Versunkene Welten – Geschichte und Kultur der Juden Weißrusslands

aus OWEP 2/2004  •  von Frank Nesemann

Dr. Frank Nesemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig.

Die Juden Weißrusslands als Untertanen des polnisch-litauischen Großreiches

Die Anfänge der weißrussisch-jüdischen Geschichte gehen auf das ausgehende 14. Jahrhundert zurück, als das Großfürstentum Litauen – zu dessen Gebiet das heutige Weißrussland gehörte – mit dem polnischen Königreich in Personalunion vereinigt wurde. Infolge jener 1386 vollzogenen Verbindung gewannen die Prinzipien der seit dem 13. Jahrhundert gegenüber den Juden betriebenen Politik der polnischen Fürsten und Könige auch im Machtbereich der litauischen Großfürsten Geltung. Diese gestatteten Juden die Ansiedlung auf dem Gebiet des Großfürstentums, gewährten ihnen herrscherlichen Schutz und versahen sie in – wohlverstandenem ökonomischem Eigeninteresse – mit relativ weitgehenden wirtschaftlichen Privilegien. Im Großfürstentum Litauen übernahmen drei bereits 1388 und 1389 verkündete Verordnungen die wesentlichen Bestimmungen der entsprechenden Privilegien, die in Polen den Rechtsstatus der Juden definiert hatten. Zwei dieser Gnadenbriefe betrafen jüdische Gemeinden, die sich schon damals auf dem Boden des heutigen Weißrussland – in den Städten Brest (poln.: Brześć) und Hrodna (russ. und poln.: Grodno) – angesiedelt hatten.

Mit dem 15. Jahrhundert nahm die jüdische Einwanderung nach Weißrussland allmählich zu. Wie in Polen waren Juden auf dem Territorium des litauischen Großfürstentums bereits in dieser Zeit in herrscherlichem Auftrag als Zöllner tätig. Ebenso traten sie als – bisweilen wohlhabende, zumeist jedoch kleine – Kaufleute sowie als Eigentümer oder Pächter von landwirtschaftlichen Gütern in Erscheinung. Eine wichtige Rolle spielten sie außerdem im Kreditwesen und als Steuerpächter im Auftrag des monarchischen Herrschers. Vor allem die wohlhabenden Kaufleute und die Steuerpächter aus der jüdischen Gemeinde von Brest waren im 15. und im 16. Jahrhundert an der wirtschaftlichen Erschließung Weißrusslands in bedeutendem Umfang beteiligt. 1495 wurden die weißrussischen Juden wie alle jüdischen Untertanen der litauischen Großfürsten indessen für einige Jahre des Landes verwiesen, doch durften sie bereits 1503 wieder in ihre Siedlungsgebiete zurückkehren.

Ungeachtet der vorübergehenden Ausweisung blieb der Rechtsstatus der Juden – d. h. eine weitgehende Gleichberechtigung im wirtschaftlichen Bereich sowie Gemeindeautonomie – im polnisch-litauischen Großreich auch in den zweieinhalb folgenden Jahrhunderten im wesentlichen intakt. Im Laufe des 16. Jahrhunderts erreichte die interne jüdische Autonomie in Polen und Litauen einen in ganz Europa einzigartigen Umfang. Zunächst wurden zwischen 1518 und 1522 mit den sogenannten vier „Ländern“ regionale jüdische Selbstverwaltungsinstanzen geschaffen. Zehn Jahre nach der Vereinigung Polens und Litauens zu einem gemeinsamen Staatsgefüge (1569) rief König Stephan Batory dann eine Art jüdischen „Reichstag“ für das gesamte Königreich in Gestalt des „Vierländerrates“ (hebr.: Wa’ad arba arazot) ins Leben, der 1581 erstmals zusammentrat. Der Wa’ad war für die Verwaltung aller internen jüdischen Angelegenheiten und für die Eintreibung der Steuern unter den Juden in der polnisch-litauischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita) zuständig. Der für den litauischen Reichsteil etablierte Landes-Wa’ad bestand zunächst sogar nur aus drei weißrussischen Gemeinden – denjenigen von Pinsk, Brest und Hrodna –, die als sogenannte „Hauptgemeinden“ ihre jeweiligen Provinzen auf den „Judenlandtagen“ vertraten und über diese auch die Jurisdiktion in religiösen Angelegenheiten und internen jüdischen Verwaltungsfragen ausübten. Die meisten jüdischen Gemeinden in Weißrussland unterstanden dabei der Jurisdiktion der Kehilla (= jüdische Gemeinde) von Brest.

