Der Bosnienkrieg und seine Folgen für den interreligiösen Dialog

aus OWEP 4/2002  •  von Niko Ikić

Prof. Dr. Niko Ikić, Dozent an der Theologischen Hochschule Sarajevo, ist Vertreter der katholischen Kirche im Interreligiösen Rat von Bosnien und Herzegowina.

Zum besseren Verständnis: Historische Hintergründe, kulturelle und religiöse Rahmenbedingungen

Das „Doppelland“ Bosnien und Herzegowina1 (BiH), das kartographisch gesehen ungefähr die Form eines Herzens hat, ist ein geschichtlich, kulturell und religiös komplex zusammengesetztes Gebilde. Eigenartig abgeschlossen und überwiegend gebirgig, entwickelte es sich im Laufe der Geschichte zu einem Berührungspunkt verschiedener Kulturen und Religionen. Erstaunlicherweise wurde es dabei gleichzeitig zu einem Raum von Begegnungen und Bekämpfungen, von Toleranz und Turbulenz, Koexistenz und Konflikten, Kooperation und Konfrontation.

Aus religiöser Sicht leben in BiH neben Katholiken und Orthodoxen seit der osmanischen Herrschaft, also seit dem 15. Jahrhundert, auch Muslime und eine sehr kleine, aber nicht unwichtige Gruppe von Juden, deren Vorfahren im 16. Jahrhundert aus Spanien vertrieben wurden. Zur konfessionellen Vielfalt in BiH gehören außerdem einige kleinere protestantische und andere, nichtchristliche Religionsgemeinschaften. In keinem anderen Land Südosteuropas spielen Katholizismus, Orthodoxie und Islam gleichzeitig eine so bedeutende gesellschaftliche Rolle. Statistische Angaben aus der Geschichte belegen dabei die ständige Verringerung des Prozentsatzes von Katholiken und Orthodoxen gegenüber einer ständigen Vergrößerung des muslimischen Anteils.2

Ein reibungsloses Zusammenleben der verschiedenen Kulturen, Religionen und Nationen war in der Geschichte von BiH eher die Ausnahme. Einerseits wurden interkulturelle, interkonfessionelle und ethnische Konflikte nie restlos ausgeräumt, andererseits hat sich jedoch eine gewisse Form von Toleranz oder „Nachbarschaftskult“ entwickelt – gewissermaßen ein mehr gelebter als bewusst reflektierter theologischer und kultureller Dialog. Das hat sich durch den Kommunismus und die Kriegsereignisse völlig verändert. Die heutigen Schwierigkeiten, vor allem hinsichtlich der christlich-islamischen Beziehungen, und Perspektiven für einen künftigen Dialog sollen den Rahmen für folgenden Artikel bilden.

Die Folgen des Kommunismus (1945-1991) und der Kriegszeit (1991-1995): Ein Requiem für den Dialog

Der Fall der Berliner Mauer 1989 bedeutete gleichzeitig den Beginn des Zusammenbruchs von Kommunismus und Sozialismus in den Ländern Südosteuropas. Für alle Kirchen und Glaubensgemeinschaften in BiH war der Fall des Kommunismus eine große Herausforderung, auf die keine der Gemeinschaften besonders vorbereitet war, obgleich jede von ihnen mit Hoffnung und Ungeduld darauf gewartet hatte.

Es ist wichtig, sich die Folgen der kommunistischen Zeit für den interreligiösen Dialog vor Augen zu halten. Kirchen und Glaubensgemeinschaften im früheren Jugoslawien waren in ihrem Wirken beschränkt. Weder der einzelne Gläubige noch die Glaubensgemeinschaften hatten völlige Freiheit, sodass sich viele Gläubige in die Illegalität zurückzogen und anonym wurden. Unter solchen Umständen waren die Glaubensgemeinschaften von innen heraus für einen ernsthaften religiösen Dialog zu schwach. Das gemeinsame Unglück, das Kommunismus hieß, hatte sie im theologischen Dialog einander nicht näher gebracht, obwohl dies mit Menschen im Unglück sonst häufig geschieht.

