Der Osten des Westens
Auf dem Höhepunkt der Bosnien-Kriege schrieb eine englische Journalistin: „Europa hat einen Schatz verloren, von dessen Existenz es nichts ahnte: die einzige islamische Gemeinschaft europäischer Kultur“. Die gezielte Zerstörung aller Merkmale islamischer Kultur und Identität durch die bosnischen Serben – man denke an Sarajevo, Srebrenica und auch durch katholische Kroaten wie in Mostar – und die weitgehende Gleichgültigkeit, die diese Schandtat in der europäischen Öffentlichkeit hervorrief, haben dazu beigetragen, den Europäern die Notwendigkeit einer neuen Verständigung zwischen den Religionen einzuprägen. Andere Vorkommnisse wie der Fall Salman Rushdie in Großbritannien und die Kontroverse um die Kopfbedeckung muslimischer Frauen in Frankreich kommen hinzu. Die andauernde Krise im Nahen Osten, die unruhige Lage in Afghanistan und Zentralasien und die Anschläge des 11. September 2001 verleihen dem Dialog der Religionen eine besondere Dringlichkeit.
Voraussetzungen des interreligiösen Dialogs in Europa
Alles, was bisher erwähnt wurde, betrifft in irgendeiner Weise den Islam, und auch historisch rührt die Beziehung zum Islam an tiefliegende europäische Ängste und Ressentiments (Eroberung Spaniens, Kreuzzüge, Belagerung Wiens). Noch tiefer jedoch an Europas religiösen Wurzeln ist die Beziehung zum Judentum angesiedelt. Sowohl das Christentum als auch der Islam sind Abkömmlinge des jüdischen Glaubens; alle drei bilden die „abrahamitische Familie“, und alle drei sind mit der Geschichte Europas verwoben. Aber das europäische Christentum hat die eine Schwesterreligion zum inneren, die andere zum äußeren Feind gemacht. Die Juden, in Ghettos eingesperrt, wurden im Holocaust fast vernichtet; die Muslime, als böswillige Häretiker und gefährliche Feinde abgestempelt, wurden mit Mühe ferngehalten. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der abrahamitischen Familie in Europa sind mit größten Verständigungsschwierigkeiten befrachtet.
Hinzu kommt die europäische Moderne, die im Osten und im Westen einen ganz unterschiedlichen Verlauf genommen hat. Die mächtigsten Nationen Westeuropas haben durch einen Imperialismus, der im Kern christlich motiviert war, sich selbst konstituiert und die Globalisierung der Welt eingeleitet. Der Bevölkerungsrückfluss aus den ehemaligen Kolonien spült jetzt Einwanderer und Flüchtlinge nach Europa – ob „wirtschaftliche“ oder „politische“, sei dahingestellt –, mitsamt den Religionen, die ihnen fern der Heimat in der säkularisierten Umgebung moderner Industriegesellschaften Halt bieten. So befinden sich bedeutende Hindu- und Sikhgemeinschaften in Großbritannien und den Niederlanden, während dort wie auch in Deutschland, Frankreich und fast überall sonst in Westeuropa – neuerdings auch in Irland – Muslime verschiedenster Herkunft sich als Bürgerinnen und Bürger anderen Glaubens einrichten.
Die religiöse Situation Osteuropas ist weniger durchsichtig, auch noch nicht intensiv erforscht. Die interreligiösen Kontakte sind durch die Beziehungen der christlichen Kirchen zu den ehemaligen kommunistischen Regimen in einer Weise vorgeprägt, die für den Westen nicht gilt. Die Strategien, mittels derer die römisch-katholische Kirche in Polen, die evangelische Kirche in der ehemaligen DDR, die reformierten Kirchen in Rumänien und Ungarn und die orthodoxen Kirchen in der ehemaligen Sowjetunion und im früheren Jugoslawien versuchten, die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Kirche und Sozialismus zu beeinflussen, reichten von Opposition bis zur Kollaboration. Am Abschütteln der Sowjetherrschaft und an der neuen Selbstbestimmung ihrer Gesellschaften waren sie ganz unterschiedlich beteiligt.