Die seit dem 16. Jahrhundert geführten polnisch-russischen Kriege zogen die jüdischen Gemeinden Weißrusslands immer wieder schwer in Mitleidenschaft: Russische Invasionen in das Gebiet der Rzeczpospolita waren häufig von verheerenden Gewalttaten und Plünderungen begleitet, die gerade gegenüber den Juden in mehrere grauenvolle Massaker und brutale Zwangstaufen ausuferten. Zu einer wahren Katastrophe wuchs sich ab 1648 jedoch in erster Linie der vom Moskauer Staat unterstützte Aufstand der ukrainischen Kosaken unter Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj aus, in dessen mehrjährigem Verlauf es in Weißrussland wie in der Ukraine zu unvorstellbaren Gräueltaten an den Juden kam. Wahrscheinlich fielen in diesen Gebieten 100.000 bis 125.000 Juden den Massakern zum Opfer. Mit dem Kosakenaufstand von 1648 und den darauf folgenden nahezu zwei Jahrzehnten des russisch-polnischen Krieges nahm der politische und militärische Niedergang der polnisch-litauischen Adelsrepublik seinen Anfang.

Unter der Herrschaft der russischen Zaren

Infolge der Teilungen Polens (1772, 1793 und 1795) gelangte ganz Weißrussland unter die Oberhoheit des Petersburger Imperiums. Bereits die Regierung Katharinas II. verfügte erste Einschränkungen im Hinblick auf das Wohnrecht und die Wanderungsmöglichkeiten von Juden. Alexander I. erließ im Jahre 1804 ein „Statut für die Juden“, das u. a. festlegte, dass Juden im Russischen Reich hinfort nur noch innerhalb eines „Ansiedlungsrayons“ (čerta osedlosti) wohnen durften, der die ehemaligen polnischen Teilungsgebiete sowie „Neurussland“ (die unter Katharina II. eroberten Territorien entlang der nördlichen Schwarzmeerküste und im Nordkaukasus) umfasste. Zwar schien sich im Zeichen der von Alexander II. (1855-1881) betriebenen „Großen Reformen“ eine Liberalisierung in der russischen Politik gegenüber den Juden anzudeuten, doch stellte diese Phase nur ein relativ kurzfristiges Zwischenspiel dar. Unter Alexander III. wurde Antisemitismus ab 1881 gewissermaßen zu einem Eckpfeiler im Rahmen einer zunehmend russisch-nationalistischen und modernisierungsfeindlichen Regierungsideologie.

Unter diesen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen vollzogen sich unter der jüdischen Bevölkerung Weißrusslands all jene kulturellen und sozialen Entwicklungen, die die Juden des Russischen Imperiums während des 19. Jahrhunderts prägten, gleichsam wie in einem Brennspiegel. Ein unter Alexander III. erlassenes Verbot für Juden, sich auch innerhalb des „Ansiedlungsrayons“ auf dem Land niederzulassen, forcierte diese Politik dann erheblich. Als Folge dieser Maßnahmen sahen sich die Juden in den Städten zusammengedrängt und mussten als Handwerker unter oftmals ärmlichen wirtschaftlichen Bedingungen ihr Auskommen finden. Auf Weißrussland mit seiner traditionell ohnehin stark städtisch strukturierten jüdischen Bevölkerung wirkten sich diese Entwicklungen in besonders charakteristischer Weise aus: In einigen weißrussischen Städten stellten Juden gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Nach den Angaben der Volkszählung von 1897 betrug beispielsweise der jüdische Bevölkerungsanteil in Pinsk 74,2 %, in Babrujsk (russ.: Bobrujsk) 60,5 %, in Homel’ (russ.: Gomel’) 54,8 % und in Minsk 52,3 %. In Vicebsk (russ.: Vitebsk) belief er sich auf 52,4 %; der jüdischen Einwohnerschaft dieser Stadt entstammte im übrigen die weltweit wohl bekannteste in Weißrussland geborene Persönlichkeit, der Maler Marc Chagall (1887-1985). Insgesamt machte die bei der Zählung von 1897 auf 742.548 Personen bezifferte jüdische Bevölkerung 13,6 % der Einwohnerschaft in den weißrussischen Gouvernements aus.