Der Zerfall des kommunistischen Systems verlief für die Völker des ehemaligen Jugoslawien nicht friedlich. Der Krieg dauerte vier Jahre lang und führte zu entsetzlichen Verbrechen: In BiH wurden 250.000 bis 280.000 Menschen getötet oder sind verschwunden. 2.680.000 Menschen wurden vertrieben oder umgesiedelt, davon 509.770 katholische Kroaten, d. h. mehr als 50 % der gesamten kroatischen Bevölkerung von BiH. Etwa eine halbe Million Menschen haben die ungefähr 900 berüchtigten Gefängnisse oder Konzentrationslager durchlaufen müssen; ungefähr 20.000 Frauen wurden vergewaltigt; mehr als 150 Massengräber und einige Millionen über das Land verteilter Minen blieben als Folgen des Krieges zurück. 212 orthodoxe Kirchen wurden zerstört und 367 beschädigt, entsprechendes gilt für die Verwüstung von Pfarrhäusern. Etwa 1.000 katholische sakrale Objekte wurden in Mitleidenschaft gezogen, die meisten davon im Erzbistum Sarajevo. Die Muslime haben 619 zerstörte und 233 beschädigte Moscheen zu beklagen.

Die moralischen Folgen des Krieges werden noch jahrzehntelang zu spüren sein, denn das Ende der Aggression bedeutet nicht ein Ende der Tragödie. Weit mehr als die materiellen Schäden schmerzen die geistigen Wunden, die nicht leicht heilen. Der Sturm des Bösen und der Gewalt hat aus vielen Seelen die geistigen und moralischen Werte vertrieben. Spuren davon sind in der Nachkriegszeit deutlich zu erkennen, wenn es eine „Tugend“ ist, einen anderen anzugreifen oder zu verdächtigen, wenn das Recht des Stärkeren gilt, wenn politische Interessen vor ethische Normen gestellt werden.

Die Rolle der Religionsgemeinschaften im Krieg war nicht immer tadellos. Sie begannen und führten zwar keinen Krieg, aber manche taten zu wenig, um nicht politisch missbraucht zu werden. Die jeweilige Rolle im Krieg sollte einzeln untersucht werden, denn gerade der Einfluss und die Teilnahme der Vertreter mancher Religionsgemeinschaften im Krieg stellen ein großes Hindernis für den wahren Dialog dar.

Islamische Tendenzen in der Kriegs- und Nachkriegszeit

Der Islam entwickelte in Bosnien unter österreichisch-ungarischem Kultureinfluss bestimmte europäische Züge, Züge eines „Euro-Islam“ oder eines „europakonformen“ Islam, der sich seiner Grundbotschaft gemäß der allgemeinen Ethik, dem Vorrang der Menschenrechte, den bürgerlichen Freiheiten und der Demokratie verpflichtet fühlte.3 Ein Resultat dieser Entwicklung war, dass der Islam in BiH bis zum letzten Krieg (1991-1995) im Grunde nicht fundamentalistisch war. Während des Krieges und kurz danach enthielt der Islam in BiH manchen Muslimen auf einmal zu viel „Euro-Dimension“. Importierte radikale islamische Einflüsse bemühten sich darum, dies zu beseitigen. Unter diesem Einfluss übernahmen manche politischen Parteien4 eine quasi-religiöse Identität. Dies spürte man am stärksten im Bereich des Militärs. Während des Krieges (1994) riefen einige muslimischen Theologen zum Dschihad auf, was für BiH eher ungewöhnlich war. Sie versprachen aus religiöser Sicht einen „doppelten Lohn“ für alle diejenigen, die durch christliche Hand im Kampf fallen würden. Der Dschihad wurde als Kampf gegen die Ungläubigen ausgelegt, mit allen Konsequenzen: sie zu verprügeln, ihnen ihr Eigentum wegzunehmen, ihre Gebetsstätten zu zerstören, religiöse Symbole zu vernichten usw. Muslimische Soldaten sollten die christlichen auch dann angreifen, wenn sie von diesen nicht angegriffen werden, jedoch erst nach einem erfolglosen Versuch, sie zum Übertritt zum Islam zu bewegen.5 Vorher herrschte die allgemeine muslimische Überzeugung vor, die Christen seien keine Ungläubigen. Radikale Gedanken, während des Krieges nach BiH importiert, wurden von vielen Muslimen – auch einigen muslimischen Theologieprofessoren – sehr schnell angenommen und im Namen mancher islamischer Institution verbreitet. Für den christlich-islamischen Dialog waren solche Gedanken quasi ein tödlicher Angriff, und der Dialog wurde ja inoffiziell tatsächlich mit Waffen geführt. Trotzdem gab es auch während des Krieges religiöse Begegnungen auf offizieller Ebene.

