Ich habe die Verantwortung gespürt
Herr Hüssler, Sie sind während Ihrer langen Tätigkeit als Präsident des Deutschen Caritasverbandes und als Chef der Caritas Internationalis immer wieder mit Flüchtlingsnot und -elend konfrontiert worden. Wie sah das aus, als Sie angefangen haben?
Ich bin 1959 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes geworden. Die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren ja dadurch geprägt, dass Deutschland nach dem selbstverschuldeten Zweiten Weltkrieg wieder in eine Zeit des Wohlstandes geriet – nachdem andere uns aus der Patsche geholfen hatten. Da habe ich die Verantwortung gespürt und gemeint: Wir müssen den Blick auf die so genannte Dritte Welt richten, auf Länder, in denen Not und Hunger herrschen.
Sie saßen nicht nur am Schreibtisch, sondern sind ganz hautnah mit Menschen in Berührung gekommen, die gezwungen waren zu flüchten, ihre Heimat zu verlassen. Können Sie ein Beispiel nennen, das Ihnen nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist?
In den sechziger Jahren fand in Rom, wo das Sekretariat der Caritas Internationalis war, das Zweite Vatikanische Konzil statt. Dort habe ich viele Bischöfe kennen gelernt aus Ländern, die in großer Bedrängnis waren. Mit einigen von ihnen habe ich Freundschaft geschlossen. Und dann wurde ich 1965 eingeladen, eine Reise nach Vietnam zu machen. Ich habe ganz Südvietnam vom 17. Breitengrad im Norden bis zum südlichsten Zipfel des Mekongdeltas bereist. Für einen Fremden, der das vorher nicht kannte, sah dort alles noch relativ friedlich aus. Ich kam eines Tages in ein kleines Städtchen mitten in Vietnam, nach Qui Nhon. Ein friedlicher Ort, idyllisch, kleiner Hafen, Fischer, Reisbauern. Plötzlich waren da auf dem Platz vor der Kathedrale zwanzigtausend Flüchtlinge. Der Bischof war hilflos. Die Menschen bauten sich Hütten aus Karton. Es erstaunte mich, wie viele, anscheinend mit Humor noch, die Situation, von der auch ihre zahlreichen Kinder betroffen waren, zu bewältigen versuchten.
Was war geschehen? Im Hinterland, in dem viele idyllische Dörfer lagen, haben die Vietkong, die Partisanen aus dem Norden, die Südvietnamesen durch Terroraktionen eingeschüchtert. Das Ergebnis: Die Menschen sind geflüchtet und haben hier Zuflucht gesucht. So hat der zweite Vietnamkrieg begonnen, und so wurde ich damit konfrontiert.
Wie haben Sie dann reagiert?
Ich fragte den Bischof und seine Mitarbeiter: Was braucht ihr denn, wie können wir euch helfen? Einerseits sagten sie, dass sie vieles schon selber machen könnten, andererseits fehlte ihnen das Material. Sie hatten auch einfach keine Zeit, um die schönen vietnamesischen Strohdächer zu bauen. Wellblech war gefragt. Das hatten sie nicht. Das musste beschafft werden. Wir haben alle notwendigen Daten gemeinsam erarbeitet. So habe ich es dann in den anderen Diözesen Südvietnams auch gemacht. Nach vierzehn Tagen kam ich dann zurück nach Freiburg in die Caritaszentrale und habe dort die Listen vorgelegt. An Caritas Internationalis in Rom habe ich die Unterlagen auch geschickt, damit auch andere Länder helfen konnten. Ebenso an Misereor, das damals schon existierte. So hat sich ein internationales Netz der Solidarität entwickelt. Die Hilfsbereitschaft in Deutschland war damals sehr hoch und wir konnten wirklich effektiv helfen. Aber auch die Partner in Vietnam waren ausgezeichnet. Wir konnten wirklich gut zusammenarbeiten.
Wie haben Sie denn die Nordvietnamesen erlebt?
Nordvietnam war mir damals noch völlig unbekannt. Ich war ja nur bis zum 17. Breitengrad gekommen und habe voller Angst in dieses Land im Norden des Ben Hai-Flusses hinüber geschaut.