In religiös-kultureller Hinsicht standen vor allem die im Süden Weißrusslands siedelnden Juden erkenntlich unter dem Einfluss der verschiedenen Spielarten des Chassidismus, jener volkstümlich-mythischen Massenbewegung, die im 18. Jahrhundert in der Ukraine entstanden war. Die zu den Chassidim in Gegnerschaft stehenden Mitnaggedim (= „Gegner“), die Anhänger des traditionellen rabbinischen Judentums, besaßen in den weißrussischen Gouvernements – vor allem in deren nördlichen und westlichen Gebieten – jedoch ein klares Übergewicht. Die von beiden Richtungen bekämpfte jüdische Aufklärungsbewegung – die Haskala – hatte, geprägt vor allem vom Wirken der Maskilim („Aufklärer“) von Wilna, spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum in den größeren Städten Weißrusslands Fuß gefasst. Gegen Ende des Jahrhunderts gewannen dann auch die bedeutenden säkularen politischen Bewegungen unter den Juden des Russischen Imperiums – v. a. die im sogenannten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (kurz: Bund) organisierten marxistischen Sozialisten sowie der Zionismus in seinen verschiedenen programmatischen Ausrichtungen – in Weißrussland einen bedeutenden Anhang. Zahlreiche jüdische Persönlichkeiten, die bei der Herausbildung einer politischen Identität der Juden im Russischen Imperium und bei der Entstehung jüdischer politischer Parteien eine maßgebliche Rolle spielten, stammten im übrigen aus den weißrussischen Gouvernements – so z. B. der Historiker Simon Dubnov und Chaim Weizmann, der erste Präsident des Staates Israel.

Während des Ersten Weltkrieges hatte die jüdische Bevölkerung in den westlichen Grenzgouvernements des Zarenreiches in besonderem Maße zu leiden – unter den Folgen der Kampfhandlungen, unter materieller Not und Hunger, vielerorts gar unter brutalen Deportationen seitens der russischen Militärbehörden und unter gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen. In das zunächst noch nicht frontnahe Weißrussland ergoss sich vor dem Hintergrund all dieser Ereignisse bereits in den ersten Kriegsmonaten ein großer Zustrom an jüdischen Kriegsflüchtlingen aus Polen und Litauen. Im Laufe des Jahres 1915 gerieten die westlichen Teile Weißrusslands indessen unter die Kontrolle des deutschen Heeres: ein nicht geringer Teil der weißrussisch-jüdischen Bevölkerung zählte von nun an de facto nicht mehr zu den Untertanen des Zaren.