Die während des Krieges begonnene starke Re-Islamisierung Bosniens wurde in der Nachkriegszeit durch bestimmte Projekte fortgesetzt. Sehr deutlich wird dies am übermäßigen Bau von Moscheen. Während die christlichen Länder des Westens durch ihren Einsatz Fabriken, Brücken, Wohnhäuser und Strukturen in BiH zu renovieren versuchten, konzentrierten in der gleichen Zeit die islamischen Länder ihre Hilfe hauptsächlich auf den Wiederaufbau von zerstörten und den Bau neuer Moscheen. In einem Programm mit dem Namen „1.000 Moscheen für Bosnien“ wurden bereits fast 400 Gebäude neu errichtet oder renoviert. Viele von den neu gebauten Moscheen wurden in Gegenden errichtet, wo es vor dem Krieg noch gar keine gegeben hatte. Nach dem Ende der kommunistischen Zeit gab es zwar einen gewissen Nachholbedarf an Gottesdienstgebäuden, aber das traf für alle Religionsgemeinschaften zu. Man hat oft auch einfach nur die Gunst der Stunde genutzt. Durch die zahlreichen neuen Moscheen scheint das schon stark islamisierte Land jedoch noch stärkeren islamischen Charakter zu bekommen. Die Islamisierung mancher Gegenden verhindert oft die Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen in ihre Heimatstätten. Dies gilt umgekehrt allerdings auch für die Re-Christianisierung einiger Gebiete mit christlicher Mehrheit. Da der christliche Westen wenig Interesse am Wiederaufbau von zerstörten christlichen Objekten zeigt, trägt er eine Mitverantwortung für die Islamisierungstendenzen in diesem Teil von Südosteuropa.

Aufruf zur Intoleranz

Von großer Intoleranz zeugt ein offener Brief, der zum katholischen Weihnachtsfest 1997 in Sarajevo von der „Organisation der aktiven islamischen Jugend“ als Werbematerial verteilt wurde. Unter dem relativ harmlosen Titel: „Muslime sollten in keinem Fall mit den Christen deren Fest feiern“ verbirgt sich eine hasserfüllte Attacke auf die Christen mit Begriffen wie Feinde, Bewohner der Hölle, Heiden, Diener der Lüge und Irrende. Den Muslimen wird darin verboten, den Christen auf irgendeine Weise zu Weihnachten zu gratulieren. Sie werden pauschal des Mordes an Millionen von Muslimen in aller Welt bezichtigt, der Massenvergewaltigung usw. Man darf zwar solchen Angriffen nicht zu hohe Bedeutung beimessen (der Brief wurde außerdem vom muslimischen Oberhaupt Sarajevos verurteilt); dennoch zeigt sich darin die bei vielen Muslimen in BiH vorhandene antidialogische Einstellung. Viele Köpfe sind noch immer mit Hass vermint, der abgebaut werden muss.