Nach der Wende ist jedoch in den meisten osteuropäischen Ländern eine Art religiösen Vakuums entstanden: Die einheimischen christlichen Kirchen waren nicht in der Lage, sich gezielt und schnell auf die veränderte Situation einzustellen. Die meisten sind von der Welle der Konsum-, Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit überrollt worden, und obwohl die Orthodoxie eine gewisse Renaissance erlebt, strömen allerlei neureligiöse Bewegungen (Scientology, Hare Krischna usw.) sowie protestantische Missionare in den weitgehend leerstehenden religiösen Raum hinein, während die katholische Kirche ihre Amtsstrukturen wieder einrichtet, ohne die Empfindlichkeit der Orthodoxen zu beachten. Die Spannungen, die daraus resultieren, verkomplizieren den interreligiösen Dialog erheblich. Weder die Alteingesessenen noch die Neuankömmlinge dürften viel Interesse am Dialog der Religionen haben; vielen muss er als heidnisches Komplott vorkommen, sie noch mehr zu enteignen und zu entfremden. Dies ist umso bedenklicher, als es am Schnittpunkt von europäischem Osten und asiatischem Westen, in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und im Westen Chinas, islamische und buddhistische Bevölkerungen in Millionengröße gibt.
Die Lage in den ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan, Kyrgystan, Tadschikistan und Kasachstan ist besonders brisant. Dies wurde den Europäern allerdings erst bewusst, als klar wurde, dass diese Region das Hinterland zu den Konflikten in Afghanistan bildet und durch konkurrierende islamistische Bewegungen aus dem Iran, Pakistan und Saudi-Arabien beeinflusst wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurden die fünf Republiken in eine unsichere und ungewollte Unabhängigkeit entlassen, waren sie doch von der Sowjetwirtschaft in jeder Hinsicht abhängig gewesen. Seit den stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre waren sie vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Die gesamte politische, bürokratische und Management-Elite war russisch. Doch im Untergrund lebte der Islam weiter, und nach der Einführung der Perestroika und vollends nach dem Umsturz blühte er mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder auf. Moscheen wurden gebaut, Schulen eingerichtet, politische Parteien gegründet. Das persische Kulturerbe der Tadschiken vertrug sich allerdings schlecht mit der türkischen Herkunft der Usbeken, und die saudischen Wahabiten – die den einheimischen Traditionen recht puritanisch vorkommen mussten – gewannen ständig an Einfluss, weil sie über Ressourcen verfügten und Schulung im islamischen Ausland anbieten konnten. Aufstieg und Niedergang der Taliban sowie die Ausbreitung der al-Qaida, die die religiöse Situation in Europa seit dieser Zeit unmittelbar betreffen, werden erst vor diesem Hintergrund voll verständlich.
So sind die ‚Anderen’, d. h. die Religionen, die mit der europäisch-christlichen verwandt, aber von ihr entfremdet sind (Judentum und Islam) bzw. gänzlich von außerhalb kommen (Hinduismus und Buddhismus), nunmehr und auf Dauer in Europa präsent. Großstädte in Großbritannien, Frankreich und Deutschland weisen zahlreiche Moscheen und konkurrierende muslimische Organisationen auf; Hindus bauen exakte Nachahmungen heimischer Tempel; Buddhisten aller Schulrichtungen nehmen unauffällig an religiösem Einfluss zu. Welche sozialen und politischen Prozesse werden dadurch ausgelöst? Auch dies ist ein wichtiger Faktor im interreligiösen Dialog. Soll man nach dem Muster „Trennung von Kirche und Staat in der pluralistischen Gesellschaft“ vorgehen und diese äußerst unterschiedlichen Gemeinschaften zu „integrieren“ versuchen, damit sie durch den europäischen Säkularismus „assimiliert“ werden? Vielen von ihnen sind diese Begriffe fremd, obwohl sie sehr schnell begreifen, dass sie die europäischen Freiheiten zu ihren eigenen Zwecken ausnutzen können. Bedeutet die bloße Präsenz dieser Religionsgemeinschaften die Etablierung „multikultureller Gesellschaften“? Multikulturalismus geschieht nicht von selbst, wie die Erfahrung in Einwanderungsländern wie Kanada und Australien zeigt; man muss daran arbeiten. Doch die Annahme, dass religiöse Minderheiten ein Problem darstellen, das durch Integration gelöst werden muss, ist kein geeigneter Ausgangspunkt.
