zwölf Personen auf einem Zimmer.
Nein, es ändert sich nichts!
Allzu oft, jede Woche, manchmal täglich, hören wir den kleinen rumänischen Satz: „Nu se schimbă nimic!“ Übersetzt heißt er: „Nein, es ändert sich nichts!“ Woher kommen die tiefe Resignation und der Verlust an positivem Denken, ein Verlust an Selbstwertgefühl und damit auch ein Verlust an Vertrauen in den Staat und in die Zukunft des Landes?
Es gibt Lichtgestalten, junge Menschen, die entgegen dem allgemeinen Trend hier bleiben und mit großem Einsatz versuchen, sich eine Zukunft aufzubauen. Einer von ihnen heißt Herr Jurca. Er hat Informatik studiert, betreibt eine Computerfirma zusammen mit einem Kollegen und hat ein Reiseunternehmen eröffnet. Für unsere Schule reparieren sie die anfallenden Arbeiten in den Informatiklabors. Von den zwölf Personen seines Studienkurses sind gerade zwei im Lande geblieben. Die anderen sind wie Zehntausende anderer gut ausgebildeter junger Menschen in Ausland gegangen. Allein Kanada hat im letzten Jahr 225.000 Rumänen aufgenommen. Die staatliche Statistik sagt, dass 40 % der Jugendlichen das Land verlassen wollen. Unseren Umfragen nach sind es weitaus mehr. Erst vor wenigen Tagen hat einer der Wachmänner unserer Schule uns gefragt, ob wir nicht seine Tochter mit nach Deutschland nehmen könnten. Die rumänische Gesellschaft ist überaltert und hat mit Italien und Spanien zusammen die niedrigste Geburtenrate in Europa, nämlich 1,2 Kinder. Bei den erbärmlichen Löhnen, Gehältern und vor allem Renten können sich die Rumänen nicht mehr als ein Kind leisten.
Die Ursachen liegen tiefer
Täglich fragen wir uns, warum das so ist – gerade angesichts des schönen, großen, fruchtbaren Landes mit seinen freundlichen Menschen.
In unseren Überlegungen bleiben wir nicht beim Kommunismus und dem 25jährigen Ceauşescu-Regime stehen. Wir fragen uns, ob die Selbstentfremdung zumindest der älteren und sehr alten Generation nicht auch auf einen fatalen kirchlichen Einfluss zurück zu führen ist: Religion als System der Reglementierung eines gehorsamen Kollektivs, das im Vollzug der uralten Riten seinen Glauben zu leben hatte und das individueller Entfaltung zu wenig Raum bot?
Drei Monate nach unserer Ankunft im August 2000 haben wir begonnen, einen ökumenischen Bibelkreis aufzubauen. Inzwischen gehören 20 Personen zwischen 18 und 83 Personen aus drei Kirchen dazu – und einer der vier Juden von Caransebeş, der Stadt, in der wir wohnen. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die Menschen angefangen haben, persönlich zu sprechen. Dieses erste schweigsame halbe Jahr hat uns fast in die Verzweiflung getrieben, denn keinesfalls wollten wir den Erwartungen der Teilnehmer genügen, die uns wissen ließen, wie sie es am liebsten hätten: Herr Paul faltet die Hände, Herr Paul hält einen Vortrag, Herr Paul faltet noch mal die Hände, und dann gehen wir alle nach Hause!
Es ist ein Wunder des Heiligen Geistes, dass jetzt alle reden. Und bemerkenswert ist, dass die meisten sagen: Wir wollen Bibeltexte lesen, die man uns vorenthalten hat. Wir gehen sogar noch weiter und sagen: Man hat den Menschen die eigene Individualität vorenthalten. In unseren späten Jahren, nachdem wir jahrzehntelang kirchlich engagiert waren, haben uns die kirchlichen Strukturen hier in eine tiefe Krise gestürzt. Es gab Situationen, da haben wir uns gefragt, in welchem Jahrhundert wir eigentlich leben? So z.B. als wir in der ältesten Kirche Rumäniens (Weltkulturerbe) in Densuş fünf ältere Frauen auf dem nackten Boden vor dem dicken Bauch eines Priesters knien sahen, die dort ihre Gruppenbeichte verrichteten.
Autoritäre Strukturen auch im Schulbetrieb
„A preda“ heißt unterrichten. Genau gesagt: vortragen. Die Älteren unter uns haben das noch so beschrieben: „Alles schweigt und einer spricht, das Ganze nennt man Unterricht“. Es ist schwer, in einer 12. Klasse Gruppenarbeit einzuführen und zur mündlichen Mitarbeit aufzufordern, die elf Jahre lang a preda genossen hat.