Stereotypen in der öffentlichen Meinung

Viele meist fundamentalistische Kriegsfreiwillige, die in BiH geblieben sind, versuchen weiterhin, jeglichen Dialog zu verhindern. Zwar geht ihre Bedeutung zurück, dafür zeigen jedoch immer mehr junge Studenten, die im islamischen Ausland studiert haben, eine sehr starke kämpferische Note in ihren Predigten. Sie stützen sich auf extremistische Literatur islamischer Theologen, wie etwa Mustafa Schachin aus Ägypten, der in seinem Buch „Das Christentum“ den christlichen Glauben einseitig und allein aus der Sicht des Korans darstellt und so die christlichen Dogmen „nachweislich“ widerlegt. Nach dem Vorwort des Buches, das das Saudische Kommissariat in Sarajevo in 100.000 Exemplaren drucken und kostenlos verteilen ließ, seien das heutige Christentum und das heutige Judentum so verfälscht, dass von ihrer ursprünglichen Lehre nichts übrig geblieben ist.

Reaktionen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001

Sowohl führende islamische Politiker als auch hohe Vertreter der Islamischen Gemeinschaft in BiH verurteilten die Ereignisse vom 11. September 2001 in New York und Washington. Demgegenüber konnte man auf den Straßen und in der Bevölkerung eine gewisse Billigung der Vorfälle spüren. Als sich die Vergeltung für die Anschläge abzeichnete, stieg in der Bevölkerung die Sympathie für die Afghanen als Zeichen der islamischen Zugehörigkeit und Solidarität an. Die Islamische Gemeinschaft von BiH gab am 17. November 2001 eine Resolution heraus, in der unter anderem der Angriff auf New York und jede andere Form von Terrorismus verurteilt wird. Gleichzeitig richteten sie sich darin gegen die antiislamische Hysterie und eine allgemeine Kampagne gegen den Islam und die Muslime in der Welt. Ihre Zweifel an den wahren Absichten der Alliierten sehen sie darin bestärkt, dass die Alliierten ständig betonten, die Aktion sei eben nicht gegen den Islam und die Muslime gerichtet. Die Autoren befürchten, dass morgen bereits ein anderes islamisches Land an der Reihe sein könnte. Die Islamische Gemeinschaft sei besonders um die Lage in BiH besorgt. In ihrer Erklärung werfen sie der Regierung vor, im Rahmen der internationalen Antiterrorkampagne direkt zu einer antiislamischen, antibosnjakischen und antibosnischen Kampagne beigetragen zu haben. Sowohl die bosnischen als auch die internationalen Medien seien völlig unkritisch, einseitig und ohne Argumente. Sie klagten sowohl in der Welt als auch in BiH allein die Muslime an. So würden in BiH nur die Muslime eingekerkert und Bürger aus islamischen Ländern vertrieben. Nach Terroristen werde allein unter den Bosnjaken gesucht und damit die Aufmerksamkeit von den wahren Kriegsterroristen in BiH abgelenkt. Offensichtlich werde also mit zweierlei Maß gemessen.6

Der christlich-islamische Dialog: Divergenzen und Möglichkeiten

Der Islam ist in Wesen und Wurzel eng mit der christlichen Tradition verbunden und verwoben. Trotzdem bleibt er dem Christentum zugleich nah und fern. Die Offenbarung des Koran versteht sich oft als Filter und Richter der biblischen Texte. Im Bezug auf die Bibel nimmt der Koran oft eine zweifelnde, verurteilende, anders deutende, die Gültigkeit und Rechtgläubigkeit negierende Position ein. Obwohl beide Religionen oft die gleichen Begriffe verwenden, meinen sie nicht das Gleiche. Außerdem verstehen die Muslime nicht, warum Christen nicht den Islam als Offenbarungsreligion und Mohammed als Propheten Gottes akzeptieren.

