Die sowjetische Vergangenheit in den Augen der Jugend
In Russland zitiert man heute gern Puschkins Zeilen über die Liebe zum „heimischen Herd“. Aber verkünden kann man schließlich, was man will. Eine unansehnliche und schreckliche Vergangenheit ist in der Tat nur schwer zu lieben. Doch in dem Maße, in dem man die Liebe zum Vaterland beteuert, ersetzt man den „Herd“ auch durch Mythen. Konnte man vor einigen Jahren noch von einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit sprechen, so sieht man die Vergangenheit jetzt im wesentlichen als ein Reservoir von Bausteinen, mit deren Hilfe alte Mythen neu errichtet werden. Diese ganze Mythologie ist massiv auf die Jugend fokussiert.
Die heutige russische Regierung ist offenbar bestrebt, eine alte Formel aus der Breschnew-Ära zeitgemäß zu verpacken: „In unserer Geschichte gab es viel Tragisches, aber auch sehr viel Positives.“ Und diese Formel will sie nach Möglichkeit mit einem neuen Einheitsmythos verbinden, der alle zufrieden stellt und den man sowohl in die Gesellschaft als auch in den Geschichtsunterricht einbringen kann. Das Wesen dieses Mythos‘ liegt im Wort „normal“. Unser geschichtlicher Weg aber gilt deshalb als normal, weil es in der Vergangenheit anderer Völker ebenfalls Abscheuliches gegeben hat. Normal ist auch, dass unsere Menschen mit bloßen Händen, aber äußerst effizient die Gruben für hohe Bauwerke ausgehoben haben und dass man darauf stolz zu sein hat. Das heißt, die Aufgabe der Historiker besteht darin zu erklären, dass wir keine schlimmere Vergangenheit hatten als die anderen. Gerade so ziehen wir einen Normalbürger heran, der mit seiner Identität keine Probleme hat.
Das Rezept scheint einfach: Man besiegt die Krankheit mit Hilfe der Krankheit selbst. Man empfiehlt uns, die angebotene Definition eines nationalen Mythos‘ zu akzeptieren, wonach die Kaiserflagge neben der Sowjethymne etwas ganz Normales seien: In ihnen ist alles enthalten, und wir alle haben daraus ein Kompott bereitet. Das ist als Richtschnur zu verkünden.
Die Frage lautet aber doch: was für eine Richtschnur und für welchen Bürger? Das Wort „Demokratie“ wird von der Regierung jetzt überhaupt nicht mehr gebraucht, und so hört man in den ihr nahestehenden Massenmedien ständig die Wörter Patriotismus, starker Staat und Nationalstolz.
Das Bild der Vergangenheit, so suggeriert es uns die Regierung heute beharrlich, soll von jeder „Schale“ gereinigt sein. Und selbst wenn man vorerst noch nicht klar definiert, was unter dieser „Schale“ zu verstehen sei, sehen wir, mit welcher Bereitwilligkeit die Beamten die Signale einer Staatsmacht auffangen, die mit dem Thema der so genannten „patriotischen Erziehung“ zu spekulieren begann. Im Rahmen dieser Erziehung werden die politischen Repressionen der Sowjetzeit nur als eine peinliche Episode in der Geschichte heroischer Heldentaten und Ereignisse gewertet. Eine negative Einschätzung der Vergangenheit aber kann nur stören, wenn es darum geht, der Jugend den Stolz auf ihr Land anzuerziehen. Was den KGB, den NKWD und die übrigen unmittelbaren Organe des Terrors betrifft, so soll, wenn es nach dem Willen der Regierung geht, bei der historischen Bewertung ihrer Tätigkeit nicht von ihrem Anteil an den Massenrepressionen gesprochen werden, sondern von der ihrerseits wahrgenommenen Verteidigung höherer staatlicher Interessen.