Die Juden Weißrusslands in der Zwischenkriegszeit

Im Zuge der Februarrevolution des Jahres 1917 erhielten die Juden des Russischen Imperiums endlich die langersehnte bürgerliche Gleichberechtigung. In der Folge entwickelte sich eine blühende jiddischsprachige Presselandschaft. Die bereits vor 1917 gegründeten jüdischen Parteien intensivierten nun ihre Tätigkeit, und neue jüdische Parteien entstanden. Teilweise operierten diese politischen Gruppierungen mit großem Erfolg: Bei den Wahlen zur Allrussischen Konstituierenden Versammlung, die noch nach dem Oktoberputsch stattfinden konnten, erzielten verschiedene zionistische Gruppen sowie der Bund in manchen Gebieten Weißrusslands äußerst beachtliche Ergebnisse. Mit dem Jahre 1918 erfassten jedoch die Wirren des russischen Bürgerkrieges auch Weißrussland. Im wechselvollen Verlauf des Krieges wurde das Gebiet in erster Linie zum Schlachtfeld der sowjetisch-polnischen Auseinandersetzungen: vor allem 1919 fielen zahlreiche Juden den von beiden Seiten gegen sie verübten Gewalttaten zum Opfer. Mit dem im März 1921 geschlossenen Frieden von Riga wurde das Territorium Weißrusslands zwischen Polen und Sowjetrussland geteilt. Die Geschichte der weißrussischen Juden vollzog sich von nun an für fast zwei Jahrzehnte unter vollkommen gegensätzlichen Voraussetzungen.

Im Sinne der in den zwanziger Jahren geltenden Grundsätze der sowjetischen Nationalitätenpolitik wurde in der Weißrussischen Sowjetrepublik die Entfaltung einer nationalen jüdischen Kultur in jiddischer Sprache – der Muttersprache der allermeisten weißrussischen Juden – zunächst massiv gefördert. Diese sowjetisch-jüdische Nationalkultur hatte freilich vollkommen säkular und proletarisch zu sein – „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“, wie die allgemeine Leitlinie der sowjetischen Nationalitätenpolitik damals lautete. In den ersten anderthalb Jahrzehnten nach der Revolution entstand unter diesen Vorgaben ein flächendeckendes staatliches Schul- und Ausbildungssystem in jiddischer Sprache, und das jiddische Publikations- und Pressewesen erfuhr einen gewaltigen Aufschwung. Ebenso erblühte nun eine vielfältige jiddische Theaterlandschaft. Nach dem Sprachengesetz der Weißrussischen SSR von 1924 firmierte Jiddisch außerdem – zumindest theoretisch – als eine von vier gleichberechtigten Staatssprachen (neben Weißrussisch, Russisch und Polnisch).

Derartige Tatsachen vermögen jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die jüdische Kultur in der Weißrussischen SSR während der zwanziger Jahre im Kern nur eine Scheinblüte erlebte. So hatten die Inhalte des jiddischen Bildungswesens sowie die Themen in der jiddischen Presse, in Sachbüchern sowie in der schönen Literatur auf der einen Seite regimekonform zu sein. Eine literarische, publizistische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung mit originär jüdischen Belangen bzw. mit Problemen der jüdischen Gesellschaft wurde von der innerhalb der Kommunistischen Partei wirkenden, 1930 schließlich aufgelösten jüdischen „nationalen“ Sektion (Evsekcija) von Anfang an propagandistisch bekämpft – und im Laufe der Zeit auch immer einschneidender von der Zensur unterbunden. Die „proletarische jiddische Kultur“ sollte nach den Vorstellungen der bolschewistischen Führung in erster Linie also dem Ziel dienen, die „jüdische Absonderung“ zu beseitigen; sie sollte – mit anderen Worten – alle Ansätze einer nicht vom Regime gesteuerten eigenständigen jüdischen Nationalkultur rigoros unterdrücken. Der Gebrauch der hebräischen Sprache wurde in diesem Zusammenhang im übrigen auf das schärfste bekämpft, galt das Hebräische doch nicht allein als die heilige Sprache des „reaktionären“ religiösen Judentums, sondern auch als die Sprache der vom Regime als ebenso „reaktionär“ und „bürgerlich“ verpönten zionistischen Bewegung.