Die Grundhaltung des Islams gegenüber den Christen bringt der Koran selbst zum Ausdruck. Es scheint, dass er zwei Arten von Christen unterscheidet: die Guten und die Bösen.7 Als Unterscheidungskriterium wird dabei scheinbar die Ablehnung oder die Annahme der Dreifaltigkeit Gottes verwendet. Da der richtige Glaube allein der Islam sei, sind die Christen den Muslimen grundsätzlich nicht Freunde, sondern ihre Feinde. In diesem Sinne sagt eine Sure: „Kämpft gegen sie, bis sie kleinlaut aus der Hand Tribut entrichten. Kämpft gegen die, denen das Buch gegeben wurde, die aber weder an Allah noch an das Jenseits glauben. Sie halten nicht für verboten, was Allah und sein Prophet verbieten, und bekennen keinen richtigen Glauben.“ (IX,29) Solche Verse zeigen einen kämpferischen Geist und können leicht zur Quelle von Intoleranz und Fundamentalismus werden. Im Koran sind aber auch solche Verse zu finden, die grundsätzlich Gläubige (Monotheisten) von Ungläubigen (Polytheisten) unterscheiden (XXII,17). So lässt der Koran den Pluralismus im Glauben zu (V,48). Auch Christen können nach Aussage des Korans gerettet werden: „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen ... – (alle), die an Gott und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen keine Angst zu haben und sie werden nicht traurig sein“ (II,62; V,69). Manche Koranverse ermuntern eindeutig zum Dialog, so z. B. „Kommt, ihr Inhaber des Buches, damit wir uns versammeln um das eine Wort, das sowohl uns als auch euch gemeinsam ist“ (III,64).8 Aus Sicht des Koran wäre der Dialog also möglich, da er Teil des göttlichen Plans ist, wenn auch die Überzeugung deutlich spürbar wird, dass er nicht notwendig ist, weil ja der Islam der richtige Glaube ist. Das Bewusstsein, den richtigen Glauben zu haben, ist allerdings für fast alle Weltreligionen charakteristisch und schließt immer auch eine gewisse Exklusivität ein. Nach dem Koran bildet das abrahamitische, monotheistische Erbe den Rahmen, in dem ein interreligiöser Dialog geführt werden kann.

Trotz allem oder gerade deswegen in BiH – Ein Dialog ohne Alternative

Nirgendwo in Europa fühlen sich Christen und Muslime, Kreuz und Halbmond so nahe und zugleich so fern wie in BiH. So ist es auch mit dem Dialog. Viele Gründe sprechen für ihn, aber viele auch dagegen. Mit Paulus lässt sich sagen, dass wir diesen Schatz – den Dialog in BiH – in zerbrechlichen Gefäßen tragen.9

Richtung Dialog

Ein theologischer Dialog zwischen Christen und Muslimen ist nicht leicht, aber durchaus möglich und vor allem notwendig. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen dem Islam gegenüber eine klare Dialogposition ein: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat“ (Nostra Aetate [NA] 3). Weiter ermahnt der Konzilstext alle klar dazu, „dass sie das Vergangene beiseite lassen, sich aufrichtig um das gegenseitige Verstehen bemühen und gemeinschaftlich die soziale Gerechtigkeit, die sittlichen Güter sowie Frieden und Freiheit für alle Menschen schützen und fördern“ (NA 3). Neben den Verschiedenheiten werden vom Konzil eindeutig auch gewisse Gemeinsamkeiten anerkannt. In diesem Sinne richtete auch Papst Paul VI. zum Monat Ramadan des Jahres 1972 seinen Gruß an die islamische Weltorganisation, in dem er hervorhob, dass die Menschen fähig sein sollen, zusammen zu arbeiten, jeder auf seine Art und Weise, auf einer höheren Stufe im Kampf um die moralischen Werte, für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt, und dabei sowohl die notwendige monotheistische und grundlegende Einheit in Glaubenswerten als auch die Identitätsverschiedenheiten als Gottesgaben betrachten.10 Geleitet von solchen Gedanken konziliarer Hochachtung besuchte Papst Johannes Paul II. am 7. Mai 2001 die Omayyaden-Moschee in Damaskus.

Auf islamischer Seite stellt sich der bosnische Reisu-l-ulema Cerić nicht erst die Frage nach einem Dialog, sondern danach, was für ein Dialog geführt wird.11 Es gibt auch andere islamische Theologen in BiH, die sich voll und ganz für den echten Dialog einsetzen, so Rešid Hafizović, der einen sogenannten esoterischen, d. h. einen inneren interreligiösen Dialog auf den Grundlagen der jüdischen Kabbala, der christlichen Mystik und des islamischen Sufismus vorschlägt.12

Probleme des Dialogs als Folgen des Krieges

Zweifellos sind die jüngsten Kriegsereignisse eine große Erschwernis und Hürde für den Dialog in BiH, denen man ohne weiteres den Anschein eines Religionskrieges zuschreiben kann. Dennoch ist zu betonen, dass nicht die christlichen Dogmen auf die „Säulen“ des Islam geschossen haben oder umgekehrt. Die Glaubensartikel beider Religionen wurden weder als Waffen noch als Munition verwendet. Schon die Tatsache unterschiedlicher Kriegskoalitionen in einzelnen Regionen spricht dagegen. Dennoch wurden die religiösen Gefühle der Menschen in einem solchen Ausmaß verletzt, dass der Dialog zwischen Christen und Muslimen seit dem Krieg vielen genauso unmöglich erscheint wie eine Verbindung von Feuer und Wasser. Zusätzlich scheint der momentane Kurs mancher Kreise eher zur Konfrontation als zur Kooperation zu führen. Die Kriegsereignisse haben die psychologischen Barrieren vertieft. Auf der einen Seite verbinden manche Christen in BiH mit dem Islam nun eine ständige Angst und eine große Gefahr für Europa – er sei zu expansionistisch, zu fundamentalistisch, zu politisch, zu stark verwoben mit Terrorismus und mit universalistischen Tendenzen. Auf der anderen Seite sehen sich manche Muslime in BiH durch das Christentum einer ständigen Geringschätzung und einer Kreuzfahrermentalität ausgesetzt. Klar wird, dass es sich beiderseits um Stereotype handelt, die Xenophobie, Hass und Aggression produzieren und die man als Voraussetzung für den Dialog abbauen muss. Die gegenseitigen falschen Interpretationen und unbegründeten Vorurteile stellen wohl die größte Gefahr für die jeweils andere Seite dar.

Der interreligiöse Dialog in BiH wird auch durch historischen Ballast erschwert. Das Osmanische Reich blieb den Christen nicht in bester Erinnerung. Umgekehrt hatten viele Muslime sehr unter der österreichisch-ungarischen Herrschaft zu leiden. So wurden die Osmanen für die einen zu Befreiern, für die anderen zu Eroberern. National-konfessionelle Erschwernisse müssen als großes Hindernis für den interreligiösen Dialog betont werden. Selten sind in Europa nationale und konfessionelle Elemente so sehr miteinander verwoben, dass von einer konfessionellen Nationalität und einer nationalen Konfessionalität gesprochen werden kann. Der Katholizismus ist zu einem Wesens- und Unterscheidungsmerkmal der Kroaten geworden. Den gleichen Stellenwert nimmt die Orthodoxie für das Serbentum und der Islam für die Bosnjaken ein, die sich seit dem 27. September 1993 so nennen; bis dahin wurden sie als „Muslime“ bezeichnet. In der engen Beziehung von Nationalität und Konfessionalität wird sehr oft das konfessionelle Element ausgenutzt und manipuliert. So wird das Nationale leider zu einem großen Hindernis für den interreligiösen Dialog. Aber gerade in einem so sehr multiethnischen, multikulturellen und multikonfessionellen Land wie BiH, wo verschiedene Nationen, Kulturen, Zivilisationen und Religionen miteinander verwoben sind, hat der interreligiöse Dialog eine besondere „raison d’être“ und keine Alternative. Es gilt, den „Nachbarschaftskult“ theologisch einzurahmen und ethisch-moralisch zu vertiefen, um so durch einen konstruktiven Dialog gestärkt und geeint den Herausforderungen der Zeit gemeinsam entgegenzutreten.

