Visa-Affäre: Das System programmiert den Missbrauch
In der Visa-Affäre wird argumentiert, Deutschland wollte sich als modernes und weltoffenes Land präsentieren. Die Folge war eine liberale, freizügige Politik der Visa-Vergabe unter dem Motto „Im Zweifel für die Reisefreiheit“. Missbrauch sei dagegen mit den „Instrumenten“ getrieben worden, den sogenannten Reiseschutzpässen und der Reisebüroregelung.
Die deutsche Praxis der Visa-Erteilung war und ist keineswegs freizügig. Schauen wir auf die Zahlen: Die Ukraine ist mit etwa 600.000 Quadratkilometern weit größer als Deutschland. Dort leben fast 50 Millionen Menschen. Aber die einzige diplomatische Vertretung, die Visa für Deutschland ausstellt, ist die deutsche Botschaft in Kiew. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik arbeiten fünf ukrainische Konsularabteilungen, wo deutsche Bürger ein Visum für die Ukraine beantragen können.
Wie sieht die Prozedur im einzelnen aus?
In der Regel muss der ukrainische Antragsteller dreimal bei der deutschen Botschaft in Kiew vorstellig werden. Erstens, nach langem Schlangestehen, um einen Termin für die Abgabe der Antragsdokumente zu erhalten. Zweitens, um den Antrag persönlich abzugeben. Und drittens, um das Visum oder die Absage entgegenzunehmen. Außerdem benötigt er eine Einladung aus Deutschland.
Was bedeutet dies beispielsweise für einen ukrainischen Bürger aus der Westukraine, sagen wir aus Lemberg?
Es bedeutet, dass er insgesamt 3600 Kilometer zurücklegen, unter Umständen mehrere Tage Urlaub nehmen und die Reise- und Aufenthaltskosten in Kiew bezahlen muss, um ein Deutschland-Visum oder aber eine Absage ohne Angabe von Gründen zu erhalten.
Sie sprechen von Absagen, also der Verweigerung des Visums. Hier entsteht eher der Eindruck, dass Visa massenhaft, quasi an jedermann, vergeben wurden.
Natürlich gab es Absagen, in der Regel ohne jegliche Angabe von Gründen. Selbst Wissenschaftlern, Künstlern oder gewöhnlichen Geschäftsleuten wurden Visa verweigert. Eine solche Prozedur führt geradezu zwangsläufig zur Suche nach anderen Wegen, um an ein Visum zu kommen.
Andere, das heißt illegale Wege. Gab es den Missbrauch erst seit dem sogenannten Volmer-Erlass?
Missbrauch gab es von Anfang an. Schon 1993/1994 unterhielten Mitarbeiter der deutschen Botschaft Bankkonten in Deutschland, auf die sie sich Gelder für ihre Dienste einzahlen ließen. Der Missbrauch ist sozusagen systemimmanent, unter anderem durch die oftmals entwürdigende Prozedur der Visa-Erteilung. Die Leute im postsowjetischen Raum – nicht nur in der Ukraine – sind von klein auf daran gewöhnt, wenn nötig rechtliche oder bürokratische Hürden zu umgehen, um überhaupt existieren zu können. Daher ist Korruption an der Tagesordnung, und das weiß man natürlich auch in der deutschen Botschaft. Es gab aber auch Fälle, dass Antragsteller von sich aus auf das Visum verzichteten, um sich nicht weiterhin taktlosen und demütigenden Fragen des Botschaftspersonals auszusetzen. Mir ist konkret der Fall eines Historikers aus Lwiw bekannt, der von einer seriösen deutschen Stiftung eingeladen worden war.
In Deutschland entsteht der Eindruck, dass ausgestellte Visa vor allem zu illegaler Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel genutzt wurden. Gegen Außenminister Fischer wurden sogar Strafanzeigen wegen Beihilfe zum Menschenhandel gestellt.