Die Europäer selbst sind sich noch nicht darüber im Klaren, ob „Säkularisierung“ das Verschwinden oder die Verwandlung der Religion bedeutet und ob sie die unerlässliche Voraussetzung für Pluralismus sei. Kann es einen religiösen Pluralismus geben, nicht nur als äußerlich-formalen, weltanschaulich neutralen Rahmen, sondern von innen her, vom Standpunkt der jeweiligen Religionen aus? Dies würde eine Neubestimmung der Rolle der Religionen in der Öffentlichkeit voraussetzen. Sobald bedeutende religiöse Minderheiten vorhanden sind, stellt sich die Frage ihrer Repräsentation in der Öffentlichkeit und in den politischen Gremien. Wer spricht für „die Muslime Frankreichs“, „die britischen Hindus“ oder „die Buddhisten in Deutschland“? Wer in diesen Gemeinschaften hat Interesse daran, eine solche Funktion zu übernehmen, und sind Strukturen vorhanden, die dies ermöglichen?
Die Kirchen haben sich – nach einem Prozess, der z. T. Jahrhunderte gedauert hat – heute damit abgefunden, als „Denominationen“ des Christentums, d. h. als anerkannte religiöse Interessengruppen aufzutreten; ist dies für Muslime denkbar, für die der Staat selbst, ideal gesehen, islamisch sein müsste? Ist es für Buddhisten, die politischen Systemen grundsätzlich gleichgültig gegenüberstehen, überhaupt ein Anliegen? Wie stehen Hindus und Sikhs, die auf die durch die Hindu-Rechte geschaffene Situation der kommunalen Spannungen in ihrer verfassungsmäßig säkular-pluralistischen indischen Heimat schielen, dazu? Nicht nur Mentalitäten, sondern auch Strukturen müssen sich fortentwickeln, wenn sich die neuen religiösen Minderheiten in Europa heimisch fühlen sollen. Der interreligiöse Dialog gehört zu den Voraussetzungen dieser Entwicklungen, aber das Bedingungsverhältnis ist gegenseitig: Es ist ebenso wahr, dass der Dialog nicht recht vom Fleck gehen kann, bis die Beziehungen auf sozialer und politischer Ebene geklärt sind.
Der interreligiöse Dialog in Europa kann sich also nicht auf die Unterhaltung über abstrakte Lehrsätze beschränken. Es geht um „Konvivenz“, um die Findung neuer Arten des Zusammenlebens und der Verständigung. Dies lässt sich klären, wenn wir auf die zwei Religionsgemeinschaften näher eingehen, die im Westen wie im Osten Europas besonders zahlreich und gewichtig sind, allerdings auf völlig unterschiedliche Weise: den Buddhismus und den Islam.
Der Buddhismus in Europa
Der Buddhismus ist urplötzlich ins europäische Bewusstsein hineingebrochen. Zwar erhielt Zar Peter der Große 1720 einige Blätter in tibetischer Sprache, aber die besten Gelehrten Deutschlands und Frankreichs konnten sie nicht entziffern. Vor etwa 1830 hat kein Europäer geahnt, dass Buddha nicht bloß einer von vielen Hindugöttern, sondern ein „Häretiker“ der alten vedischen Religion war, der durch die Tiefe seiner Spiritualität und die Originalität seines Geistes die Religionen und Kulturen ganz Asiens geprägt hat. Nach etwa 1850 jedoch war einigen Hellsichtigen klar, dass der Buddhismus die größte Herausforderung des Christentums überhaupt darstellt. Alsbald kam allerdings die Einstellung zum Tragen, die Edward Said treffend als „Orientalismus“ gekennzeichnet hat: Der Buddhismus wurde sofort als Irrationalität und Nihilismus abgewürdigt. Um europäische Überlegenheitsgefühle zu bestätigen, musste er als die Kehrseite europäischer Tugenden dargestellt werden. Auch seine Befürworter verzerrten das europäische Buddhismusbild: Für die Romantiker war er die ersehnte Alternative zum öden Rationalismus der Nachaufklärungszeit, was besonders für die Theosophen wichtig war; für die Rationalisten dagegen war der Buddhismus die Bestätigung ihrer Kritik am christlichen Glauben als Metaphysik und Mythologie. Die Kantianer fanden im Buddhismus Kants Kritik wieder, die logischen Positivisten den Empirismus, sowie heute die Postmodernisten den Dekonstruktionismus darin finden.