Nicht anders in den Kirchen – doch auch Hoffnungszeichen
Die Kirchen – leider müssen wir die orthodoxe an erster Stelle nennen – haben Veränderungen in der weithin patriarchalisch geprägten Gesellschaft verhindert. Die lange verschwiegene Gewalt gegen Frauen wurde aber jetzt zum ersten Mal anlässlich des Internationalen Frauentages in der ADZ angesprochen. Es wurden fünf Organisationen genannt, an die sich betroffene Frauen wenden können. Auch über das kleine Frauenhaus in der Stadt Temesvar wurde berichtet.
Ein Hoffnungszeichen war der Weltgebetstag der Frauen, der von rumänischen Frauen vorbereitet wurde. Es war eine beeindruckende Atmosphäre, als in der überfüllten orthodoxen Sfântu-Gheorghe-Kathedrale in Caransebeş Mädchen und Frauen im Altarraum standen und ihre Texte, ihre Bitten und Gedanken auch durch Spiel und Tanz vorgetragen haben. Ein ungewohnter Anblick, bahnbrechend, denn Frauen dürfen in der orthodoxen Kirche keine liturgischen Gegenstände berühren oder gar hinter die Ikonenwand treten, denn dann muss die Kirche, laut Aussage mehrerer orthodoxer Christinnen, die Kirche niedergerissen und wieder aufgebaut, zumindest aber neu geweiht werden. An diesem Gebetstag agierten Frauen in dem sonst den Priestern vorbehaltenen gottesdienstlichen Raum. Dass die Priester sich als Platzhirsche zwischendurch Weihrauchfässer schwenkend betätigen mussten, war klar. Aber in dieser Stunde ist etwas aufgebrochen, sehr spät, doch nicht zu spät. Es gab Tränen in der Kathedrale, auch unsere Rumänischlehrerin hat geweint. Seit Jahren war sie nicht mehr in ihrer Kirche gewesen, weil sie den Priestern nicht trauen konnte. Jetzt, nach diesem befreienden Erlebnis, möchte sie im Nationalen Weltgebetstagskomitee mitarbeiten.
Die Orthodoxie hängt bis heute an alten Formen und Bildern. Sie hat z.B. erst im Jahr 2000 ein Papier zur Notwendigkeit der Diakonie erstellt. Überall werden, statt Diakonie zu üben, mitten in den Städten neue Prunkdome erstellt, die die arme Bevölkerung finanzieren muss. Brauchen diese Menschen dann Kleidung, Medikamente und anderes, dann gehen sie scharenweise zur Caritas und zu den Kleiderkammern und Apotheken der katholischen Kirche. Die ganze Sozialarbeit in unserem Städtchen und darüber hinaus im Kreis Karaş Severin wird durch den bewundernswerten Einsatz der franziskanischen Schwestern getragen.
Leider hängen aus sehr vielen Kirchen rumänische Flaggen heraus. Es ist die Staatskirche, die sich ihre besonderen Rechte gesetzlich verankern lassen will. Jahrhunderte lang hat sie die Regierungen mitgetragen. Der jetzige Patriarch war auch der alte unter Ceauşescu: Teoctist, 88 Jahre alt, ist nach wenigen Bußwochen in einem Kloster nach der Wende, nach dem Sturz des Diktators wieder in seinem Amt bestätigt worden.
Inzwischen ist jedoch der Markt der Möglichkeiten auf weltanschaulichem Gebiet sehr groß geworden. Selbst in vielen kleinen Dörfern gibt es Baptisten oder Pfingstkirchen. Es ist gut, dass die Szene aufgemischt wird, gerät dadurch doch etwas in Bewegung – vielleicht auch in den verfassten, alten Kirchen.
Die Zukunft beginnt mit dir!
Wir möchten dem Satz „Nein, es ändert sich nichts“, einen anderen Satz entgegen stellen, den wir auf Wahlplakaten gelesen haben: „Viitorul începe cu tine“, „Die Zukunft beginnt mit Dir!“ – Ja, die Zukunft fängt mit jedem von uns an. An unserem Engagement oder unserer Weigerung entscheidet sich, wie gut oder wie bescheiden diese Zukunft sein wird. Doch wie gewinnt man Menschen dazu, bewusster zu leben und im eigenen, kleinen Bereich etwas zu verändern?
Unser langes, schmales Grundstück reicht bis zum Dammweg an der Timiş. Dieser kleine Gebirgsfluss entspringt nicht weit von hier im Semenikgebirge. Das schmale Flussbett ist bei uns zu einem 150-200 Meter breiten Bett erweitert, in dem der Fluss sich auf mehrere Arme aufgeteilt hat. Noch nie haben wir so viele Eisvögel, Stieglitze und Nachtigallen gesehen und gehört wie hier. Mit Sicherheit wäre bei uns dieses Stückchen Erde ein geschütztes Biotop. Hier, wo die Menschen mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt sind, scheint niemand diese Schönheit zu bemerken, geschweige denn sie zu schützen, sonst wäre der Weg nicht von Dutzenden grässlicher Müllkippen gesäumt. Das Plastikzeitalter hat Rumänien unvorbereitet getroffen.
