Weißrussland und Europa. Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit in direkter Nachbarschaft

aus OWEP 2/2004  •  von Iris Kempe

Dr. Iris Kempe ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) in München.

Weißrussland teilt mit Polen, Lettland und Litauen eine mehr als tausend Kilometer lange gemeinsame Grenze und wird somit nach der Erweiterung im Mai 2004 zu einem unmittelbaren Nachbarn der Europäischen Union (EU). Ganz im Widerspruch zur geographischen Lage des Landes macht Weißrussland, wenn überhaupt, fast nur negative Schlagzeilen im Westen. So betitelte Johannes Voswinkel in „Die Zeit“ die aktuelle Lage in Weißrussland im Januar 2004 wie folgt: „Wo der KGB noch KGB heißt. Alexander Lukschenko hält Weißrussland in seinem stählernen Griff. Zeitungen werden zensiert, Oppositionelle ermordet. In der letzen Diktatur Europas herrscht tiefe Resignation.“1

Seit Alexander Lukaschenko 1994 zum Präsidenten gewählt wurde, gilt Minsk in der Tat als eine der letzten europäischen Bastionen eines autokratischen Regime mit sozialistischer Prägung. Die Nähe zu Europa einerseits und der Charakter des Lukaschenko Regimes andererseits machen das Land zu einem ungelösten Problem und zu einer politischen Herausforderung. Um eine Bestandsaufnahme der Beziehungen zwischen Weißrussland und Europa zu ziehen, gilt es, die Grenzen und Chancen der Kooperation zwischen beiden Seiten zu erörtern.

Weißrussland: Potenziale für einen europäischen Staat

Die geographische Nähe Weißrusslands zu Europa, seine mit Rumänien vergleichbare territoriale Ausdehnung und ein Teil seiner historischen Wurzeln könnten eine europäische Identität des Landes begründen. Darüber hinaus war die weißrussische Sowjetrepublik nach den drei baltischen Sowjetrepubliken ein Vorreiter in der sowjetischen Industrialisierung. Noch heute leistet der Kühlschrank „Minsk“ verlässliche Dienste in zahlreichen Haushalten in Moskau, Perm und anderswo. Entsprechend der vergleichsweise fortschrittlichen Industrieproduktion verfügte Weißrussland auch über ein im sowjetischen Maßstab überdurchschnittlich gut entwickeltes Humankapital. Diese strukturellen Faktoren hätten Ende der 90er Jahre die Weichen für eine an Polen oder den baltischen Staaten orientierte Transformation stellen können. Dass die Realität allerdings anders aussieht, liegt an mehreren Faktoren.

In der Spätphase der Sowjetunion war die weißrussische Elite weder Motor von Liberalisierungstendenzen, noch entstand eine ethnisch geprägte Unabhängigkeitsbewegung, die Interesse und Kompetenzen für die Gestaltung der Transformation gehabt hätte. Die Unabhängigkeit wurde daher weniger durch eine nationale Bewegung, als vielmehr durch das Auseinanderbrechen der Sowjetunion in Folge des Augustputsches 1991 erlangt. Die Gründung der Republik Belarus führte nicht zu einem grundlegenden Elitewandel, und auch institutionelle Reformen vollzogen sich nur langsam und ohne tiefgreifende Zäsuren. Obwohl die internationale Staatengemeinschaft Weißrussland seit 1991 als eigenständigen Staat auf der politischen Landkarte anerkennt, lag es weder im Interesse der politischen Elite noch war die Bevölkerung mehrheitlich dazu bestrebt, eine von Russland unabhängige, sprachliche und nationale Identität zu festigen.2 Der Weg, den Weißrussland einschlagen wird, bleibt ungewiss.

Die strategische Selbstisolation des Regimes

Bis 1999: Russland als „Wunschpartner“ im Interesse Lukaschenkos

Nach seiner Unabhängigkeitserklärung 1991 deklarierte sich Weißrussland als neutraler Staat und verpflichtete sich zur nuklearen Abrüstung und damit zum Rücktransport atomarer Sprengköpfe nach Russland. Im Einklang mit der unbestimmten nationalen Identität des Landes orientierte sich die Außenpolitik am Prinzip des Multilaterismus. Bis Mitte der neunziger Jahre unternahm Minsk etwa mit der Mitgliedschaft in der OSZE oder dem Beobachterstatus im Europarat Schritte auf dem politischen Weg nach Europa.