Durch diese Polemik hindurch fanden einige Europäer jedoch zu einem ernsthaften Engagement. Das erste buddhistische Kloster auf europäischem Boden entstand 1915 in St. Petersburg (nach dem Untergang des Stalinismus wurde es restauriert und 1991 wieder eröffnet). Während Karl Seidenstücker, Gründer der ersten europäischen buddhistischen Organisation – bezeichnenderweise „Buddhistischer Missionsverein für Deutschland“ genannt – eine antichristliche Kampagne entfachte, gründete Paul Dahlke 1924 in Berlin-Frohnau das erste buddhistische Zentrum Europas, das immer noch besteht. In England schuf Christmas Humphreys ebenfalls 1924 den Vorläufer der 1943 formalisierten Buddhistischen Gesellschaft. Andere Europäer traten in den buddhistischen Mönchsorden ein, einige davon in Birma (heute Myanmar) und Ceylon (heute Sri Lanka). Texte wurden übersetzt und fanden eine breite Leserschaft.
Die sechziger Jahre leiteten eine ganz neue Phase der europäischen Buddhismus-Rezeption ein. Die Alternativkultur war ohnehin für neue – möglichst außereuropäische – Impulse offen; die Besetzung Tibets durch die Chinesen trieb zahlreiche tibetische Mönche ins Exil, was eine Diaspora philosophisch geschulter und spirituell erfahrener buddhistischer Lehrer in ganz Europa und Nordamerika schuf. Die Anwesenheit japanischer Einwanderer auf Hawaii und in Kalifornien trug dazu bei, den Zen-Buddhismus mit seiner schroffen Ablehnung aller Vernunft und Tradition in den USA populär zu machen, aber auch Bewegungen wie Soka Gakkai, die von dem rebellischen japanischen Mönch Nichiren (1222-1282) stammen, fanden großen Anklang, nicht zuletzt bei Afroamerikanern. Der Engländer Sangharakshita hat die „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“ ins Leben gerufen als Versuch, eine spezifisch europäische Form buddhistischen Lebens zu schaffen.
Dabei lässt sich der Buddhismus immer noch nicht in europäische Kategorien einordnen. Er ist weder Religion, noch Ethik, noch Philosophie, noch Psychologie, obwohl er Entsprechungen zu all diesen Disziplinen enthält; er erschöpft sich weder in Meditation, Ritual noch Mönchsregel, obwohl alle drei wichtig sind. Für das westlich-christliche Verständnis bleibt er ein Rätsel; dennoch praktizieren immer mehr Europäer ernsthaft den buddhistischen Weg, darunter auch zahlreiche Priester, Ordensleute und christliche Laien, ohne ihren christlichen Glauben preiszugeben, obwohl es andere Buddhisten gibt, die ‚Religion’ zuallererst im Buddhismus entdeckten oder antichristlich eingestellt sind.
Der Islam in Europa
Die europäische Geschichte des Islam ist viel älter und unendlich schwieriger als die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus, obwohl der Islam weniger fremd sein müsste. Bald nach der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert kontrollierten die Muslime fast die gesamte Mittelmeerküste und drangen bis nach Poitiers vor. Im Osten hinterließen die Osmanen eine Erbschaft, die bis in die Balkankriege der neunziger Jahre eine Rolle gespielt hat, teilen doch Muslime, Orthodoxe und Katholiken dort Sprache und ethnische Herkunft. Anders als der Buddhismus war der Islam bald nach seiner Entstehung im europäischen Bewusstsein immer, wenn auch unterschwellig, präsent. In Deutschland sind Muslime seit etwa 270 Jahren ansässig, und in den siebziger und achtziger Jahren traten zahlreiche Konvertiten zur – allerdings als häretisch geltenden – Ahmaddiyah-Bewegung über. Seit den sechziger Jahren haben die Auflösung der Kolonien, der Bedarf nach (euphemistisch so genannten) „Gastarbeitern“ und Flüchtlinge die Anzahl der Muslime in Europa ständig anschwellen lassen. Es handelt sich fast durchweg um arme, aber entschlossene Menschen aus „unterentwickelten“ Regionen, die von Europa, seinen Kulturen und der christlichen Religion – und wohl auch von islamischer Theologie und Jurisprudenz – wenig Ahnung haben und ihre heimischen Bräuche mit sich bringen.