Dieser ideologischen Ausrichtung entsprach auf der anderen Seite, dass die bolschewistische Führung all diejenigen autonomen sozialen und kulturellen Institutionen unter der jüdischen Bevölkerung mit brutaler Konsequenz zerschlug, die sich in der traditionellen jüdischen Gesellschaft herausgebildet hatten – oder aber infolge verschiedener Modernisierungsbestrebungen in den zurückliegenden Jahrzehnten entstanden waren. Den kulturellen Einrichtungen der jüdischen Gemeinden, den jüdischen Krankenhäusern und karitativen Organisationen, jüdischen Selbsthilfeinstitutionen und Kreditkooperativen sowie selbstverständlich dem vom Staate unabhängigen jüdischen Bildungswesen wurde somit – häufig gewaltsam – bereits von 1919 an in wenigen Jahren jede offizielle Existenzgrundlage entzogen, auch wenn sie im Untergrund teilweise noch bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre hinein fortbestehen konnten. Ebenso führte das Regime spätestens seit 1921 einen offenen Krieg gegen die jüdische Religion. Synagogen, Jeschiwot (Ausbildungsstätten für Rabbiner) und Chadarim (religiöse jüdische Schulen) wurden zu Hunderten geschlossen, man suchte die Befolgung der jüdischen Feiertage sowie die Einhaltung der religiösen Vorschriften mit allen möglichen administrativen und polizeilichen Mitteln zu unterbinden und betrieb eine aggressive antireligiöse Propaganda. Ungeachtet der diktatorischen Herrschaftsstrukturen erwuchs dem antireligiösen Feldzug in manchen Städten Weißrusslands indessen noch jahrelanger Widerstand – in Form von Protesten gegen die Schließung von Synagogen oder aber in Gestalt religiöser Untergrundgemeinden.

Schließlich entzog das Regime den allermeisten Juden auch ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Das Verbot des privaten Handels und die für Handwerksbetriebe geltenden Beschränkungen hatten für die meisten jüdischen Erwerbstätigen bereits in den Jahren vor Lenins „Neuer Ökonomischer Politik“ ruinöse Auswirkungen gezeitigt. Überdies galten viele dieser „bürgerlichen“ Händler, ebenso wie die Rabbiner, jahrelang als Angehörige der ehemaligen „Ausbeuterklassen“ (sogenannte lišency), denen man viele Bürgerrechte vorenthielt und die man auch wirtschaftlich hart diskriminierte. Zwar unternahm das Regime Versuche, die traditionelle jüdische Sozialstruktur dadurch aufzubrechen, dass man die Juden als Bauern „produktivierte“, doch erwiesen sich diese Ansätze nur beschränkt als erfolgreich. Eine einschneidende Umwälzung der jüdischen Sozialstruktur brachte jedoch die Industrialisierung ab Ende der zwanziger Jahre mit sich: In ihrem Verlauf wurden viele Personen jüdischer Herkunft zu Arbeitern – häufig Facharbeitern – in der Industrie. Dies führte jedoch auch zu einer beträchtlichen Abwanderung von Juden aus Weißrussland – vor allem nach Moskau, nach Leningrad und in die zentralrussischen Industrieregionen.

Unter anderem deshalb nahm die jüdische Bevölkerung in Sowjetisch-Weißrussland in den dreißiger Jahren ab. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 hatten dort zu jener Zeit ungefähr 407.000 Juden gelebt, was 8,2 % der Gesamtbevölkerung entsprochen hatte (in Minsk, Homel’ und Babrujsk hatte der jüdische Anteil an der jeweiligen städtischen Bevölkerung dabei über 40 % betragen). 1939 jedoch lebten in der damaligen Weißrussischen SSR den offiziellen Angaben zufolge nur noch gut 375.000 Juden: ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war auf 6,7 % gesunken.