Nicht umsonst enthüllt man zu Ehren des KGB-Vorsitzenden Jurij Andropow am Gebäude des Geheimdienstes eine Gedenktafel, nicht umsonst wird in der Duma von Zeit zu Zeit die Forderung nach einem Denkmal für Feliks Dserschinskij, den Gründer der Tscheka, laut. Der Gedanke, die historische Einschätzung der sowjetischen Vergangenheit einer Revision zu unterziehen, wurde bereits von höheren Beamten des Bildungsministeriums aufgegriffen, als sie dazu aufriefen, die Geschichtslehrbücher durchzusehen und das Negative daraus zu entfernen (lies: und somit die ohnehin ziemlich oberflächliche Behandlung der politischen Repressionen). Die tragische und tiefgreifende Erfahrung einiger Generationen wird der Idee einer „nationalen Konsolidierung“ geopfert. Man kann auch auf die Archive hinweisen, die den Historikern verschlossen bleiben, und auf die Jubiläumsfeiern des Komsomol und des KGB. In den staatlichen Geschichtsmuseen sieht man nichts von den Repressionen und Kollektivierungen, und die Planung für die 60-Jahr-Feier des Sieges sieht genauso aus, als wäre sie vor 30 Jahren verfasst worden.
Was haben die Historiker und die gesellschaftlichen Kräfte, die eine solche Kehrtwendung des gesellschaftlichen Bewusstsein nicht wollen, dem entgegenzusetzen? Auf uns ruht der in dieser Hinsicht besonders anfechtbare Blick der Jugend, die sich offenbar sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite radikalisiert (davon zeugen die letzten soziologischen Umfragen, die von einem Anwachsen der nationalistischen Stimmung, der Fremdenfeindlichkeit, des Antisemitismus und von einem positiven Verhältnis zu Stalin sprechen usw.).
Die Gesellschaft „Memorial“ führt jetzt schon zum sechsten Mal den Wettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“ durch. Den Gedanken, einen Wettbewerb für die älteren Klassen zu organisieren, gibt es schon recht lange. Ein solcher Wettbewerb wird in der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe der Körber-Stiftung schon seit vielen Jahren durchgeführt. Vor einigen Jahren begann die Organisation „Karta“, die in Polen sehr eng mit „Memorial“ zusammenarbeitet, einen ähnlichen Wettbewerb durchzuführen. Der Versuch der Deutschen und der Polen erschien uns besonders interessant deshalb, weil sich die dortigen Gründer eine Aufgabe stellten, die auch uns äußerst wichtig erscheint: die jungen Menschen an die Erforschung des Alltags in einer totalitären und nachtotalitären Gesellschaft heranzuführen.
Nach unserer Auffassung sollte das Ziel des „Memorial“-Wettbewerbes vor allem darin bestehen, dass auch unsere Schüler der älteren Klassen sich mit der Geschichte des Sowjetalltages befassen, der mit dem Weggang der „letzten“ Zeugen verschwindet. Wir hatten keine präzise Vorstellung von dem, was die jungen Menschen in den russischen Regionen bezüglich dieser „vergehenden Natur“ denken, aber es war klar, dass sie sich in einem unglaublich widersprüchlichen historischen Raum befinden. Wir stellten uns vor, dass die Schüler sich dieses Phänomen des sowjetischen Lebens bewusst machen können, wenn sie damit beginnen, selbst die Zeugen zu befragen, in den Archiven herumzustöbern, alte Zeitungen zu lesen, wenn sie sich beim Verfassen der Wettbewerbsarbeiten in einem gewissen Ausmaß mit selbständiger forscherischer Tätigkeit beschäftigen können. Dazu kommt, dass die 1989 gegründete Gesellschaft „Memorial“ eine ihrer Hauptaufgaben nicht nur in der Bewahrung des historischen Gedächtnisses sah (und dieses nicht nur in Bezug auf Repressionen und Menschenrechtsverletzungen), sondern vor allem auch darin, bei der Jugend die Entwicklung eines historischen Bewusstseins zu fördern. Denn ernsthaft kann man über die Entwicklung eines solchen Bewusstseins nur dann reden, wenn es nicht von außen kommt. Der junge Mensch muss den Fakten unmittelbar begegnen, sie zu verstehen versuchen und auf die von ihm selbst gestellten Fragen Antworten zu finden. Wie es scheint, gibt der Wettbewerb den Jugendlichen eine solche Möglichkeit.