Zuerst kamen Männer, die keine Gelegenheit hatten, die Gebete zu verrichten und die Scharia-Gesetze einzuhalten. Als ihre Familien nachzogen und sich kleine islamische Gemeinschaften bildeten, wurde die Ausübung der Religion möglich, doch dadurch mehrten sich auch die Anpassungsprobleme. In der Kleidung (Kopftuch), in der Ernährung (Schweinefleisch), in der Fastenzeit (Ramadan), im Eherecht (Polygamie, Scheidung), in der Behandlung der Frau (Geschlechtertrennung, Beschneidung), in der Beisetzung der Toten (Friedhofsordnung) und in der Kindererziehung (Koranschulen) wichen die Muslime von europäischen Normen erheblich ab. In Schweden und den Niederlanden wurden die Gesetze entsprechend geändert, während Deutschland und Frankreich unbeweglich blieben; nicht etwa in Großbritannien, sondern in Spanien genießen Muslime die meisten Rechte, die 1992 zugesichert wurden. Trotzdem dürfen sich Muslime auch der zweiten und dritten Generation nur sehr bedingt in Europa willkommen und zu Hause fühlen.
Dies ist auch nicht verwunderlich, denn im islamischen Rechtsverständnis wird angenommen, dass Staat und Religion eine Einheit bilden, während in Europa Religion zur Privatsache abgewertet worden ist. Muslime erkennen sehr wohl die Chance, die die Bürgerrechte und die zivilen Freiheiten des Westens ihnen bieten. So betätigen sie sich auf kommunaler und selbst auf nationaler Ebene politisch, und inzwischen verarbeiten die Begabtesten unter der jüngeren Generation ihre interkulturellen Erfahrungen literarisch. Doch es fehlen islamische Rechtsgelehrte und Intellektuelle, die die notwendigen Anpassungen in Kontinuität mit der Tradition vornehmen könnten; derweil klammern sich die meisten Muslime an arabische und afrikanische Dorfsitten, als ob diese die Gebote des Islam selbst wären. Die verständliche Angst vor der totalen Integration schlägt in ihr Gegenteil um, nämlich den „Islamismus“ bzw. „Fundamentalismus“. Die kaum gelungene, weil viel zu rasch vor sich gehende Eingliederung von Europas Muslimen hat dazu beitragen, den Boden für radikale und militante Reislamisierungsbewegungen zu bereiten, die aus den islamischen Ländern (Ägypten, Pakistan, Saudi-Arabien) stammen und neuerdings globale Netzwerke des Protests und des Terrors wie al-Qaida hervorgebracht haben. Der europäische Osten und der islamische Westen begegnen sich in Zentralasien, das ehemals Gegenstand des „Großen Spiels“ zwischen Russland und Großbritannien um Einfluss in dieser Region war. Heute wird diese Gegend schon wieder zum Spielball der Großmächte USA, Russland und China. Dass der Islam eine Schlüsselrolle in dieser Auseinandersetzung spielt, wird den Europäern erst nach und nach bewusst.
Aussichten des interreligiösen Dialogs in Europa
Es gab einst, im Westen wie im Osten, ein unverwechselbar europäisches Judentum, ob sephardisch oder aschkenasisch, aufgeklärt oder orthodox, das trotz Pogromen und Gettoisierung in den europäischen Kernländern mehr oder weniger heimisch war. Schwelender Antisemitismus und der Naziwahn haben dieses Judentum bis auf Überreste zerstört. Wie wird es den anderen Religionen ergehen, die nunmehr, ob gewollt oder nicht, überall in Europa dauerhaft ansässig sind? Kann die Religion der Hindus oder der Sikhs überhaupt „europäisch“ werden? Wird es eines Tages einen durch und durch europäischen Islam oder Buddhismus geben? Es wird Jahrzehnte dauern, wenn nicht Jahrhunderte, bis wir wissen, ob solche Inkulturation möglich und auch wünschenswert ist. In der Zwischenzeit muss der Dialog die Verständigungs- und Anpassungsmöglichkeiten ertasten – auf allen Seiten, auch und gerade bei Christen, die allzu sehr dazu neigen, europäische Kultur und christlichen Glauben gleichzusetzen.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche interreligiöse Bewegungen und Institutionen entstanden; es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die weltweite interreligiöse Bewegung am Anfang des 21. Jahrhunderts an dem Punkt steht, wo die ökumenische Bewegung der Weltchristenheit Anfang des 20. Jahrhunderts stand. Das Weltparlament der Religionen (1893) sowie die Nachfolgekonferenz in Chicago (1993) haben dazu wichtige Impulse gegeben. Auf dem Weltparlament traten eindrucksvolle hinduistische und buddhistische Persönlichkeiten zum ersten Mal in der westlichen Öffentlichkeit auf. In der Folgezeit sind die Internationale Gesellschaft für Religionsfreiheit (IARF, gegr. 1900), der Weltkongress der Religionen (WCF, 1936), der Tempel der Verständigung (TU, 1960) und die Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP, 1970) auch in Europa aktiv geworden. Gleichzeitig entsteht die Frage: Was zählt als „Religion“? Sind die Moon-Kirche, die Scientology-Bewegung und die Hare Krischna-Sekte willkommen in solchen Organisationen? Viele würden zustimmen, wenn der interreligiöse Dialog wirklich durch Toleranz und Offenheit gekennzeichnet werden soll; andere dagegen bestehen auf Kriterien, die neureligiöse Bewegungen ausschließen würden. In den meisten europäischen Ländern im Westen wie im Osten sind immerhin Arbeitsgemeinschaften der Christen und Juden fest etabliert, aus denen neuerdings auch jüdisch-christlich-muslimische Gruppen entstanden sind. Es gibt andere interreligiöse Organisationen, die noch breiter angelegt sind.