Als ich zum zweiten Mal in Südvietnam war, im Oktober 1966, bekam ich plötzlich die Einladung, mit einer Gruppe, zu der auch Pastor Martin Niemöller gehörte, nach Nordvietnam zu reisen. Ich machte mich dann schnell kundig, was das zu bedeuten hatte. In der nordvietnamesischen Botschaft in Ost-Berlin, wohin mich der Botschafter zu einem Essen eingeladen hatte, spürte ich ganz deutlich, dass die Nordvietnamesen Kontakt zur Kirche wollten. Und da war ich offensichtlich als Verantwortlicher der Caritas ein willkommener Ansprechpartner. Ich bin dann nach Rom gereist und habe dort mit vielen gesprochen, um die Sache abzuklären. Am Ende war ich bei Papst Paul VI. Er hat lange mit mir geredet und hat mir aufgetragen, allen, die ich in diesem unbekannten Land treffen würde, Bischöfen, Priestern, Schwestern, Politikern, zu sagen, dass der Papst große Sorgen habe und alles unternehmen würde, was in seiner Macht stünde, für den Frieden in Vietnam.
Dann ist die Gruppe mit Niemöller und mir nach Weihnachten 1966 abgereist und nach einer langen Reise über China, das sich voll in der Kulturrevolution befand, am 2. Januar 1967 in Nordvietnam gelandet. Wir waren acht Tage in Hanoi und Umgebung. Dort war alles auf Krieg eingestellt. In allen Straßen der großen Stadt befanden sich im Abstand von jeweils zwei Metern Tonnen senkrecht in der Erde eingegraben, in denen man Schutz finden konnte vor Angriffen. Wir haben keinen Angriff erlebt, aber sehr oft Alarm. Überall herrschte große Angst. Wir mussten alles Mögliche besichtigen, bekamen Aufstellungen über die Kriegsverbrechen gezeigt und Propagandafilme vorgeführt. Zum Glück konnten wir auch beim Vietnamesischen Roten Kreuz einen Besuch machen und die Unterlagen für ein konkretes Projekt bekommen: die Ausrüstung für ein Krankenhaus mit 220 Betten. Meine Nachfrage ergab, dass wir das Material „in natura“ und nicht in Geld liefern sollten. Das war sehr wichtig für uns. Damit konnten wir zurück nach Deutschland reisen.
Ich wollte dann noch Bischöfe im Land besuchen. Das hat man mir aber nicht genehmigt. Immerhin konnte ich morgens früh um vier Uhr dann doch noch an einem Gottesdienst in lateinischer Sprache teilnehmen: in einer Kirche, die überfüllt war mit armen Menschen. Am vorletzten Tag unseres Besuches sind wir überraschend zu Ho Chi Minh eingeladen worden. Er empfing uns freundlich im Palais des ehemaligen französischen Gouverneurs, eine Stunde lang. Niemöller war der Leiter der Delegation. Aber für mich als Vertreter der katholischen Kirche hat sich Ho Chi Minh besonders interessiert. Er hat mir gesagt, dass die amerikanischen Aggressoren all die Verwüstungen im Land zu verantworten hätten, und beteuert, dass die Nordvietnamesen, selbst, wenn sie es könnten, niemals zum Beispiel Chicago bombardieren würden. Er forderte, der Papst solle seinen Einfluss geltend machen, dass die Amerikaner mit ihren Angriffen aufhörten.
Hatten Sie den Eindruck, dass er sich auch bewusst war, welches Elend er mit seiner Ideologie angerichtet hatte?
Ho Chi Minh war erfüllt von seiner Ideologie. Er war Marxist. Aber in seinem Kern ist er ein Patriot gewesen, gegenüber wem auch immer. Dadurch hat er zunächst auch viele Landsleute hinter sich gebracht. Das marxistische System hat er mit großer Brutalität eingeführt. Die Bauern, die nicht bereit waren, ihre Reisfelder dem Staat zum Eigentum zu geben, hat er alle liquidieren lassen. Aber er war ein hoch intelligenter Mann. Sein Ziel war, ganz Vietnam unter der kommunistischen Fahne zu vereinigen. Das haben seine Nachfolger im April 1975 dann auch erreicht. Mir war klar, dass er in der Art, wie er den Krieg führte, die Kämpfer trainiert hatte und sie auf den Ho-Chi-Minh-Pfad in den Süden schickte, mit B-52-Bombern nicht zu besiegen war. Als ich später wieder in Südvietnam war, habe ich meinen Kollegen von der amerikanischen Caritas gesagt: „Ihr könnt den Krieg nicht gewinnen. Die Nordvietnamesen haben einfach die größere Motivation.“
Wie ging das Ganze dann weiter und wie haben Sie es persönlich erlebt?
