Vertreibung – völkerrechtliche Bewertung
I.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Millionen Deutsche aus den deutschen Ostgebieten in den Grenzen des Deutschen Reiches vom 31.12.1937 sowie aus der Freien Stadt Danzig vertrieben und ihr Vermögen wurde konfisziert. Allein zwölf Millionen Menschen fanden Aufnahme in den damaligen Westzonen Deutschlands, aus denen dann 1949 die Bundesrepublik Deutschland entstand. Gerechterweise muss erwähnt werden, dass nicht alle im Sinne des Wortes „vertrieben“ wurden, sondern viele auch geflüchtet sind. Doch eine Rückkehr, die selten versucht wurde, wurde nicht erlaubt, sondern endete regelmäßig mit der Ausweisung.
Ich selbst wurde in Breslau geboren und war bis 1949 in sowjetischer Gefangenschaft. Als ich zurückkam, war meine Mutter, die bis Oktober 1946 mit den Geschwistern in unserer Wohnung in Breslau verblieb, nach Niedersachsen ausgesiedelt. Mein Vater war aus britischer Gefangenschaft ebenfalls dahin gezogen.
Man sieht an diesem Beispiel, dass es wohl zutreffend ist, alle Personen mit einem solchen Schicksal unter dem Begriff „Vertriebene“ zusammenzufassen, wie das im „Bundesvertriebenengesetz“1 geschieht.
Noch heute wird es als große Leistung gewürdigt, dass es gelang, diese Millionen Vertriebenen in die Bevölkerung und Gesellschaft zu integrieren – auf die besondere Entwicklung in der DDR kann hier nicht eingegangen werden –, und dass sie selbst in hervorragender Weise zum Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands beitrugen.
II.
Hintergrund der Vertreibung war die Tatsache, dass im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges die deutschen Ostgebiete unter sowjetische und polnische Verwaltung kamen und auf der Konferenz von Potsdam im August 1945 (zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion, Frankreich trat später bei) vereinbart wurde, diese Gebiete nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone zu betrachten. Die endgültige Grenzregelung sollte später auf einer Friedenskonferenz erfolgen. In Abschnitt XIII des Potsdamer Abkommens wurde gleichzeitig festgelegt, dass eine „Überführung der in diesen Gebieten verbliebenen deutschen Bevölkerung oder von Bevölkerungsteilen“ nach Deutschland durchgeführt werden müsse und dass dies in „ordnungsgemäßer und humanitärer Weise“ zu erfolgen habe. Abgesehen davon, dass Vertreibung und Flucht zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange waren, bedeutete dies praktisch die Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 und aus der Freien Stadt Danzig. Nur am Rande sei angemerkt: das Potsdamer Abkommen spricht von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, wenn es die Ausweisung aus den deutschen Ostgebieten behandelt, obwohl das Abkommen selbst die Frage der Grenzregelung einer Friedenskonferenz vorbehält, das territoriale Schicksal dieser deutschen Gebiete also noch nicht entschieden war. Dies erfolgte erst mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ 1990.2
III.
Über die völkerrechtliche Bewertung der Vertreibung ist viel geschrieben und gestritten worden.3 Der Streit begann schon beim Charakter des Potsdamer Abkommens, an dem zwar die Siegermächte, also die Alliierten, nicht jedoch Deutschland beteiligt war; gelegentlich war davon die Rede, Deutschland habe in Potsdam keinen Talleyrand gehabt.