Dringend notwendig, aber immer noch kaum vorhanden ist eine Theologie des Dialogs bzw. eine Theologie der Religionen, die diese Initiativen geistig untermauern könnte. Eine solche Theologie müsste in der Lage sein, die Integrität jedweder Religion anzuerkennen, ohne die der Anderen unter das eigene Lehrsystem einzuordnen („Inklusivismus“) oder sie gar prinzipiell auszuschließen („Exklusivismus“). Das Dokument der vatikanischen Glaubenskongregation Dominus Iesus vom 6. August 2000 sowie die Maßregelung führender Theologen, die sich dem religiösen „Pluralismus“ verschrieben haben, zeigen an, dass diese Auseinandersetzung in der katholischen Kirche noch lange nicht zum Abschluss gekommen ist. Weder die ökumenisch-liberalen noch die evangelisch-konservativen Kirchen sind viel weiter, und die Orthodoxie hat sich den Problemen der Inkulturation und des Dialogs noch kaum gestellt. Es wird allerdings auch offenkundig, dass sich die einfache Dreiteilung der Dialogtheologien in exklusivistische, inklusivistische und pluralistische überlebt hat. Die wirkliche Sachlage ist viel nuancierter. Einerseits hat die durch das Zweite Vatikanische Konzil eingeleitete Besinnung auf den nie gekündigten Bund zwischen Gott und Israel eine Erneuerung der Bundestheologie verursacht, welche alle Menschen einschließt, die arm, leidend oder „anders“ sind. Anerkannt wird, dass die Kirche ihren Ursprung außerhalb ihrer eigenen Geschichte hat, nämlich im jüdischen Volk, das sowohl als Vorläufer wie auch als Gegenüber der Kirche nicht etwa verschwindet, sondern präsent bleibt. Andererseits hat Postmoderne die Überzeugung erschüttert, dass es ewige und universal geltende Wahrheiten gibt, die der Kirche anvertraut sind. Man stellt sich einen Pluralismus der Heilswege oder gar eine Pluralität des Heils selbst vor. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, die interreligiösen Beziehungen weniger absolutistisch und genuin dialogisch zu begreifen. Hinzu kommen die Impulse asiatischer Christen, die als kleine, manchmal verängstigte Minderheiten unter Hindus, Buddhisten und Muslimen leben und den Dialog immer mehr als selbstverständlich ansehen.
Dennoch sind sich die meisten christlichen Theologinnen und Theologen der Fragen, die der interreligiöse Dialog aufwirft, viel bewusster, als ihre Gegenüber in den anderen Religionen es sind. Das Hindu-Denken, zu dessen Bezeichnung der Terminus „Inklusivismus“ erst geschaffen wurde, ist fähig, alles zu integrieren; sein Absolutheitsanspruch rührt von seiner Toleranz her. Der Islam betrachtet sich als die gottgewollte Religion schlechthin; die Bekehrung aller zum Islam wäre die Lösung aller anstehenden Probleme. Der Buddhismus wähnt sich jenseits aller Dualismen, die zu Lehrstreitigkeiten und Religionskonflikten führen. Auf allen Seiten, scheint es, müssen Absolutismen abgebaut werden, jedoch ohne Preisgabe der Glaubenskerne, die die Einmaligkeit und die Geisteskraft der Religionsgemeinschaften ausmachen. Der Dialog ist in der Tat eine große Aufgabe, vor die alle gleichermaßen gestellt sind; aber er weist in eine Zukunft, in der ein neues Europa des Multikulturalismus und der Interreligiosität sichtbar wird.