In den sechs Jahren seit Bestehen des Wettbewerbs wurden im „Memorial“ schon mehr als 15.000 Arbeiten gesammelt, an denen 25.000 Menschen in unterschiedlicher Weise beteiligt waren, eingeschlossen die Verwandten, die Lehrer, unsere Koordinatoren und die freiwilligen Helfer. (Die Materialien dieser Wettbewerbe füllen bereits fünf Bände, die über ganz Russland verbreitet wurden). Die Wettbewerbsteilnehmer stießen auf Unikate, die der Aufmerksamkeit professioneller Historiker entgangen waren, in den örtlichen Archiven verstaubten oder auf wunderbare Weise in den Familien erhalten geblieben waren. Tausende und Abertausende Seiten wurden gefüllt mit den lebendigen Erinnerungen ehemaliger Kulaken und deren Familienmitglieder, von Häftlingen und Verbannten, Soldaten des Weltkrieges, des Afghanistan- und des Tschetschenienkrieges und vieler, vieler anderer Zeugen und Teilnehmer der historischen Ereignisse.
Gewiss, das Hauptziel des Wettbewerbs bestand, wie schon oben gesagt, darin, in den Heranwachsenden ein historisches Interesse zu erwecken; aber dieses umfangreiche, aufklärerische Projekt von „Memorial“ hat auch noch eine andere Seite: Dank dieses Wettbewerbs wollen und können wir erfahren, was unsere Schüler über dieses oder jenes historische Ereignis denken. Wir können in Erfahrung bringen, wie das historische Gedächtnis bei den verschiedenen Generationen der Russen funktioniert, inwieweit sich eine Verbindung zwischen diesen Generationen erhalten hat, wie dieses Gedächtnis zu lokalisieren ist, was zu einer Tatsache des kulturellen Gedächtnisses wurde und was nicht, welches die grundlegenden Mythen sind, die von den Schülern wiedergegeben werden, welches ihre Vorstellungen von der Zukunft sind, vom Patriotismus und was davon in ihrem Bewusstsein eigen und was fremd ist, national und international. Deshalb war es sehr wichtig, den Wettbewerb von Anfang an in ganz Russland durchzuführen. An ihm nehmen die älteren Schüler aus hundert Städten und Dörfern aus den verschiedenen Regionen Russlands teil.
Durchgängiges Thema des Wettbewerbs ist die Geschichte des bäuerlichen Russlands. Wenn man berücksichtigt, dass im Hinblick auf die Vernichtung des russischen Dorfes – Russland war bis 1917 ein zu 80 Prozent bäuerliches Land – nur sehr wenige schriftliche Quellen, in der Hauptsache aber die Erinnerungen daran aufbewahrt wurden, so kam bei dem, was die Wettbewerbsteilnehmer zustande brachten, eine historisch äußerst wichtige und „erwachsene“ Aufgabe heraus: In „letzter Minute“ konnten sie noch die mündlich tradierte Geschichte festhalten und zu dem gelangen, was in den „Kellern des Gedächtnisses“ lagerte.
Die Arbeiten des Wettbewerbs sind sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich in ihrer Thematik: Die einen schrieben über die eigene Familiengeschichte, andere erzählten von einem irgendwie interessanten Schicksal. Sie schrieben über Repressionen und Kollektivierung, über den Weltkrieg und über unbedeutende, kleine Kriege, sie erzählten die Geschichte ihrer Stadt, ihres Dorfes, eines örtlichen Denkmals oder Friedhofes, eines zerstörten Kirchen- oder Klostergebäudes. Sie unterscheiden sich auch nach ihrer Gattung: Manchmal sind es wissenschaftliche Untersuchungen, manchmal ist es nur eine historische Episode, manchmal eine ganze Familiensaga ... Sie unterscheiden sich auch nach den von den Schülern benutzten Quellen: Persönliche Tagebücher oder trockene Statistiken, mündliche Erinnerungen und Memoiren oder ein ganz gewöhnlicher Satz sowjetischer Dokumente: vom Gewerkschaftsbuch bis zu den Ehrenurkunden oder Dokumenten aus den örtlichen Archiven. In einigen Arbeiten werden Familienlegenden und Überlieferungen wiedergegeben, andere sind betont faktenorientiert. Aber bei der Lektüre bekamen wir das Gefühl, als versenkte man uns in einen gewaltigen Schmelztiegel der russischen Geschichte, wo sich sowohl alle sozialen Schichten als auch die unterschiedlichsten Nationalitäten vermischten.
