OWEP 1/2005
Schwerpunkt:
Jugend in Mittel- und Osteuropa
Editorial
In Westeuropa gehört die Jugend zu dem Lebensalter, das soziologisch am Besten erforscht ist. Und dennoch weiß man nicht allzu viel darüber.
Die Jugend in Mittel- und Osteuropa ist ein nahezu unbekanntes Wesen. Aber was ist „die Jugend“ in Mittel- und Osteuropa? Es sind – wie überall in der Welt – konkrete junge Menschen mit ganz verschiedenen Biografien. Und sie haben alle ihre Wünsche und Pläne für ein Leben, das gelingen soll. Nur ihre Voraussetzungen sind andere als die im Westen, Süden und Norden Europas. Das ergibt sich allein schon aus der jüngeren Zeitgeschichte, die sie hinter sich haben und in der ihre Eltern gelebt haben. Oder leben mussten!
Die Jugendlichen in Mittel- und Osteuropa sind Menschen zwischen Aufbruch und Ernüchterung. Einerseits wollen sie die dunklen Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen, andererseits sehen sie sehr deutlich, dass der Verwirklichung ihrer Träume Grenzen gezogen sind, manchmal sehr enge Grenzen.
Wir haben mit dieser Ausgabe von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ einen Versuch gemacht. Wir wollten junge Menschen zwischen 15 und 30 ohne große Vorgaben zu Wort kommen lassen und ihnen auch nicht dreinreden in das, was sie uns an Antworten auf unsere Fragen geschickt haben. In den 17 Texten aus 16 Ländern kommen 19 Autoren zu Wort, davon 14 weiblich und 5 männlich.
Wir waren selber erstaunt, was uns da vor Augen kam: Es ist ein Kaleidoskop entstanden – mit Fragmenten, Facetten, Splittern. Die Spanne reicht vom spontanen Gefühlsausbruch über den wissenschaftlichen Exkurs bis hin zum philosophischen Essay. Geglättet haben wir redaktionell nicht viel. Höchstens ein paar Formulierungen, die zum satzlogischen Verständnis unbedingt notwendig waren.
Urteilen Sie selbst, liebe Leserinnen und liebe Leser!
Die Redaktion
Kurzinfo
„Der Jugend gehört die Zukunft!“ – „Jung, optimistisch, mit Blick nach vorn!“ – Solche und ähnliche Schlagworte sind es, mit denen die jungen Menschen in aller Welt angesprochen werden. Das gilt auch für Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa, also in den Staaten und Gesellschaften, die sich fünfzehn Jahre nach der politischen Wende noch immer in einem Wandlungsprozess befinden. Liest man manche Kommentare und wissenschaftlichen Äußerungen, dann ergibt sich ein anderes Bild: Die junge Generation steht vielfach auf der Schattenseite der Gesellschaft, gehört oft zu den Verlierern der „Marktwirtschaft ohne Attribute“ – kurz: Die zitierten Schlagworte müssen vielen jungen Menschen wie Hohn erklingen. Die vorliegende Ausgabe von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ wollte daher der Befindlichkeit junger Menschen im östlichen Teil Europas in aller Behutsamkeit einmal nachspüren. Nicht exakte Analyse, sondern individuelles Zeugnis war angestrebt, und so sind die siebzehn Beiträge aus sechzehn Ländern auch sehr unterschiedlich ausgefallen. Wer die Texte liest, wird viele Parallelen zur Situation Jugendlicher in Deutschland und Westeuropa feststellen, aber auch erhebliche Unterschiede. Anregend sind die Beiträge allemal.
Eröffnet werden die Beiträge durch Alexandra Aničić, Mitarbeiterin des Jugendzentrums Simin Han bei Tuzla (Bosnien-Herzegowina). Ihr Beitrag spiegelt, ebenso wie der der Schülerin Branka Janković aus Rocevic (Bosnien-Herzegowina), Ängste, aber Hoffnungen junger Leute in diesem noch immer unter Kriegsfolgen leidenden Land wider. Ganz anders geartet sind die Ausführungen von Dalma Csirak Covaci, einer Sozialarbeiterin im rumänischen Satu Mare: Sie stellt ihre Lebenswelt vor, mehr noch, auch – besonders im Blick auf ihren Sohn – ihre Wünsche und Träume. „Stimmen der Jugend“, und zwar der Jugend Bulgariens, werden von der Englischlehrerin Vanya Gadelova in einer nüchternen Analyse vorgelegt. Hingegen äußern sich die Schwestern Marta und Vida Grković aus Zagreb (Kroatien) wiederum sehr persönlich über ihre Vorstellungen von Gott, Welt und auch Kirche.
Einen weiten Bogen schlägt Gleb Grosowskij, Diakon der Russischen Orthodoxen Kirche. Sein Bericht schildert nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern vermittelt auch einen Eindruck vom gesellschaftlichen Wandel in Russland und der Rolle, die die Kirche heute dort einnimmt. Ähnlich eindrucksvoll, aber noch emotionaler sind die Ausführungen von Gjergj Guri und Sonia Resuli über die Situation der Jugend Albaniens, einem Land der Extreme im Südosten Europas. Marie Kolmanova beschreibt ihren Weg des Glaubens in der Tschechischen Republik von der Kindheit im atheistischen System über die Umbrüche der neunziger Jahre bis zu den Problemen der Gegenwart, wo die Kirche um ihren Platz in der postmodernen Gesellschaft ringt. Ein Tag im Leben des Studenten Volodya Luzhnyak – das bedeutet einen Blick auf Familie, Freunde, Stadt, Geschichte und Zukunft eines jungen Mannes in der Westukraine. Violeta Nikolić und Rita Skriadaite, Studentinnen aus Serbien und Litauen, leben in Deutschland. Damit können sie Parallelen zwischen ihren beiden Heimaten ziehen und machen dabei überraschende Erfahrungen. Indrek Pekko (Estland) und Grażyna Piskorz (Polen) gehen von ihrem jeweiligen „Sitz im Leben“ aus und denken über sich und die Welt nach.
Die letzte Gruppe der Beiträge eröffnet der ungarische Jurist Dr. András Prekovits, der sich mit den Problemen der Jugend seiner Heimat auseinandersetzt. Theresia Rost, eine Schülerin aus Frankfurt (Oder), beschreibt mit Überlegungen zu Partnerschaft, Familie und Kirche ihre ganz persönliche Situation. Nino Tsamalaidse, eine junge Georgierin, schildert in einem Interview ihren Alltag, verbindet damit aber auch Gedanken über die Zukunft ihrer Heimat. „Jugend in Weißrussland“, verfasst von der Studentin Alena Usowa, beschließt den Kreis der Beiträge.
Dr. Christof Dahm