Die ideologischen Wandlungen in der sowjetischen Nationalitätenpolitik besiegelten spätestens ab dem Jahre 1934 schließlich auch das Ende der regimekonformen jiddischen Kulturblüte. Gegenüber den Juden wie gegenüber fast allen anderen nichtrussischen Völkern setzte nun ein systematischer und kontinuierlicher Abbau der nationalsprachlichen Institutionen ein: im Zeichen des stalinschen „Sowjetpatriotismus“ und einer gezielten Förderung des Russischen als der Sprache des sozialistischen „Sowjetvolkes“ wurde die zuvor propagierte Kulturautonomie der Nichtrussen auf allen Ebenen systematisch ausgehöhlt. Für die Juden Weißrusslands bedeutete dieser Vorgang einen nahezu vollständigen Verlust ihrer sowjetoffiziellen nationalen Existenz. Entsprechende Verwaltungs- und Kultureinrichtungen verschwanden weitestgehend von der Bildfläche: Hatten noch im Jahre 1934 beispielsweise 24 jiddischsprachige Dorfsowjets in Weißrussland bestanden, so wurden diese nun ebenso aufgelöst wie die lokalen und regionalen Gerichte mit jiddischer Amtssprache. Von der ehedem vielfältigen jiddischen Presse- und Publikationslandschaft blieben nur klägliche Reste erhalten, und ebenso wurde auch der Anteil des jiddischsprachigen Unterrichts im Schul- und Ausbildungswesen auf ein Minimum reduziert. Die Ergebnisse dieser Politik mündeten bei den Juden Weißrusslands – wie bei denen der gesamten damaligen Sowjetunion – in der Folgezeit in ein derartig drastisches Ausmaß an sprachlicher und kultureller Russifizierung, wie sie kaum eine andere größere Nationalität im sowjetischen Vielvölkerreich erfuhr. Vor allem für die heranwachsenden Generationen stellte seit dieser Zeit das Russische die erste – und oft auch die einzige – Schrift- und Umgangssprache dar.

Wie bei anderen nichtrussischen Völkern entrichteten die einst vom Staate geförderten nationalen jüdischen Partei- und Kultureliten während der „Großen Säuberung“ in den späten dreißiger Jahren schließlich einen hohen Blutzoll. Zahlreiche sowjetjüdische Funktionäre (darunter viele frühere Aktivisten der Evsekcija) und zahlreiche Angehörige der jiddischsprachigen Bildungs- und Kulturelite fielen dem stalinschen Terror zum Opfer.

Von all diesen Umwälzungen blieb die weit mehr als 300.000 Seelen zählende jüdische Bevölkerung in den zu Polen gehörenden weißrussischen Territorien bis 1939 verschont. Zwar genossen sie – ähnlich wie etwa Ukrainer und Weißrussen – in der Praxis nur eingeschränkte Minderheitenrechte: zudem wurden im Zeichen eines autoritären politischen Regimes ab Mitte der dreißiger Jahre einige speziell gegen die Juden gerichtete gesetzliche Bestimmungen verfügt, die diese zum Beispiel bei der Zulassung zu den staatlichen Hochschulen empfindlich diskriminierten. Im ganzen konnte sich jüdisches Leben in religiöser und kultureller Hinsicht jedoch frei entfalten. Die religiösen Gemeinden, die jüdischen Sozialeinrichtungen sowie die verschiedenen Spielarten eines religiösen wie eines nichtreligiös-zionistischen Bildungssystems sahen sich keinerlei staatlichen Behinderungen ausgesetzt. Ebenso blieb auch die angestammte jüdische Sozialstruktur in Polnisch-Weißrussland erhalten: Einer schmalen Schicht wohlhabender Kaufleute und begüterter fachberuflicher Eliten stand so die große Masse kleinbürgerlich-städtischer Gewerbetreibender gegenüber, die ihr – allzu häufig bescheidenes – Auskommen durch Handwerk und Kleinhandel fristeten. In großer Vielfalt entwickelten sich unter den Juden des westlichen Weißrussland auch die unterschiedlichsten politischen Organisationen – von der revolutionären Linken bis zu den Parteien des orthodoxen Judentums. Über einen bedeutenden Rückhalt verfügten in diesem Gebiet schließlich auch die verschiedenen Zweige der zionistischen Bewegung.

