Mein Traum ist, einmal die Welt zu verstehen
Ich bin 27 Jahre alt und habe einen fast dreijährigen Sohn. Seit vier Jahren ist es meine berufliche Aufgabe zu helfen. Seit vier Jahren bin ich verheiratet. Zur Klärung – nicht in meiner Ehe spiele ich die Rolle der Helferin, obwohl es manchmal natürlich Überschneidungen gibt.
Die Frage nach meiner Zukunft macht mich verlegen. Einerseits weiß ich nicht, wen das interessieren könnte, andererseits habe ich keine konkreten Pläne. Natürlich habe ich Ahnungen über die Zukunft und Träume. Märchen, die ich abends meinem Sohn erzähle. Weil er irgendwie die Zukunft ist, mein Sohn. Er kam wirklich als Sonne zur Welt, und die Ankunft seines heißen Glühens würde ich für nichts und niemanden hergeben. Durch ihn vereinfacht sich vieles, durch ihn wird die Welt sauberer, sein kleinstes Lächeln weckt Leben in mir, und der winzigste Tränentropfen ruft in mir eine schmerzvolle Erinnerung hervor.
Dieses Gefühl übersteigt alles, alles andere daneben wird klein und unbedeutend. Er ist die Zukunft, weil er alles, was wichtig ist, in seinem Rahmen hält. Manchmal, wenn das Leben aussichtslos und müde ist, genügt ein nettes, spitzbübisches Lächeln oder ein Wort von ihm, und das Eis wird weicher um die Seele.
Vor längerer Zeit habe ich mir vorgestellt, dass ich viele Kinder haben werde, jedes wird ein kleines Wunder sein, und dass ich mit ihnen in einer glücklichen Familie zusammenleben werde. Ich würde ihnen alles weitergeben, was ich auch gelernt habe: dass das Geld nicht alles ist und der Mensch nur dann wirklich glücklich ist, wenn er liebt und auch geliebt wird. Dann vergehen alle anderen Sorgen. Vielleicht. Ich wollte ihnen von meiner Kraft geben, Kraft, die ich von meinen Eltern bekommen habe, und die meinen Glauben vermehrt und die Fröhlichkeit, die ebenfalls ein Geschenk des Lebens ist und von der ich nicht weiß, womit ich sie verdient habe.
„Ich strahle zurück, was ich bekommen habe, wie der Stein die Wärme der Sonne.“
Nun scheint es so zu kommen, dass ich mit meinem einzigen Sohn allein bleiben werde. Ihn soll ich das Leben lehren. Ich weiß: falls mir dieser Prozess nicht gelingt, falls ich Fehler mache, gibt es keine Chance für einen Neubeginn mehr. Und trotzdem kann man keinen endgültigen Fehler begehen. Dadurch wird das Leben so schön, geheimnisvoll abenteuerlich und fürchterlich.
Ich versuche Märchen zu erfinden, die über die Schönheit erzählen. Über das Gute. Wo der Böse sich bessert, die Hässlichkeit sich verschönert, der Dumme klug wird und die Bosheit sich in Liebe verwandelt. Jeden Abend erzähle ich Märchen. Die einköpfige Zuhörerschaft ist sehr kritisch und stellt mich noch dazu vor ernste Forderungen. Wenn sich eben Königssöhne, Zauberer, Elfen und andere Märchenfiguren in mir zu einem Märchen formen, dann kommt die Anweisung: „Mama, erzähl‘ über den Vorhang.“ Oder über die Tür, über die Kindergärtnerin, über den Löwen, über das Theater, über die Engel. Vergebens, es ist so wie das wirkliche Leben. Und falls es sehr viel Arbeit gibt, weil die Zeit drängt und es keine Wörter gibt wie auch schon am vorigen Abend, dann passiert manchmal ein Wunder. Das Routinemärchen, das allerbeliebteste, Schneeweißchen und Rosenrot, hat wieder einmal Erfolg. Es ist wahr, dass in unserer Familienfassung nicht so viel Bosheit und Aggression vorkommt. Der Wunder-wirkende Satz klingt so: „Mutter, sag‘ besser ein Märchen aus deinem Herzen.“ Und siehe: die Liebe kann auch Wörter gebären. Märchen aus dem Herzen. Das ist für mich das Wunder. Lieben ist gut. Man braucht dazu nichts anderes, nur Mut zum Erfinden und die Fähigkeit, zuzulassen.