Als wir unsere Schüler dazu aufriefen, sich der Familiengeschichte zuzuwenden, stellten wir uns auch die Aufgabe, die abgerissenen Fäden der Wechselbeziehung zwischen den Generationen wiederherzustellen. Wir wollten sie dazu aufrufen, bei der Erforschung ihrer familiären Wurzeln nicht nur darauf zu achten, in welcher Lage sich ihre nächsten Verwandten befanden, als sie gegen ihren Willen aus ihren Geburtsorten gerissen wurden und unter Fremden oft in schwierige Situationen gerieten, sondern diese Bedingungen irgendwie auf jene zu projizieren, die sich im heutigen Russland in einer ähnlichen Lage befinden: die Flüchtlinge und Zwangsaussiedler aus Tschetschenien, Aserbaidschan oder aus den Republiken Mittelasiens. Für die russischen Schüler, die auf den Trümmern des Sowjetimperiums leben, ist es heute gar nicht so leicht, tolerant zu sein. Wir glauben aber, dass sie zu dieser Toleranz gegenüber Fremden und Zugereisten gelangen können, wenn sie ihre eigene Familiengeschichte erforschen. Eine solche Toleranz stellt bekanntlich ein Gegengift gegen den Chauvinismus dar, der eines der Hauptprobleme für die heutige russische Jugend ist.
So treten in den Arbeiten die Gestalten derer auf, die keine Erinnerungen hinterließen und nicht hinterlassen konnten, die an der Geschichte nur in den trockenen Ziffern statistischer Erhebungen „teilgenommen“ haben. Sehr viele Wettbewerbsteilnehmer entscheiden sich für das Thema Krieg. Und sie schreiben nicht nur über den hauptsächlichen Krieg in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch über andere, kleine Kriege. Das hängt wahrscheinlich mit der Allgegenwart des Krieges im heutigen russischen Leben zusammen. Es stellte sich heraus, dass der heutige „kleine“ Krieg für die Heranwachsenden von größerer Bedeutung ist als für viele Menschen der älteren Generation, denen eine Einberufung und der Abtransport an „heiße Punkte“ nicht mehr droht. Vielleicht hören die heutigen Schüler deshalb wieder mit solcher Aufmerksamkeit den Erzählungen zu, die mit vergangenen Kriegen verbunden sind. Es sind keine Marschalls- oder Generalskinder, die uns schreiben, sondern die Kinder des bäuerlichen Russland. Unter den Helden unserer Untersuchungen gibt es nur wenige Militärbefehlshaber, ganz selten mal ein Offizier und einmal sogar ein Frontchauffeur. Ungeachtet dessen kommt in den Brieffragmenten und den Erzählungen der überlebenden Soldaten das niedrige Niveau des Krieges zum Ausdruck. Das ist meines Erachtens einer der Haupterfolge des Wettbewerbs. Der Krieg auf diesem Niveau sieht absolut nicht so aus, wie er in den Schulbüchern und in der sowjetischen Publizistik dargestellt wird. Hier gibt es keine Erzählungen über Freiwillige: Ihre Großväter und Urgroßväter wurden einberufen – und zogen los. Man warf sie in die Hölle, sie gaben ihr Leben. Aus den Arbeiten erfährt man hinreichend, wer wo umkam: Dnjeprschleife, Stalingrad, Kursker Bogen – man könnte eine Schlachtenkarte erstellen. Oder die Gefangenschaft, ganz am Anfang des Krieges, 1942 ...
Die Mehrzahl der Helden in den Arbeiten erlitt ein schweres Kriegsschicksal: Dieser Groß- oder Urgroßvater befand sich in einer Strafkompanie, jener in Gefangenschaft. Überhaupt wird das Schicksal der gewöhnlichen Sowjetfamilie aus solchen Tiefen offenbar: Erst entkulakisierte und verbannte man, danach gab’s eine kleine Ruhepause, und dann kam auch schon der Krieg. Der Ernährer kam um, und die Urgroßmutter hatte fünf Münder zu stopfen. Und, natürlich, die Katharsis, die das Volk nach dem Krieg erwartete: Sie hatten doch tatsächlich gehofft, nach dem Krieg würden die Kolchosen abgeschafft – es passierte gar nichts. Wieder Hunger und Lebensmittelkarten. Zu einer Erleichterung kam es praktisch nur während der Breschnew-Ära ... Das ist auch so – und wir wundern uns noch über die Nostalgie nach den siebziger Jahren ...