Die Wahl Alexander Lukaschenkos zum Präsidenten zog sehr schnell einen Schlussstrich unter die Westorientierung des Landes. Mit dem Verfassungsreferendum 1996 hat dieser ein von der Exekutive des Präsidenten dominiertes, autokratisches System auf- und ausgebaut. Ansatzpunkte für eine Transformation sind jenseits des Regimes zu suchen, wie etwa in der entstehenden Zivilgesellschaft oder in der Entwicklung eines Rechtsstaats, die derzeit jedoch durch den Regierungsstil Lukaschenkos – Regieren per Dekret – außer Kraft gesetzt ist. Lukaschenko stoppte die Liberalisierungs- und Privatisierungstendenzen aus der Phase nach der Unabhängigkeit. Seither versucht er, sich an den erfolgreichen Transformationsökonomien Asiens zu orientieren und betreibt eine restriktive Liberalisierung der ökonomischen Schlüsselbereiche, wobei aber gleichzeitig ein hohes Maß an staatlicher Kontrolle aufrechterhalten bleibt.3

Als 1996 mit dem Beginn der zweiten Amtsperiode des russischen Präsidenten Boris Jelzin dessen gesundheitliche und politische Handlungsschwächen offensichtlich wurden, eröffnete sich für Lukaschenko die attraktive Option, in einem erneuten Zusammenschluss zwischen Weißrussland und Russland die politische Oberhand zu erlangen. Die enge Anbindung an die Russische Föderation verringerte zudem den internen Reformdruck auf Minsk. Ein derartiger Kurs erforderte keine Reformbemühungen, machte das Land aber zu einem Unsicherheitsfaktor für Europa.

Seit 2000: Neues Ost-West-Manövrieren

Die vorbehaltlose Orientierung Lukaschenkos auf Russland endete mit der Wahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten. Im Gegensatz zur bisherigen Rhetorik einer slawischen Bruderschaft, hat Putin sich im Sommer 2002 eindeutig positioniert. Eine Vereinigung mit Weißrussland wäre demnach entweder als Beitritt der Verwaltungsgebiete in die Russische Föderation oder in Form eines EU-ähnlichen Staatenbundes möglich. Beide Varianten würden faktisch das Ende der weißrussischen Unabhängigkeit bedeuten. Lukaschenkos politischer Einfluss könnte sich damit bis zur Bedeutungslosigkeit verringern. Zusätzlich müsste Minsk aber auch den Rückstand in der Transformation gegenüber Moskau aufholen. Weißrussland ist nicht nur politisch für Russland interessant, sondern auch wirtschaftlich, v. a. als Markt für russische Akteure, zumal sich das weißrussische Eigentum bisher zu 80 % in staatlicher Hand befindet und potenziell noch für den Einfluss der großen Wirtschafts- und Finanzgruppen offen ist.

Eine Entspannung der weißrussisch-europäischen Beziehungen wurde immer dann zur Verhandlungsmasse für Lukaschenko, wenn der Einfluss des Kremls überhand nahm und Minsk sich veranlasst sah, seine Eigenständigkeit zu demonstrieren.4 Bisher hat das taktische Manövrieren die Beziehungen zum Westen nicht nachhaltig verändert. Zaghaften Liberalisierungsansätzen folgen immer wieder restriktive Maßnahmen als Ausdruck des autokratischen Regimes Lukaschenkos. Als im Dezember 2001 das Mandat der OSZE-Mission unter Botschafter Hans Georg Wieck endete, kam auch der wichtigste Kommunikationskanal zwischen dem demokratischen Weißrussland und dem Westen zum Erliegen, und Minsk zog die Verhandlungen über das neue Mandat um ein Jahr in die Länge. Als die OSZE-Vertretung in Minsk im Januar 2003 ihre Aktivitäten wieder aufnehmen konnte, verpflichtete sie das neue Mandat nicht nur zur Zusammenarbeit mit der Opposition, sondern auch zur Unterstützung der Regierung bei institutionellen Fragen und der technischen Hilfe. Gleichzeitig jedoch verschärfte das Lukaschenko-Regime 2003 sein restriktives Vorgehen gegen Vertreter der demokratischen Opposition und der unabhängigen Medien.