Ich war immer wieder im Land, im Süden wie im Norden. Und wir haben während des ganzen Vietnamkrieges der unsäglich leidenden Zivilbevölkerung zu helfen versucht, so gut es ging. 1973 zogen die Amerikaner dann ab und ließen die Südvietnamesen allein weiter kämpfen. Dann erlebte ich beim Zusammenbruch im April 1975 die Massenflucht auf dem Landweg und auf dem Meer. Schiffe, überlastet mit Menschen in wahnsinniger Furcht und Panik, die einfach weiter nach Süden wollten und überhaupt nicht daran dachten oder gedanklich realisierten, dass die Vietkong sofort nachstießen. Sie kamen zum Teil völlig ausgetrocknet im Süden an. Viele von ihnen waren schon unterwegs gestorben oder starben gleich nach der Ankunft. Die, die überlebt hatten, waren von Furcht und Schrecken erfüllt vor dem, was auf sie zukommen sollte. Das gewaltige Elend, die schreiende Not, das hat mich alles sehr erschüttert. Beeindruckt hat mich, dass die Bischöfe sowie die meisten Priester und die Ordensschwestern ruhig blieben und sich auf die neue Situation eingestellt haben. Keiner der Hirten verließ sein Bistum, obwohl sie wussten, das es sehr schwer werden würde. Ihr Platz war bei den Menschen. Sie sagten: „Wir gehören hier her“!
Heute ist die Zusammenarbeit, nach den schwierigen Jahren nach der Machtübernahme, besser geworden. Die Caritas hat eine Menge guter und effizienter Projekte dort und das nicht nur im kirchlichen Bereich. Das wissen auch kluge Beamte in den Ministerien. Es ist eine Freude für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas, jetzt auch mit Unterstützung staatlicher Stellen Programme zur Förderung und gesellschaftlichen Wiedereingliederung der vielen schwerst behinderten Menschen durchführen zu können. Der Austausch ist sehr positiv und wird politisch kaum beeinträchtigt.
Kommen wir noch zu einem zweiten Feld, das heute mehr denn je im Windschatten der Berichterstattung liegt, in dem aber dramatische Entwicklungen vor sich gehen: der fast vergessene Kontinent Afrika, vor der Haustür Europas gelegen, aber faktisch fern wie ein Kontinent hinter dem Mond. Wie sind Ihre afrikanischen Erfahrungen im Blick auf Flüchtlinge, auf Menschen unterwegs gewesen?
Das entscheidende Jahr für Afrika war das Jahr 1960, als die großen französischen und englischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten. Nur ein Land war da ausgenommen. Das war Algerien. Kaum waren die Franzosen 1954 aus Vietnam abgezogen, haben sie sich in Algerien festgesetzt. Algerien war französisches Territorium mit vier Départements. Am 1. November 1954 begann die Revolution in Algerien. Und bereits 1957 war die französische Öffentlichkeit überwiegend der Meinung, dass man nichts dagegen ausrichten könne, wenn ein Volk seine Unabhängigkeit haben wolle. Ein wirklich großes Problem waren dabei die französischen colons, die Siedler, deren Familien zum Teil schon seit über einhundert Jahren dort lebten. Sie fühlten sich in Algerien zuhause. Und dennoch: Schon 1957 hat die Französische Bischofskonferenz, zu der die vier algerischen Bistümer gehörten, erklärt, dass man die Algerier in die Unabhängigkeit entlassen müsse. Nach blutigen Kämpfen kam es dann 1962 zum Vertrag von Evian.