In vielen Arbeiten fühlt man einen vollkommen anderen, weitaus freieren Blick nicht nur auf die Seinen, sondern auf Fremde, zum Beispiel in den Arbeiten, die den Schicksalen der während des Krieges nach Deutschland Verschleppten gewidmet sind. Sehr wertvoll sind in dieser Hinsicht die Arbeiten, die sich wahrhaftig mit den tragischen Seiten unserer Vergangenheit dort auseinandersetzen, wo sie mit der Besetzung Deutschlands verbunden sind.
Das Gedächtnis ist eine sehr komplizierte und widersprüchliche Quelle, in der die Mythen sich mit den Tatsachen verflechten. Und natürlich stoßen wir in vielen Arbeiten auf Mythen – auf sehr alte und auf reichlich frische Mythen, auf äußerst standhafte und auf solche, die sich eben erst herausgebildet haben. Ein besonders wichtiges Element ist auch das Bestreben unserer Teilnehmer, diese Mythen nicht nur aufzuzeichnen und wiederzugeben, sondern auch ihre Entstehungsgeschichte zu analysieren: auf staatlicher Ebene und auf dem familiären Lebensniveau. Unter den eingesandten Arbeiten erscheinen jetzt auch solche, in denen sich die Autoren nicht nur für die in diesen Jahren vollbrachte „Beseitigung der weißen Flecke“ interessieren, sondern auch den Ehrgeiz besitzen, den Mechanismus von Mythenbildungen zu verstehen. Solche Arbeiten, die mit historischer und menschlicher Ehrlichkeit ausgeführt wurden, machen ganz besonders Freude. Denn die vom Staat aufbewahrten Dokumente sind ebenfalls ein „Gedächtnis“ eigener Art. So handelt es sich bei den in den Archiven aufbewahrten, gefälschten Verhörprotokollen der Angeklagten und Zeugen und den staatlicherseits ausgegebenen, gefälschten Totenscheinen ebenfalls um Dinge, die vom System „zur Erinnerung“ an die von ihm vernichteten Menschen übrig gelassen wurden.
Ja, viele unserer Wettbewerbsteilnehmer machten uns mit ihrem Blick, ihrem Verhältnis zur sowjetischen Geschichte bekannt und nahmen sich die Frage vor: Warum und wieso machte man Dinge, die ihrer Ansicht nach völlig unsinnig waren. Warum siedelte man fast die ganze große Familie des Urgroßvaters aus, richtete sie zugrunde und zerstörte eine gesunde Wirtschaft, warum deportierte man hunderttausend Russlanddeutsche, warum schickte man Tausende von Menschen nach ihrer Gefangenschaft in Deutschland in den GULAG? In den besten Arbeiten gelingt den heutigen Schülern etwas, das man sich früher nicht vorstellen konnte: einerseits mit einer offenkundigen Anteilnahme, Interesse und dem Verständnis dafür, was ihre Wurzeln sind, auf unsere Vergangenheit und auf die Vergangenheit ihrer Familien zu blicken, andererseits die Vergangenheit nüchtern und objektiv zu bewerten.
Man beschuldigt uns manchmal, die Teilnahme am Wettbewerb führe unsere Schüler dahin, nur die schwarzen Seiten unserer Geschichte zu erforschen. Gewiss, die Vergangenheit Russlands offenbart sich ihnen bisweilen sehr schwer, fast unerträglich: die Entkulakisierung, der GULAG, der Krieg ... Aber die Schüler versuchen nicht, sich mit Abscheu abzuwenden oder umgekehrt die Vergangenheit zu idealisieren, sie wollen verstehen, wie ihre Nächsten trotzdem lebten und überlebten. Gerade die Erziehung eines solchen Verhältnisses zur Vergangenheit ist für die Historiker der Gesellschaft „Memorial“ heute eine der wichtigsten Aufgaben.
Aus dem Russischen von Zaira und Friedemann Kluge.