Das offizielle Weißrussland ist weit davon entfernt, die strukturelle Nähe zu Europa für eine aktive Nachbarschaftspolitik im Kontext der sich erweiternden EU zu nutzen und damit der europäischen Ausrichtung der Ukraine oder auch der Republik Moldawien zu folgen. Trotz des insgesamt geringen Handlungsspielraumes hat das Minsker Außenministerium durchaus die aus der Osterweiterung der Union resultierenden Probleme und Herausforderungen erkannt. Im Januar 2004 erklärte Außenminister Syarhey Martynau sogar, er wolle die künftige Nachbarschaftspolitik mit der EU für die Errichtung einer gemeinsamen Wirtschaftszone nutzen. Die konsequente Umsetzung dieser Forderung würde einen Vorzeichenwechsel in der weißrussischen Außenpolitik bedeuten.

Ein weiteres Motiv für eine zumindest partielle Öffnung resultiert aus der ökonomischen Situation Weißrusslands. Die engen Beziehungen zu Russland garantierten bisher die Versorgung mit Rohstoffen und Energie, bieten aber keinerlei Möglichkeit für eine wirtschaftliche Modernisierung des Landes. Aufgrund der eindimensionalen Wirtschaftsbeziehungen und dem autokratischen Charakter des Regimes tendieren die ausländischen Direktinvestitionen in Weißrussland gegen null und die Möglichkeiten für die wirtschaftliche Modernisierung sind dadurch als äußerst gering zu bewerten. Folge sind zunehmende wirtschaftliche und soziale Asymmetrien zu den ostmitteleuropäischen EU-Aspiranten. „Igor“ Normalverbraucher lebt verglichen mit „Lechek“ Normalverbraucher fünf Jahre weniger und hat nur wenig Zugang zu demokratischen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten (vgl. nachstehende Tabellen).

Tabelle I

* Kandidatenstaaten: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakische Republik, Tschechien, Ungarn (Quelle: EBRD - Transition Report 2003).

Tabelle II

* Kandidatenstaaten: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakische Republik, Tschechien, Ungarn (Quelle: Freedom House - Freedom in the World 2003).

Der Freedom House Index wird jährlich erhoben und misst die politischen Grundrechte sowie die bürgerlichen Freiheiten in einem Land. Daraus wird ein Index zwischen 1 und 7 errechnet. Werte bis 2,5 werden der Kategorie "frei" zugeordnet, Werte zwischen 2,5 und 5,5 der Kategorie „teilweise frei“ und Werte über 5,5 der Kategorie „nicht frei“.

Die Isolation der Opposition

In den Anfangsjahren der weißrussischen Unabhängigkeit fehlte es auch der demokratischen Opposition an klaren Vorstellungen über europäische Institutionen und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Eine nachhaltige Orientierung nach Europa hätte die Lösung der Identitätsfrage vorausgesetzt. Die Vorstellungen, wie eine Zusammenarbeit mit Europa tatsächlich gestaltet werden könnte, wurde durch die EU-Osterweiterung konkretisiert. Im Oktober 2003 begannen Oppositionsvertreter, dass Thema „Europa“ wiederzubeleben, die Mitgliedschaft des Landes in den europäischen Organisationen hervorzuheben und zum Thema im Parlamentskampf 2004 zu machen. Außerdem diente die Orientierung nach Europa als Wegweiser für künftige Reformalternativen. Dazu entwickelten weißrussische Expertengruppen konzeptionelle Ansätze, wie sich zunächst über die Intensivierung der technischen Hilfe und dann im Rahmen von Demokratie und Marktwirtschaft ein Wandel erreichen lässt, der mittelfristig auch eine Assoziierung mit der EU nicht ausschließt.5