Völkerrechtlich wurde argumentiert, es habe sich beim Potsdamer Abkommen um einen Vertrag zu Lasten Dritter gehandelt, weshalb es völkerrechtswidrig sei. Tatsächlich handelte es sich um ein Regierungsabkommen der Sieger- und Besatzungsmächte und unterlag den Regeln des Kriegsvölkerrechts. Zumindest heute wird die Ausweisung ganzer Bevölkerungsgruppen als Vertreibung oder Austreibung, auch als Massenzwangswanderung (enforced massmigration) eingestuft und als völkerrechtswidrig beurteilt. Jedoch wird – vor allem polnischerseits – immer wieder darauf verwiesen, dass es 1945 eine solche Völkerrechtsnorm noch nicht gegeben habe. Wirklichkeitsnäher erscheint die Auffassung, wie sie vor allem Gottfried Zieger vertrat, der in der Massenausweisung einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht erblickte.4 Dieser Aspekt ist vor allem deshalb praktisch, weil das Selbstbestimmungsrecht nach allgemeiner Auffassung das Recht auf Heimat als immanenten Bestandteil beinhaltet und ein Rückkehrrecht in die angestammte Heimat bewirkt, ungeachtet der dort in der Zwischenzeit vollzogenen politischen und bevölkerungspolitischen Entwicklung. Verständlicherweise verbinden heute viele Vertriebene und deren Nachkommen mit dem Beitritt solcher Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn zur Europäischen Gemeinschaft die Hoffnung, sich wieder in ihrer Heimat niederzulassen.5
Über die völkerrechtliche Bewertung der Vertreibung im eigentlichen Sinne wird heutzutage nicht mehr gestritten. Vielmehr hat sich die Auseinandersetzung dahin verlagert, zu einer allgemeinen moralischen und politischen Anerkennung des begangenen Unrechts zu gelangen. Während dies seitens Polens erfolgt ist und die heute in Polen lebende deutsche Minderheit als solche anerkannt ist, wird mit Tschechien noch darüber gestritten, weil dieses Land sich von den so genannten Beneš-Dekreten, die zur Ausweisung der Sudetendeutschen und zur Konfiskation deren Eigentums führte, nicht offiziell distanzieren will. Große Anstrengungen unternimmt vor allem der Bund der Vertriebenen, in Berlin ein Mahnmal und ein Zentrum gegen Vertreibungen einzurichten. Juristisch geblieben ist vor allem der Streit um die konfiszierten Vermögenswerte.
Noch wichtiger scheint mir die hinter der Vertreibung liegende Problematik der Grenzregelung, wie sie mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ 1990 erfolgte.
IV.
Zweifellos handelt es sich bei den Festlegungen im „Zwei-plus-Vier- Vertrag“ um völkerrechtlich verbindliche Regelungen. Jedoch darf man dabei nicht außer Acht lassen, dass es sich bei den aus der deutschen Vereinigung ausgeklammerten deutschen Ostgebieten um solche handelt, die auf dem Wege der Annexion anderen Staaten zugeschlagen wurden. Während es sich bei der Vereinigung der Territorien der früheren Bundesrepublik, der DDR und Berlins zweifelsfrei um einen Akt der Selbstbestimmung handelt, ist dies hinsichtlich der deutschen Ostgebiete nicht der Fall, weil es dazu eines besonderen Selbstbestimmungsaktes der Betroffenen bedurft hätte. Vom Standpunkt des Selbstbestimmungsrechtes handelt es sich bezüglich der deutschen Ostgebiete also um eine Ersatzlösung, wie sie in der internationalen Praxis üblich ist (vgl. z. B. Südtirol). Dies hat zur Folge, dass das Selbstbestimmungsrecht insofern fortbesteht und sich territorial auf die deutschen Ostgebiete und personal auf die Deutschen konkretisiert, die heute als Vertriebene (und deren Nachkommen) im wiedervereinigten Deutschland ihren Wohnsitz haben oder als deutsche Minderheit in diesen Gebiete leben.6 Angesichts der völkerrechtlich bindenden Festlegungen im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ wird sich die Wirkung dieses Rechts vor allem auf das Recht auf die Heimat beschränken. Dennoch stärkt die Fortgeltung des Selbstbestimmungsrechts natürlich die Position dieser Deutschen erheblich.
Fußnoten:
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Heute gültig in der Fassung vom 02.06.1993 (Bundesgesetzblatt (BGBl.) I, 829). ↩︎
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BGBl. II, 1318. ↩︎
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Vgl. etwa Theodor Veiter, Potsdamer Abkommen und Vertreibung, in: Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, hrsg. von Hans-Günher Parplies, Tl. 2, Wien 1987, S. 55-76; Siegrid Krülle, Vertreibung im Völkerrecht – Deportation, Flucht, Ausweisung und Umsiedlungsverträge, in: Deutschland als Ganzes – Rechtliche und historische Überlegungen, hrsg. von Dieter Blumenwitz, Boris Meissner und Gottfried Zieger, Köln 1985, S. 43-72. ↩︎
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Vgl. Gottfried Zieger, Gebietsveränderung und Selbstbestimmungsrecht, in: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, hrsg. von Dieter Blumenwitz und Boris Meissner, Köln 1984, S. 73 ff. ↩︎
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Vgl. ausführlich Otto Kimminich, Das Recht auf die Heimat, 3. neu bearb. und erw. Aufl., Köln 1989. ↩︎
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Vgl. Wolfgang Seiffert, Die Verträge zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn, Köln 1994. ↩︎