Folgende Szene wiederholt sich wöchentlich: Wir gehen mit unserem zugelaufenen Hirtenhund auf dem Weg entlang und hören und sehen, wie ein LKW seine Drecksladung die Böschung hinunterkippt. Wir nähern uns den Arbeitern und rufen ihnen zu: „Bitte fahren Sie doch zur öffentlichen Müllkippe und zerstören Sie nicht diese Landschaft für die kommenden Generationen!“ Blankes Erstaunen, auch vielleicht verlegenes Lachen und Äußerungen wie „Das macht doch nichts, es ist doch nur Bauschutt. Wir sind unschuldig. Uns schickt die Elektrofirma XY. Auch das Bürgermeisteramt lädt hier seinen Müll ab!“ Dann sagt einer: „Wir haben gehört, dass man in Deutschland gut Geld verdienen kann, können sie uns nicht einen Arbeitsplatz dort besorgen?“ – Der Müll wird weiter ausgekippt. Frustriert gehen wir nach Hause. Bis wir bei der nächsten Gelegenheit wieder unser Sprüchlein aufsagen. Doch haben wir jetzt den Bürgermeister zu einem ökologischen Spaziergang an der Timisch eingeladen, ebenso die Eltern der Schülerinnen und Schüler.
Solidarität dringend erforderlich
Um sich für andere zu engagieren, muss man zuerst zu sich selbst gekommen sein, ein positives Verhältnis zu sich selber haben, um sich dann den anderen zuwenden zu können. Wir finden hier in Rumänien viel Selbstentfremdung vor. Durch kirchliche autoritäre Praktiken und staatliche Reglementierung hatten die meisten Menschen keine Chance, zu sich selbst zu finden. Ein pensionierter Lehrer hat uns voller Verbitterung gesagt: „Warum soll ich mich für die Caritas einsetzen, das bringt mir nichts!“
Vor kurzem hat Rumänien 200 Millionen Euro von der Europäischen Union bekommen für den Aufbau einer Zivilgesellschaft. Nichtregierungsorganisationen konnten sich bis Mitte Februar 2002 melden, um einen Anteil von diesem Geld zu erhalten. Wir würden gerne wissen, was mit dem Geld geschieht, und warten auf entsprechende Berichte in den Zeitungen. Gewiss, es gibt rühmliche Ausnahmen, doch ehrenamtliche Arbeit ist sehr selten.
Eine Haltung der Solidarität, der Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl wäre dringend erforderlich. Es hat wohl auch mit Selbstentfremdung zu tun, wenn weithin eine Streitkultur und ein Miteinander- statt Übereinanderreden nicht anzutreffen sind. Die Scheinheiligkeit beim höflichen Reden miteinander ist oftmals unerträglich, wenn dann die Beteiligten hinter dem Rücken der jeweils anderen Kübel voller Gift und Galle ausspeien. Aber zum offenen Reden gehört eben eine gute Portion Selbstvertrauen, die es ermöglicht, ehrlich miteinander umzugehen. Oft haben wir den Eindruck, dass ein Kommunikationstraining wichtig wäre.
Denn der Wechsel der Mentalität ist unabdingbar für eine positive Zukunft dieser Gesellschaft. Der Glaube an die eigene Entwicklung und die des Landes kann nicht mit Spenden hergestellt werden. Dazu braucht es langwierige, mühsame und offene Gespräche. Der jüdische Philosoph, Schriftsteller und Theologe Martin Buber (1878-1965) hat gesagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
Weitergeben, was wir empfangen haben
Was uns schon zum zweiten Mal veranlasst hat, unseren Vertrag beim Lehrerentsendeprogramm Ost zu verlängern, ist die Herzlichkeit der Menschen in Rumänien. Wenn eine ganze Schulklasse auf uns zugestürmt kommt, um uns nach einer Zeit der Abwesenheit zu umarmen, dann wiegt das manche Pleiten und Pannen auf. Und wenn uns dann auch noch gesagt wird, dass wir doch bitte Geduld mit den Menschen hier haben sollten, und dass sie uns dringend brauchen würden, dann zerschmelzen wir und sehen dankbar, dass auch wir zwei älteren Menschen etwas zum Zusammenwachsen Europas beitragen können. Wir sind zuversichtlich, dass sich jeden Tag hier etwas zum Positiven ändert. Wir halten danach Ausschau: Jede neu verputzte Wand, jeder gepflegte Garten, jedes neu eröffnete Geschäftchen wird von uns bestaunt und besucht, wenn möglich. Jedes offene Gespräch, jeder Mensch, der sich nicht bestechen lässt, wo Korruption auf allen Ebenen an der Tagesordnung ist, all das sind Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Und nicht zu vergessen: Wie viel Unterstützung haben wir nach dem letzten Krieg von unseren ehemaligen Feinden erhalten, wie viele Inspirationen, wie viel Begleitung haben wir persönlich auf unserem Weg bis hierher geschenkt bekommen! Warum sollten wir da nicht gerne weitergeben, was wir selbst empfangen haben?