Weißrussland als Sonderfall der europäischen Nachbarschaftspolitik

Ähnlich wie die Ukraine und die Republik Moldawien zählt auch Weißrussland zu den direkten Nachbarstaaten der EU, dem wichtigsten Akteur europäischer Politik. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion sollten die Beziehungen auf der Grundlage eines sogenannten bilateralen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens kodifiziert werden, das einen institutionalisierten politischen Dialog verbunden mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit und dem Ausbau der kulturellen Beziehungen ermöglicht hätte. Dieses Abkommen wurde zwar 1994 unterzeichnet, von Seiten der EU und einzelner Mitgliedstaaten aber nie ratifiziert. Der Grund hierfür war der zunehmend autokratische Kurs des offiziellen Minsk. Als Folge des Verfassungsreferendums von 1996 verlor Weißrussland seinen bisherigen Beobachterstatus im Europarat, wodurch die Möglichkeit von Kontakten auf höchster politischer Ebene stark eingeschränkt wurden. Die auf dem Istanbuler Gipfel 1998 gemeinsam von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dem Europäischen Parlament und der OSZE verabschiedeten „Istanbuler Kriterien“ konditionalisierten die Beziehungen des Westens gegenüber Weißrussland. Demnach ist die Normalisierung der bilateralen Beziehungen davon abhängig, ob Minsk rechtliche Fortschritte in der Wahlgesetzgebung, in der Kompetenzausstattung des Parlaments, im Zugang der Opposition zu den Medien sowie im Verhältnis zwischen Regime und Opposition erzielt. Da es bisher auf keiner dieser vier Ebenen zu merklichen Durchbrüchen gekommen ist, bilden sie nach wie vor das Nadelöhr für die Beziehungen zu den europäischen Institutionen und deren Mitgliedstaaten. Die EU zog politische Konsequenzen, indem sie die bereits unterzeichneten Abkommen nicht ratifizierte, die Beziehungen auf ein Minimum beschränkte und die technische Hilfe, mit Ausnahme von humanitärer Hilfe und der unmittelbaren Unterstützung der Demokratisierung, so lange einfror, bis das Regime zu Reformkompromissen bereit ist. Die EU verfügt weder über eine eigene Vertretung in Minsk noch über ein minimales Niveau hinausgehende Gesprächskanäle, unterstützt aber die Arbeit der OSZE-Mission in Minsk. Mit dem Ende des alten Mandats im Dezember 2001 haben sich auch deren Gestaltungsmöglichkeiten verringert. Die OSZE musste dem Druck der Regierung nachgeben und einen „ausgewogenen“ Kurs zwischen Regierungskontakten und Zusammenarbeit mit der Opposition verfolgen. Mag dies als Ausdruck konstruktiver Zusammenarbeit positiv bewertet werden, schränkt dies doch die Möglichkeiten, die „Istanbuler Kriterien“ durch Unterstützung von außen zu erzielen, ein.

Als sich die Erwartungen europäischer Entscheidungsträger, die Durchführung der Parlamentswahlen am 15. Oktober 2000 und der Präsidentschaftswahlen am 9. September 2001 würden zu einer Lockerung des Regimes führen, nicht erfüllten, erinnerten Brüssel im Einklang mit einzelnen europäischen Hauptstädten, darunter auch Berlin, Weißrussland an seine demokratischen Verpflichtungen am Rahmen der OSZE. Indem westliche Erwartungen hinsichtlich der Liberalisierung des Kurses erneut enttäuscht wurden, musste sich die EU fast zwangsläufig darauf beschränken, die undemokratischen Entwicklungen zu beobachten, die an den Grenzen der erweiterten EU eigentlich nicht hinnehmbar, aber mit den zur Verfügung stehenden Instrumentarien nur im begrenzten Maß veränderbar sind. Deutlich wurde, dass die westliche Isolationspolitik gegenüber Weißrussland in eine Sackgasse führt. Durch die Isolation des Landes beraubt sich der Westen der Möglichkeit, positiv auf erwünschte Entwicklungen einzuwirken, Ungleichgewichte zu verringern und eine neue Trennlinie durch Europa zu vermeiden. Zielsetzungen, die im wohlverstandenen Eigeninteresse einer auf Sicherheit und Stabilität ausgerichteten europäischen Nachbarschaftspolitik liegen, können so nicht erreicht werden.