Die Kirche blieb in Algerien und baute eine tatkräftige Hilfsorganisation auf. Im selben Jahr 1962 wurde ich nach Algerien gerufen. Ich bin vierzehn Tage dort gewesen und habe einen Hilfsplan mit ausgearbeitet. Die französischen Siedler mussten wegziehen. Das hat sicher große Schwierigkeiten für sie mit sich gebracht. Aber vorrangig ging es um Menschen, Franzosen und Algerier, die nach einem Krieg, in dem viel Blut geflossen war, traumatisiert waren. Ihnen musste vor allem geholfen werden. Es war viel Trauerarbeit zu leisten. Aber das mündete dann auch bald in eine enthusiastische Aufbauarbeit. Die Kirche hat sich vor allem in den zerstörten Dörfern eingesetzt. Diese Arbeit wurde dann später von Ideologen des herrschenden Einparteisystems wieder eingeschränkt und sehr schwierig. Der Name „Caritas“ durfte zum Beispiel nicht mehr verwendet werden. Heute gibt es eine gute Zusammenarbeit der Kirche in Algerien mit dem Islam.
Algerien war ein ganz anderes Beispiel als Vietnam. Während dort Flüchtlingsströme zu bewältigen waren, waren im nordafrikanischen Kontext vor allem körperliche und seelische Gebrechen zu heilen, die durch den Krieg verursacht waren. Das ist auch eine Art der Hilfe für Menschen unterwegs im eigenen Land gewesen.
Im Leben von Menschen gibt es oft früheste Erfahrungen, die sich nachher zu einer Lebensaufgabe heraus kristallisieren. Wo liegen denn Ihre frühesten Erinnerungen an Menschen unterwegs, auf der Flucht? Wo sind Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben mit diesem Menschheitsproblem konfrontiert worden?
Ich bin ja Elsässer. 1939 wurde Straßburg evakuiert. Ich bin mit meiner Schwester und meinen Eltern nach Südfrankreich gekommen. Ich hatte gerade das Abitur in Straßburg gemacht. Wir sind in Sète am Mittelmeer gelandet, haben dort wieder eine Wohnung gefunden, mein Vater wieder eine Arbeit. Das war eigentlich ein sehr schönes Jahr für mich. Mit dem Beginn der deutschen Offensive gegen Frankreich im Mai 1940 setzte dann ein großer Flüchtlingsstrom ein, dem aber mit großer Solidarität begegnet wurde. Im September 1940 zogen wir ins Elsass zurück und mussten uns dort wieder auf ganz neue Verhältnisse einstellen. Ich war damals Medizinstudent. Diese Wechselfälle sind mir in Erinnerung geblieben und haben mich sicher auch entsprechend geprägt.
Ein letzter Punkt: Das Problem der Flucht von Menschen, damit auch das der Macht und Ohnmacht der Menschen wird ja nicht geringer. Im Gegenteil! Es nimmt solche Ausmaße an, dass man sich nicht nur die Frage nach der Macht der Menschen stellt, sondern auch nach Gottes Walten in der Geschichte fragen muss. Wie denken Sie darüber?
Die großen Volksverschiebungen, angefangen bei den von Stalin und Hitler vertriebenen Völkern, dann die deutschen Vertriebenen aus Polen und anderen Ländern, die polnischen Vertriebenen aus ihren früheren Ostgebieten, in den neunziger Jahren die schrecklichen Volksvertreibungen innerhalb des ehemaligen Jugoslawien, das ist einfach alles furchtbar. Und es löst einen unaufhaltsamen Strom von Schmerzen und tiefem menschlichen Leid aus, dem man fast ohnmächtig gegenüber steht. Und doch ist es auch immer wieder erstaunlich, mit welcher Energie die vertriebenen Menschen ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich eine neue Heimat aufzubauen versuchen. Und auch, dass es gerade in Deutschland auch eine große Hilfsbereitschaft gab und gibt! Das ist inmitten von allem Negativen auch etwas Positives. Und schließlich können wir dadurch, so schmerzlich das alles ist, auch voneinander lernen.
Es bleibt mir nur noch zu sagen, dass besonders die Kirche die Aufgabe hat, die aus der Fremde kommenden Brüder und Schwestern aufzunehmen, woher sie auch kommen mögen, und Weichen zu stellen, dass sie später wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Aber das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe.