OWEP 2/2004

OWEP 2/2004

Schwerpunkt:
Weißrussland

Editorial

Kaum ein Land unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat solche Identitätsprobleme wie das nach dem Zerfall der UdSSR entstandene Weißrussland/Belarus. Am Rande Ostmitteleuropas gelegen, hat dieses Gebiet zwei Weltkriege, die bolschewistische Revolution und die stalinistischen Säuberungen durchlitten.

Das vorliegende Heft von „Ost-West. Europäische Perspektiven“ widmet sich den Problemen des Landes, das religiös und national differenziert ist und von einem machtbewussten Herrscher – Präsident Alexander Lukaschenko – regiert wird. Der weißrussische Historiker Andrej L. Kishtymov zeichnet Geschichte und Gegenwart dieses in Mitteleuropa wenig beachteten Landes: objektiv und ohne Illusionen. Die Frage, ob Belarus eher Russland oder dem westlichen Europa zuneigt, untersucht Iris Kempe. Sie warnt davor, durch Isolation Weißrusslands „eine neue Trennlinie durch Europa“ zu zementieren. Belarus bleibe einer der schwierigsten Nachbarstaaten: mit ungeklärter Identität, struktureller Nähe zu Europa und einem autoritären Regime.

Andrej V. Danilov beschreibt die Situation der Religion in Weißrussland: 80 % der Bevölkerung bekennen sich zur Orthodoxie, 9,9 % zum Katholizismus, 0,7-2 % zum Protestantismus und 0,3 % zum Judentum. Die Juden spielten in Geschichte und Kultur Weißrusslands eine bedeutende Rolle. Heute ist dies eine „versunkene Welt“. Frank Nesemann entwirft ein eindrucksvolles Bild von ihrer Blütezeit im polnisch-litauischen Großreich über die Periode der Pogrome bis zum Holocaust.

Bei der Katastrophe im ukrainischen Tschernobyl ging der meiste atomare Fallout auf weißrussisches Gebiet nieder. Noch immer existieren dort auf den verstrahlten Flächen Menschen, „weil man irgendwo leben, arbeiten und Kinder großziehen muss.“

Das gespannte Verhältnis weißrussischer Behörden zu Europa und zum Westen wird im Interview mit dem Leiter der OSZE-Mission in Minsk deutlich. Ein Porträt Präsident Lukaschenkos markiert die Position dieses selbstherrlich regierenden Präsidenten, der noch immer den Zerfall der Sowjetunion für „ein Verbrechen“ hält.

Die Redaktion

Kurzinfo

Seit dem 1. Mai 2004 liegt Weißrussland jenseits der Grenze der Europäischen Union im Osten Europas. Es droht damit noch mehr aus dem Blickfeld des Durchschnittseuropäers zu geraten, als es bisher schon der Fall gewesen ist. Daher möchte das vorliegende Heft von „Ost-West. Europäische Perspektiven“ versuchen, etwas Licht in Gegenwart und Geschichte dieses europäischen „Stiefkindes“ zu bringen.

Eröffnet wird die Abfolge der Beiträge mit einem Essay des Historikers Andrej L. Kishtymov, Minsk, zum Thema „Nation und Staat: Modelle und Wirklichkeit in Weißrussland“. Darin setzt er sich mit dem Selbstverständnis der weißrussischen Gesellschaft auseinander, die am Scheideweg zwischen dem Weg nach Westen, zur Europäischen Union, und nach Osten, Richtung Russland, steht. Wohin die Reise gehen wird, ist noch offen. Dass die Europäische Union und besonders der unmittelbare westliche Nachbar von Weißrussland, also Polen, für Weißrusslands Zukunft von größter Bedeutung sein werden, geht aus den anschließenden Ausführungen der Politikwissenschaftlerin Iris Kempe, München, und des Journalisten Michał Kurkiewicz, Warschau, hervor. Kempe beschäftigt sich mit den „Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit (zwischen Weißrussland und Europa) in direkter Nachbarschaft“, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung der letzten zehn Jahre liegt, in denen Weißrussland unter Präsident Alexander Lukaschenko eine restriktive Politik der Angrenzung von Westeuropa betrieben hat. Kurkiewicz holt etwas weiter aus und schildert die aus jahrhunderterlanger gemeinsamer Geschichte gewachsenen besonderen Beziehungen Polens zu seinem östlichen Nachbarn und deren Konsequenzen für die aktuelle polnische Außenpolitik.

Weißrussland leidet – was in Deutschland oft vergessen wird – bis heute unter den Folgen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. In der Zwischenkriegszeit war das heutige Territorium der Republik zwischen Polen und der Sowjetunion geteilt, während des Zweiten Weltkrieges einer der Hauptkriegsschauplätze. 1945 hatte es fast ein Drittel der Bevölkerung verloren, darunter über 90 % der jüdischen Bevölkerung. Wiederaufbau und Industrialisierung des Landes in den fünfziger und sechziger Jahren verursachten in manchen Regionen schwere ökologische Schäden. Unabsehbare Folgen hatte schließlich der radioaktive Fall-out des Reaktorunglücks von Tschernobyl 1986, der weite Teile des weißrussischen Gebietes verseuchte und bis heute Opfer fordert. Die Osteuropa-Historikerin Petra Rentrop, Dortmund, skizziert diese Entwicklungen in ihrem Beitrag „Das Zeitalter der Katastrophen – Weißrussland im 20. Jahrhundert“. Der einst reichen Tradition der jüdischen Gemeinden auf weißrussischen Boden spürt der Judaist und Historiker Frank Nesemann, Leipzig, unter dem Titel „Versunkene Welten – Geschichte und Kultur der Juden Weißrusslands“ nach. Hart betroffen von den Umwälzungen des 20. Jahrhunerts waren auch die Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Weißrussland, die sich seit 1990 wieder freier entfalten dürfen. Informationen darüber bietet Andrej V. Danilov, Dozent an der Theologischen Fakultät der European Humanities University, Minsk, in seinem Bericht „Zur Situation der Religion in Weißrussland“.

Abgerundet wird das Heft durch die von Martin Buschermöhle, Projektreferent bei Renovabis, erarbeitete Länderinformation, die kompakt die Fakten über Weißrussland bündelt, eine aktuelle Reportage zur Situation der Menschen in der „Todeszone“ von Tschernobyl, ein Interview mit dem Leiter der OSZE-Mission in Weißrussland, Botschafter Dr. Eberhard Heyken, und ein Porträt des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, einer der wohl umstrittensten Persönlichkeiten des politischen Lebens in Osteuropa.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

83
Nation und Staat: Modelle und Wirklichkeit in Weißrussland
Andrej L. Kishtymov
95
Weißrussland und Europa. Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit in direkter Nachbarschaft
Iris Kempe
106
Anmerkungen zu einer Nachbarschaft: Polen und Belarus
116
Das Zeitalter der Katastrophen – Weißrussland im 20. Jahrhundert
Petra Rentrop
123
Zur Situation der Religion in Weißrussland
Andrej V. Danilov
132
Versunkene Welten – Geschichte und Kultur der Juden Weißrusslands
Frank Nesemann
142
Länderinfo: Weißrussland
Martin Buschermöhle
144
Im Schatten des Reaktors (Reportage)
Galina Strockaja und Kornelius Konsek SVD
153
Zur Tätigkeit der OSZE in Weißrussland. Gespräch mit dem Leiter der Mission, Botschafter Dr. Eberhard Heyken
Thomas Bremer
157
Alexander Lukaschenko (Porträt)
Thomas Bremer
159
Bücher

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