Aus spezifisch deutscher Perspektive ist das Engagement in Weißrussland immer auch mit der Aussöhnung einer historisch-moralischen Schuld des Zweiten Weltkrieges verbunden. Durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde die weißrussische Bevölkerung wiederum schwer getroffen. Neben Maßnahmen zur Versöhnung und Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Entschädigung von Zwangsarbeitern oder der Kriegsgräberfürsorge verfolgt die Bundesregierung auch eine zukunftsgerichtete Weißrusslandpolitik.6 Mit dem Ziel, jenseits des Regimes die Transformation und Zivilgesellschaft zu unterstützen, finanziert Berlin das „Förderprogramm Belarus“ sowie bis Ende 2003 die Aktivitäten des TRANSFORM- Programms in Minsk. Allerdings stoßen auch diese bilateralen Kooperationsmaßnahmen an die Grenzen ihrer politischen Machbarkeit. So schreckt die deutsche Seite schon davor zurück, Projekte mit politischen Charakter im Rahmen des Förderprogramms Belarus zu unterstützen. TRANSFORM-Maßnahmen werden 2004 weitgehend eingestellt.

In der europäischen Nachbarschaftspolitik lässt sich seit 2002 eine Erweiterung der bisherigen Schwerpunktsetzung erkennen. Die EU zielte zu diesem Zeitpunkt erneut darauf, den demokratischen Wandel durch eine Politik der schrittweisen Annäherung zu unterstützen. Die Operationalisierung dieses Kurses scheiterte an der Blockadehaltung des Lukaschenko-Regimes. Aufgrund des zunehmenden politischen Handlungsdruckes hat die Europäische Kommission im März 2002 eine Strategie verabschiedet, durch die mögliche negative Auswirkungen ihrer Osterweiterung verhindert werden sollen. Mit dem Konzept „Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“ ist Brüssel bestrebt, Trennlinien zu den neuen Nachbarn in Osteuropa sowie den Mittelmeeranrainern zu vermeiden und sich auf diesem Weg als gesamteuropäischer Akteur zu profilieren. Um diese normativen Zielsetzungen in die politische Wirklichkeit umzusetzen, besteht laut Romano Prodi, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, die Möglichkeit, den Nachbarstaaten jenseits der institutionellen Mitgliedschaft eine weitreichende Zusammenarbeit anzubieten: „sharing everything with the Union but institutions“. Gemäß dem Konzept der Kommission könnte dies, zumindest theoretisch betrachtet, die Einbeziehung der Nachbarstaaten in alle vier Grundfreiheiten der europäischen Integration, den freien Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen, implizieren. Eine Umsetzung könnte beispielsweise die Schaffung eines visafreien Reiseverkehrs von Wladiwostok über Berlin bis nach Syrien bedeuten. Allerdings handelt es sich dabei bisher nur um Zukunftsoptionen. Weitaus wichtiger für die Umsetzung des Dokuments sind die einzelnen Schritte zur Implementierung. Darin sieht die Kommission ein differenziertes, schrittweises und mit Maßstäben ausgestattetes Konzept vor. Als ein weiterer Schritt zur Umsetzung sind bilaterale Aktionspläne mit den einzelnen Nachbarländern vorgesehen.

Vorschläge für eine innovative Nachbarschaftspolitik kommen aus den künftigen EU-Mitgliedsstaaten, allen voran aus Polen. Im Januar 2003 stellte das polnische Außenministerium ein non-paper über die Regelung der künftigen Nachbarschaftsbeziehungen vor.7 Es setzte die polnische Zielvorstellung einer möglichst engen Anbindung der künftigen Nachbarstaaten, in erster Linie der Ukraine, an die erweiterte EU fort. Als mittelfristige Perspektive sieht das Konzept vor, die europäische Kooperation mit der Ukraine und der Republik Moldawien bis hin zur Assoziierung zu verdichten. Für Weißrussland enthält das Papier einen zweigleisigen Ansatz. Die Beziehungen zu Vertretern der weißrussischen Regierung sollen nach dem Grundsatz der Konditionalität am Entwicklungstand demokratischer Reformen ausgerichtet werden. Dies schließt einerseits die Fortführung des europäischen Isolationskurses, aber andererseits auch die Zusammenarbeit mit pro-demokratischen und lokalen Akteuren ein und ist somit flexibler als die offizielle Weißrusslandpolitik der EU. Gleichzeitig beabsichtigt die polnische Strategie, eine Politik „von unten“ zu forcieren und dazu die technische Hilfe sowie die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft auszubauen. Eine ähnliche inhaltliche Zielsetzung verfolgt ein aus der Feder von polnischen, tschechischen, slowakischen und ungarischen Denkfabriken resultierendes Nachbarschaftskonzept.8 Für eine neue Weißrusslandstrategie schlagen die Verfasser vor, das Prinzip der Konditionalität stärker als bisher ernst zu nehmen, aber gleichzeitig die Kontakte zu Exponenten des demokratischen Spektrums zu intensivieren.

