Das Prinzip des kanonischen Territoriums – ein ekklesiologisches Thema
Den Äußerungen von Metropolit Filaret in OWEP 4/2002, S. 294-300, kann man entnehmen, dass er bereit wäre, gegenüber der Römisch-katholischen Kirche auf den Begriff des kanonischen Territoriums zu verzichten. Er verweist auf die Möglichkeit, den Konflikt unter dem Gesichtspunkt der pastoralen Verantwortung zu verhandeln, die die Russische Orthodoxe Kirche für Russland habe, und plädiert außerdem für eine gütliche Lösung des Familienstreits unter Schwesterkirchen.
Solche Vorschläge zeigen, dass das gegenwärtige Problem sehr komplex ist und eine große Herausforderung an die Ekklesiologie darstellt. Nur mit einer ökumenischen ekklesiologischen Aufgeschlossenheit kann akzeptiert werden, dass die unbestreitbare erstrangige pastorale Verantwortung der Russischen Orthodoxen Kirche für Russland durchaus mit einem ökumenisch geklärten Begriff des kanonischen Territoriums in Einklang gebracht werden kann. Desgleichen müsste versucht werden, auch die pastorale Verantwortung der anderen Kirchen in Russland in Übereinstimmung mit diesem Prinzip des kanonischen Territoriums zu bringen. Wie sollte man aber erwarten können, dass solches gelingt, wenn das Denken und Reden auf beiden Seiten von einem gegensätzlichen Begriff des kanonischen Territoriums beschwert ist? Darum ist für eine geschwisterliche ökumenische Verständigung auch die Klärung der Frage nötig, was ein kanonisches Territorium eigentlich ist.
Wenn man die frühkirchlichen Grundlagen für dieses Prinzip sucht, dann findet man solche zeitlich kurz vor dem Konzil von Serdika (343) hauptsächlich in Kanon 9 einer Synode von Antiochien (341?), etwas abgewandelt auch in dem späteren Apostolischen Kanon 34, der gern als zutreffende Beschreibung des orthodoxen Verständnisses der sichtbaren Kirchengemeinschaft zitiert wird (vgl. das Dokument des Ökum. Rates d. Kirchen „Die Kirche lokal und universal“, in: Una Sancta 45 (1990), 348). Die Verfasser dieses Kanon 9 mussten wegen der damals im antiochenischen Raum sehr verworrenen Lage gleichermaßen darauf bedacht sein, die Ortsbischöfe in die Schranken ihrer Paroikie zu weisen, wie gleichzeitig der Kirchenprovinz zur Subsistenz als Kirche zu verhelfen. Deswegen definierte die Synode die Aufgabe des Bischofs der Metropole der Provinz dahingehend, dass er neben der Sorge für seine Ortskirche auch die Sorge für die Provinz auf sich zu nehmen habe (vgl. C. J. Hefele, Conciliengeschichte I 516; Friedr. Lauchert (Hrsg.), Die Kanones der wichtigsten Altkirchlichen Concilien 45). Die Synode verpflichtete den Metropoliten aber zugleich, in seiner Sorge für die Provinz nichts „ohne das Gutachten der übrigen Bischöfe“ der Provinz zu tun. Durch das Zusammenwirken aller Provinzbischöfe wurde die Provinz zu einem kirchlichen Territorium. Die Begründung, dass dem Metropoliten die bischöfliche Sorge auch für die Provinz zukommt, wurde von der Funktion der Metropole hergeleitet und lautete einfach territorial, weil alle zu ihren Geschäften in die Hauptstadt kommen. Aus Kanon 9 können die ekklesiologischen Grundlagen der Kanonizität von kirchlichen Territorien dahingehend festgestellt werden, dass einmal die Vollgewalt des Bischofs für die Jurisdiktion in der Ortskirche und zum anderen die kollegiale und synodale Gemeinschaft von Ortsbischöfen unter der Leitung eines Erstbischofs für die Jurisdiktion in dem Territorium einer Gemeinschaft von Ortskirchen genannt werden. In den beiden miteinander kollegial und synodal verschränkten jurisdiktionellen Aufgaben des Bischofs in der Ortskirche und des Erstbischofs in der communio von Ortskirchen kann eine ekklesiologische Begründung für alle denkbaren kanonischen Territorien bis hin zur Gesamtkirche gefunden werden. Es wäre von größter ökumenischer Tragweite, ein solches Prinzip der Kanonizität von kirchlichen Territorien anzuerkennen. Leider wurde das Modell des Kanon 9 nach dem Scheitern der Synode von Serdika nicht mehr konsequent weiter verfolgt. Dies mochte nicht nötig oder nicht möglich scheinen, weil der Kaiser bei der Bildung und der jurisdiktionellen Ausgestaltung der kirchlichen Territorien entscheidend mitredete; man denke nur an die Ausstattung der Kaiserstadt Konstantinopel mit einem kirchlichen Jurisdiktionsbereich. Heute muss sich die Römisch-Katholische Kirche fragen lassen, wie weit sie ihre Vorstellungen von einer Jurisdiktion in der Gesamtkirche mit dem Modell von Kanon 9 in Einklang bringen könnte. Die Frage, vor der die Russische Orthodoxe Kirche steht, lautet, wie weit sie in ihrer Vorstellung von communio in der Gesamtkirche über ihre politischen und nationalen Bindungen hinausgehen kann.