Die psychologischen und nationalen Erschwernisse, die sich als Folgen des Krieges ergeben, sollen im folgenden in zehn Anti-Regeln für einen falschen Dialog gefasst werden. Sie gelten speziell für BiH, beziehen sich aber nicht primär auf den theologischen Dialog, sondern bilden – natürlich in entsprechend umgekehrter, positiver Form – Voraussetzungen für ihn:

  1. Schuldverschiebung auf die anderen;
  2. Beharren auf einer Position der ständigen Gefährdung der eigenen Religion oder Nation durch die anderen;
  3. Schaffen einer Atmosphäre der Xenophobie gegenüber den anderen;
  4. Friede mit Gott, aber Krieg mit andersartigen und andersgläubigen Menschen;
  5. Entfaltung einer dreifachen Idolatrie: eigene Religion, eigene Nation und eigener Staat;
  6. Höhere Wertschätzung des nationalen Dekalogs als des moralischen;
  7. das Stellen der Gruppenidentität über die individuelle Identität;
  8. das nationale Kollektiv wichtiger zu nehmen als die religiöse Verantwortung;
  9. In der Reziprozität allein das Negative zu messen und zurück zu geben;
  10. Mangel an Differenzierung und Selbstkritik.

Dagegen wäre es notwendig, nicht zu satanisieren, sondern zu humanisieren, nicht die Köpfe mit Hass zu verminen, sondern die Herzen mit Toleranz zu füllen, nicht nur das eigene Leid zu sehen, sondern das der anderen zu teilen.

Der interreligiöse Rat von BiH – Perspektive für den Dialog

Für viele Katholiken und Muslime in BiH ist klar, dass es zum Dialog keine Alternative gibt. Geleitet vom Geist des Dialogs gab es in BiH auch während des Krieges Kontakte miteinander, die nach dem Krieg im Rahmen des „Interreligiösen Rates von BiH“ institutionalisiert wurden. Vier Religionsgemeinschaften, die islamische, die orthodoxe, die katholische und die jüdische gaben am 9. Juni 1997 die „Erklärung über die gemeinsame moralische Verpflichtung und das gemeinsame Engagement“ heraus.13 In diesem Sinne wurde auch ein gemeinsames Glossar veröffentlicht, um zu ermöglichen, einander besser und im richtigen Licht kennen zu lernen. Die Arbeit des Interreligiösen Rates hat zur Beruhigung der nationalen Gemüter beigetragen14, der Dialog in BiH konnte von einem Bach zu einem kleinen Fluss werden.

Ausblick

Leider gelang es nicht, die kulturelle und religiöse Verschiedenheit in BiH zu einem Reichtum zu machen – sie wurde eher zu einem Fluch. Gerade darin liegt die entscheidende religiöse und pastorale, interkulturelle und interkonfessionelle Aufgabe zu Beginn des dritten Millenniums. Bei seinem Pastoralbesuch in Sarajevo am 12. und 13. April 1997 spornte Papst Johannes Paul II. die katholischen Bischöfe an: „Mit herzlichen Worten und ehrlichster Einstellung sucht Anlässe für Zusammenkünfte und Verständigung mit den Anhängern des Islams, sodass ein friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Hochschätzung der Rechte eines jeden Einzelnen und eines jeden Volkes ausgebaut werden können.“15 Für die Katholiken in BiH könnte die Ökumene und besonders der Dialog mit dem Islam zu einem erkennbaren und charakteristischen Kennzeichen in Europa werden. Darin sehen wir unseren Weg und unsere Sendung zu Beginn des 21. Jahrhunderts.