Fazit: Grenzen und Chancen der Kooperation in einer schwierigen Partnerschaft

Trotz möglicher Vorbehalte und Schwierigkeiten ist die Osterweiterung der EU Anlass zum Feiern. Mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten vollendet Europa einen wichtigen Schritt hin zu einem gesamteuropäischen Akteur. Für die Neumitglieder bedeutet diese Rückkehr in die europäische Staatengemeinschaft die Anerkennung eines Jahrzehnts außenpolitischer Westorientierung und konsequenter Transformation. Mit dem Knallen der Sektkorken am 1. Mai 2004 in Warschau, Tallinn, Bratislava und anderswo besteht jedoch gleichzeitig die Gefahr, dass sich die künftige EU-Ostgrenze zu einer neuen Trennlinie zwischen Ost und West entwickelt, obwohl die EU eben genau dieses vermeiden will. Im Falle der Ukraine, dem größten und strategisch bedeutsamsten Akteur unter den neuen Nachbarn, resultieren die Schwierigkeiten aus dem Ungleichgewicht zwischen den außenpolitisch motivierten Interessen Kiews, der EU beizutreten zu wollen und der ablehnenden Haltung Brüssels, die ukrainischen Transformationsprobleme nicht zu EU-internen Schwierigkeiten machen zu wollen. Hinsichtlich möglicher, aber aus europäischem Eigeninteresse nur wenig realistischer Beitrittsinteressen ist das offizielle Weißrussland ein „einfacher“ Nachbar. Minsk will kein Mitglied in der EU werden. Dennoch ist Weißrussland einer der schwierigsten Nachbarstaaten. Wie kein anderes Land verkörpert Weißrussland die Diskrepanzen zwischen struktureller Nähe zu Europa und ungeklärter Identität verbunden mit dem autoritärem Charakter des Regimes. Gleichzeitig vergrößert die westliche Isolationspolitik die ohnehin schon bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Asymmetrien. Der Handlungsdruck auf Europa nimmt zu, ohne dass bisher adäquate Instrumente existieren. So lange es nicht zu einem Regimewechsel in Minsk kommt, muss eine zukunftsorientierte Weißrusslandpolitik immer europäische Interessen berücksichtigen, indem sie den Umgang mit dem Regime mit Kontakten zu demokratischen Akteuren verbindet.


Fußnoten:


  1. Voswinkel, Johannes: Wo der KGB noch KGB heißt, in: Die Zeit, Nr. 4, 14. Januar 2004, S. 7. ↩︎

  2. Vgl. Gryb, Miatschyslau: Nationale Kultur als Voraussetzung für nationale Selbstbestimmung, in: Nationale Identität in Belarus, hrsg. v. d. Friedrich- Ebert-Stiftung (Helmut Kurth), Minsk 2003, S. 25-45. ↩︎

  3. Memorandum of the President of the International Bank for Reconstruction and Development and of the International Finance Corporation to the Executive Directors on the Country Assistances Strategy for Belarus, Document of the World Bank, Report No. 23401 – BY, 16.02.2002, S. 6 f. ↩︎

  4. Timmermann, Heinz: Die EU und die „neuen Nachbarn“ Belarus und die Ukraine. (SWP Studie, Nr. 41), Berlin, Oktober 2003, S. 16. ↩︎

  5. Slizkij, Vitalij: Perspektivy evropejskoj integrazii Belarusi, in: Belarus’ szenarii reform, Warschau 2003, S. 331-363; Belarus a Choice of Direction. Hrsg. v. Pavel Daneyko (u. a.). Minsk, St. Petersburg 2003. ↩︎

  6. 10 Jahre Deutsch – Belarussische Beziehungen. Eine Bilanz. Hrsg. v. d. Deutschen Botschaft Minsk. Berlin, Minsk 2002/2003. ↩︎

  7. Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Poland, non paper. Warschau 2003. ↩︎

  8. Eastern Policy of the Enlarged European. Developing Relations with Russia, Ukraine and Belarus. A Visegrad Perspective. Hrsg. v. Kataryna Pelczynska (u. a.). Bratislava 2003. ↩︎