Eine Friedensbedingung:
betrachte das Geld nicht mit Abscheu.
Bedauernswert ist, eine Hure zu nennen,
wer eben andere liebt.“
So viel über das Materielle mit den Worten meines Lieblingsdichters Akos Fodor. Absichtlich erzähle ich nicht über das Gefühl, das mich dann ergreift, wenn ich die Rechnung bezahlen muss und es schon lange Zeit kein Geld mehr in der Schublade gibt, oder wenn ich im Geschäft eine glaubwürdige Lüge für den fast Dreijährigen erfinden muss, warum wir nicht etwas Feines kaufen, obwohl sich doch der Geburtstag, eine Hochzeit oder sonst ein nach Geschenken verlangendes Fest nähert. Ich erzähle nicht, wie erniedrigend das ist, wie sich einem der Hals und der Magen zusammenschnürt. Ich sage auch nicht, was es für ein Gefühl ist, arm zu sein. Oder zu entdecken, dass du arm bist. Ich spreche auch nicht darüber, wie es ist, nächtelang Texte mit für mich unverständlichen Wörtern am Computer zu tippen, damit es drei Bananen und zwei Obstjoghurts mehr gibt – denn das ist das Beste auf der Welt. Dass mich viele Leute um meinen Arbeitsplatz beneiden und der Lohn für hiesige Verhältnisse im Allgemeinen eigentlich ganz gut ist, erwähne ich gar nicht mehr.
Meine Träume sind nicht an einen Ort gebunden. Ich möchte, dass man mich liebt. Ich möchte mich nie in einer Lage befinden, in der ich niemanden lieben kann. Es wäre gut, wenn ich mir um nichts Sorgen zu machen bräuchte, meine Liebsten gesund wären, die Arbeit, bei der sich mir immer wieder mein Magen und meine Kehle zusammenschnürt, wirksam wäre und ich tatsächlich sehen könnte, dass diese Arbeit einmal nicht mehr gebraucht wird, wenn das Phänomen, gegen das ich zusammen mit meinen Kolleginnen in unserer Arbeit kämpfe, aufhört zu existieren.
Wir beschäftigen uns mit den Opfern der Gewalt in der Familie. Es ist mein erstes Projekt und steht dem Herzen besonders nahe. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich die Aggression aggressiv hasse. Es ist egal, ob ich im Fernseher Irak oder Tschetschenien sehe. Oder ob die Worte einer unserer Klientinnen in meinen Ohren hallen. Immer hämmert die Frage: Warum? Es gibt oft nur Lähmung. Der Stein in der Seele, auf dem Herzen. Antworten gibt es nie. Trost bietet nicht mal, dass ich mithelfe, dass fast hundert Menschen einen aggressionsfreieren Alltag erleben.
Manchmal würde ich zu gerne den einen oder anderen Politiker schnappen, um ihm dies und das zu zeigen, nur so. Ihm die Augen öffnen, die Seele, damit er sieht. Gleichzeitig wäre es gut, alles aus Entfernung anzuschauen und zu sehen. Vielleicht würde ich dann auf meine Fragen Antworten erhalten. Ich erlerne gerade die Familientherapie. Die Zusammenhänge sind ein bisschen schärfer und auch die Reihen der Wichtigkeit verändern sich.
Mein Traum ist, einmal die Welt zu verstehen. Ein Märchen?