Fußnoten:


  1. Im Mittelalter gab es einen relativ starken bosnischen Staat, der aber fast immer in variablen Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber Kroatien, Serbien, Ungarn oder Byzanz stand. Mit dem Jahr 1463 kamen osmanische Kultur, Staatsstruktur, Ideologie und Gedankengut nach BiH und blieben für über 400 Jahre. Seit Oktober 1918 war BiH Teil der verschiedenen jugoslawischen Staaten. Das von den Serben boykottierte Referendum vom 1. März 1992 gilt für die Bosnjaken und bosnischen Kroaten als staatliche Grundlage für die neue Unabhängigkeit von BiH, für die bosnischen Serben jedoch als Kriegserklärung. Das Dayton-Abkommen vom 21. November 1995 ermöglichte ein Ende des Krieges, aber kein Ende der Tragödie. Seither besteht BiH aus zwei Gebietskörperschaften: Der Föderation von Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska. – Nach der Volkszählung von 1991 hatte BiH fast 4,4 Millionen Einwohner. Zehn Jahre später waren es nur noch 4,1 Millionen. ↩︎

  2. Die bloße Statistik zeigt, dass nach einer Volkszählung 1910 22,9 % Katholiken, 43,5 % Orthodoxe und 32,3 % Muslime in BiH lebten, es nach der letzen Volkszählung 1991 nur noch 17,4 % Katholiken und 31,3 % Orthodoxe, jedoch nun 43,5 % Muslime waren, also in 80 Jahren ein Zuwachs von mehr als 10 % an Muslimen und ein Rückgang an Christen von mehr als 17 % insgesamt zu verzeichnen ist. ↩︎

  3. Vgl. Balic Smail, Vision 2001. Der vergessene Islam oder Euro-Islam, 2001. ↩︎

  4. Vor allem die regierende Partei der demokratischen Aktion (SDA). ↩︎

  5. So eine Broschüre für muslimische Soldaten; vgl. Hasan El-Benna, Džihad – borba na Allahovom putu (Dschihad – ein Kampf auf dem Weg zu Allah); Übersetzung von Prof. Hasan ef. Makić, in: Takvim 1994, S. 17, S. 22 f. ↩︎

  6. Zum Text der Resolution vgl. Preporod 21 (2001), S. 12. Zum Thema „Islam gegen den Terrorismus“ sprach der Reisu-l-ulema (geistliches Oberhaupt von BiH), Dr. Mustafa Cerić, in Wien am 14. Juni 2002 auf der Konferenz der NATO und des Euro-atlantischen Rates für die Partnerschaft, vgl. Preporod 13 (2002), S. 7. ↩︎

  7. Vgl. Adel Th. Khoury, Begegnung mit dem Islam, Freiburg 1980, S. 111. Vgl. die Suren XVII, 108; XXIV, 49; XXVIII,51-53; II,18; IV,17; V,19 usw. ↩︎

  8. Im ähnlichen Sinn sprechen auch die Suren XVI,125 und XXIX,46. ↩︎

  9. Vgl. 2 Kor 4,7. ↩︎

  10. Vgl. Khoury (wie Anm. 7), S. 119. ↩︎

  11. Vgl. Preporod 3 (2002), S. 20. Das sagte er auf dem Symposium „Dialog der Zivilisationen und Kulturen – mit besonderer Berücksichtigung von BiH“, das am 22. Dezember 2001 in Sarajevo stattfand. ↩︎

  12. Muslimani u dijalogu s drugima i sa sobom, svetopovijesne i hijeropovijesne paradigme, Sarajevo 2002, S. 331 f. ↩︎

  13. Vgl. Vrhbosniensia 2 (1997), S. 287 f. Das Dokument ist in Englisch und den drei offiziellen Landessprachen verfasst. ↩︎

  14. Nicht nur in BiH, sondern auch im Kosovo, wo im April 2000 ebenfalls ein Interreligiöser Rat von Kosovo gegründet wurde. ↩︎

  15. Vgl. Ivo Tomašević i Tomo Vukšić (Hrsg.), Papa u Sarajevu (Der Papst in Sarajevo), Sarajevo 1997, S. 71, 77-79. ↩︎