Bei mir entsteht dagegen der Eindruck, dass die sogenannte Visa-Affäre in Deutschland vor allem für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert wird. Deshalb werden die Dinge zum Teil auch dramatisiert. Natürlich gibt es illegale Migration, Schwarzarbeit und Prostitution. Die Ursachen liegen aber nicht in einer liberalen, sondern eher in der restriktiven Vergabe-Praxis. Und natürlich auch in den von Joschka Fischer genannten „Instrumenten“, vor allem den Reiseschutzpässen. Wenn ein normaler ukrainischer Bürger legal an ein Visum nicht herankommt, um zum Beispiel Angehörige zu besuchen, dann wird er sich ein Visum kaufen. Die Preise übersteigen zuweilen die 1000-Dollar-Grenze. Viele müssen sich dieses Geld leihen, auch in der Hoffnung, diese „Investition“ dann durch Schwarzarbeit wett zu machen. So entsteht der Eindruck, die meisten ukrainischen Antragsteller seien potenzielle Schwarzarbeiter oder Prostituierte.
Die deutsche Visa-Praxis, aber auch die Praxis anderer EU-Staaten, öffnet in erster Linie kriminellen Geschäftemachern und Schleusern die Tore, aber auch korrupten Bediensteten, die für die Visa-Vergabe zuständig sind. Und so kommt die Lawine ins Rollen.
Im Jahr 2001 sollen in Kiew etwa 300.000 Visa ausgestellt worden sein. Öffnet eine so große Anzahl nicht illegalen Migranten die Tore?
In der Ukraine leben knapp 50 Millionen Menschen, sehr viele davon unterhalb der Armutsgrenze. Es bleibt zu hoffen, dass die neue ukrainische Regierung nach der orangenen Revolution – auch mit entsprechender Unterstützung des Auslands – die notwendigen Reformen in Gang setzt, um diese Situation zu ändern. Inzwischen gibt es aber neben den wenigen ultrareichen Oligarchen auch eine durchaus wohlhabende Mittelschicht, etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Leute können sich eine rein touristische Reise nach Westeuropa sicherlich leisten und sind, um im Bürokratendeutsch zu bleiben, durchaus rückkehrwillig, da sie ihre Perspektive in der Ukraine sehen. Dies relativiert natürlich die genannte Zahl von bis zu 300.000 Visa jährlich.
Durch die Visa-Affäre sind die Ukrainer schon jetzt in gewisser Weise stigmatisiert. Welche weiteren Auswirkungen erwarten oder befürchten Sie?
Es ist zu befürchten, dass die Bewilligungs-Praxis noch restriktiver wird. In der Ukraine spricht man schon jetzt von einer „Festung Europa“, die an der ukrainisch-polnischen Grenze beginn, also an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Verschärfung der Bestimmungen mag den Missbrauch zwar eindämmen, diese Wirkung wird aber nur vorübergehend sein.
Es gibt nun aber unbestreitbar Probleme. Wie sollten sie gelöst werden?
Zuallererst durch eine sachliche, ideologiefreie Behandlung dieses Problems ohne gegenseitige Schuldzuweisungen. Fischers liberaler Ansatz, sofern er tatsächlich gewollt war, ist im Grunde richtig. Die Ukraine und die Menschen, die dort leben, müssen eine reale Perspektive erhalten, auch hinsichtlich der Freizügigkeit. Dazu braucht man ein leichter zugängliches (mit mehreren regionalen Konsularabteilungen) und transparentes System, frei von jeglicher Willkür bei der Erteilung oder Verweigerung eines Visums. Dies würde die Beschaffungs-Praxis und ihre Folgen weitgehend entkriminalisieren. Notwendig wären außerdem wären mehr Information und Aufklärung, um den Menschen schon dort die Illusion zu nehmen, Deutschland sei ein Schlaraffenland, in das man nur gelangen müsse, um in Wohlstand zu leben. Diese Aufklärung könnte auch in Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen betrieben werden; Information und Aufklärung auch über mögliche Folgen illegaler Migration, die wir als Caritas Ukraine aus unserer Arbeit nur allzu gut kennen.