Die Katastrophe: Krieg, Völkermord und kulturelle Agonie in der Nachkriegszeit

Als die Sowjetunion im September 1939 die östliche Hälfte Polens nach dem Hitler-Stalin-Pakt annektierte, endete jedoch auch diese letzte Blüteperiode jüdischer Kultur auf dem Boden Weißrusslands. Konsequent und rasch verfolgten die sowjetischen Besatzungsbehörden und die sowjetische Geheimpolizei die Ausübung der jüdischen Religion und unterdrückten die zuvor so vielfältigen Erscheinungsformen eines eigenständigen jüdischen Kulturlebens. Viele tausend „reaktionäre“ und „bourgeoise Elemente“ unter den Juden Weißrusslands wurden Opfer der nun einsetzenden „Säuberungen“: sie wurden hingerichtet oder in Straflager verschleppt.

Diese brutalen Unterdrückungsmaßnahmen waren noch in vollem Gange, als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 Weißrussland besetzte. Wie über die Juden fast ganz Europas brach nun auch über die jüdische Bevölkerung Weißrusslands eine unvorstellbare Katastrophe herein: Den Schrecken von Krieg und Besatzung, vor allem aber dem nationalsozialistischen Völkermord fielen die allermeisten Juden auf dem Territorium Weißrusslands zum Opfer. Diejenigen, die das Grauen überlebten, mussten erfahren, dass es auch nach dem Kriege zu keinerlei Paradigmenwechsel in der sowjetischen Politik gegenüber den Juden kam. Ganz im Gegenteil wurde die jüdische Bevölkerung in den späten Herrschaftsjahren Stalins zum bevorzugten Ziel von Propagandakampagnen, aber auch von „Säuberungsaktionen“ seitens der Regierung, die auch den Antisemitismus unter der nichtjüdischen Bevölkerung schürten. Derartige unmittelbare Bedrohungen waren nach Stalins Tod zwar nicht mehr zu verzeichnen, doch sahen sich die Juden Weißrusslands – wie in der gesamten Sowjetunion – auch in den folgenden Jahrzehnten häufig versteckten und offenen politischen Diskriminierungen unterworfen. Ein neues eigenständiges Geistes- und Kulturleben konnte auf diesen Grundlagen nicht mehr erwachsen. Zwar wurden bei den entsprechenden gesamtsowjetischen Volkszählungen in der Weißrussischen SSR im Jahre 1959 ungefähr 150.000 und im Jahre 1970 noch gut 148.000 Einwohner (1,9 % bzw. 1,6 % der Gesamtbevölkerung) als Juden registriert, doch waren sie in ihrer erdrückenden Mehrheit der jüdischen Religion, jüdischen Kulturtraditionen und auch der jiddischen Sprache entfremdet.

Mit der Auflösung der Sowjetunion nahm zwar auch in Weißrussland die jahrzehntelange Unterdrückung der Religion ein Ende, doch ist es zu einem Aufblühen jüdischer religiöser und kultureller Traditionen – abgesehen von einzelnen neu- oder wiederentstandenen Gemeinden – nicht gekommen. In jüngerer Vergangenheit hat die jüdischstämmige Bevölkerung Weißrusslands durch Auswanderung noch weiter abgenommen: Offiziellen Angaben zufolge machen die jüdischen Einwohner des Landes unter dessen etwa 10,1 Millionen Bürgern derzeit nur noch ein gutes Prozent aus. Die vielfältige und eigenständige Kultur ihrer Vorfahren, die in der geschichtlichen Entwicklung Weißrusslands einst so viele Spuren hinterließ, ist heute bis auf marginale Reste verschwunden. Sie hat die katastrophalen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts nicht überlebt.


Literaturhinweise:

  • Ostrowski, Wiktor: Anti-Semitism in Byelorussia and its Origin. Material for Historical Research and Study of the Subject. London 1960.

  • Shmeruk, Chone / Zand, Michael: Jewish Culture in the Soviet Union. Jerusalem 1973.

  • Vakar, Nicholas: Belorussia – the Making of a Nation. A Case Study. Cambridge, Mass., 1956.