Mstislaw Rostropowitsch – Mensch und Musiker

(Porträt)
aus OWEP 2/2005  •  von Friedemann Kluge

Dr. Friedemann Kluge ist Slawist und Publizist und lebt in Berlin.

In Musikerkreisen wird das vergangene Saeculum gern als „Jahrhundert der großen Geiger“ bezeichnet, aber mehr noch ist es wohl das Jahrhundert der großen Cellisten – nicht, weil es ihrer so viele gab, sondern weil sie trotz ihrer im Vergleich zu den Violinisten geringen Anzahl einige der bedeutendsten Musiker überhaupt hervorgebracht haben. Und das, obwohl ausgerechnet Antonín Dvořák das Violoncello in jungen Jahren einmal despektierlich als ein „Stück Holz“ charakterisiert hat, „das oben kreischt und unten brummt“ – nicht gerade ein Passierschein für virtuosen Weltruhm!

Doch dann trat jener legendäre Katalane Pau (Pablo) Casals (1876-1973) auf den Plan, dessen oft recht eigenwillige Einspielungen der Bach-Suiten aus den dreißiger Jahren auch heute noch Prickel über den Rücken jagen. Ihm ebenbürtig zu werden versprach die tragisch früh verstorbene Jacqueline du Pré (1945-1987), deren Aufnahmen vor allem der Beethoven-Sonaten Ewigkeitswert besitzen. Schließlich Cassado, Fournier, Geringas, Kliegel, Yo-Yo Ma, Maisky, Pergamenschikow, Piatigorsky, Schiff, Starker, Tortelier – und eben der häufig als „bedeutendster lebender Cellist“ apostrophierte Rostropowitsch, der „Gefühlsvirtuose“ (Peter Cossé), dem die Musikliebhaber in aller Welt unisono einen „lyrischen Ton“, einen „kernigen“, einen „mächtigen“, einen „voluminösen“ Celloklang und einen „markanten Rhythmus“ bescheinigen. 1968, mitten im Kalten Krieg, tauchte er in der „Frontstadt“ Berlin auf, was von Kennern damals als Sensation gewertet wurde. Heute ist so etwas kaum noch vorstellbar, aber ein solcher Auftritt im Westen, so streng musikalisch er auch deklariert gewesen sein mochte, enthielt zu jener Zeit immer auch eine politische Botschaft. Mit Prokofiew (1891-1953) hat er in gegenseitiger kritischer Fruchtbarkeit zusammen gearbeitet, mit seinem Lehrer am Moskauer Konservatorium, Dmitrij Schostakowitsch (1906-1975), den man als einen „inneren Emigranten“ des Sowjetsystems bezeichnen könnte, verband ihn eine enge Freundschaft. In der Berliner Jesus-Christus-Kirche spielte er zusammen mit Karajan und den Berliner Philharmonikern eben jenes Werk ein, das in seiner Einzigartigkeit beinahe zu einem Synonym für „Cellokonzert“ schlechthin geworden ist und das ausgerechnet aus der Feder jenes Mannes stammt, der diesem Instrument seine verbale Zuneigung so harsch versagt hatte: Antonín Dvořák.

Gleichwohl, noch war man mehr oder weniger unter sich: Musikausübende, Musikkenner, Musikkritiker. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde das Phänomen Rostropowitsch erst 1978 bekannt, als die sowjetische Staatsmacht den Cellisten mit seiner Frau Galina Wischnewskaja während einer Auslandstournee wegen ihres jahrelangen Eintretens für den Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn kurzerhand ausbürgerte. Die Wut der Genossen war aber mit der Vertreibung der Sünder aus dem sozialistischen Paradies noch nicht besänftigt. Im selben Jahr wurde Rostropowitsch die Aberkennung aller staatlichen Auszeichnungen hinterher geworfen. „Als ich weggehen musste“, so erinnert sich der Cellist, „dachte ich: Mein Leben ist nun vorbei. Es war der tragischste Augenblick in meinem ganzen Leben. Heute denke ich, es war auch ein Gottesgeschenk. Wäre ich nicht weggegangen, hätte ich nicht Picasso, Chagall, Charlie Chaplin oder Henry Moore kennen gelernt“.

Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch wurde am 27. März 1927 als Sohn des Cellisten und Casals-Schülers Leopold Witoldowitsch Rostropowitsch in der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, geboren. Seine Mutter war Pianistin. Zunächst erlernte er – mit vier Jahren – das Klavierspiel und entpuppte sich bald als musikalisches Wunderkind, das im Alter von 13 Jahren erstmals öffentlich als Cellist auftrat: mit einem Cellokonzert von Camille Saint-Saëns. Später studierte Rostropowitsch am Moskauer Konservatorium neben Klavier und Cello auch Dirigieren, was ihm in der Emigration zugute kam: Von 1978 bis zur Saison 1995/96 war er Leiter und Chefdirigent des Washingtoner National Symphony Orchestra, als solcher freilich nicht ganz so unumstritten wie als Cellist. Sogar als Operndirigent konnte sich Rostropowitsch einen Namen machen. So entwickelte er den Ehrgeiz, beispielsweise Mussorgskijs große Oper „Boris Godunow“ in allen drei Fassungen (d. h. in der Urfassung sowie in den Bearbeitungen von Rimskij-Korsakow und Schostakowitsch) zu dirigieren. In Wien leitete er 1995 die viel beachtete Uraufführung von Alfred Schnittkes Oper „Gesualdo“ und 1996 die Premiere von Benjamin Brittens „Peter Grimes“. Nach seiner Ausbürgerung nahm das Ehepaar Rostropowitsch die schweizerische Staatsbürgerschaft an und ließ sich in Washington und in Paris nieder. „Meine erste Wohnung habe ich in Paris eingerichtet. Ich habe alte russische Möbel und russisches Porzellan gekauft. In Frankreich haben sie ja alles Russische. Mein neues Zuhause war wie eine Insel. Und ich habe ein Glas Wodka getrunken und gesagt: Das ist mein Land.“ Und er fügt hinzu: „Ich denke daran, was mir Schostakowitsch und Prokofiew für mein musikalisches Leben geschenkt haben. Darum mache ich alles für Russland.“ Mit den „Geschenken“ meinte er nicht nur die Musik im allgemeinen: Beide Komponisten schrieben Violoncello-Kompositionen speziell für ihn (wie übrigens auch Leonard Bernstein, Benjamin Britten, Pierre Boulez und Alfred Schnittke).

Mit dem internationalen Ruhm kam auch ein gewisser Wohlstand, der dem Virtuosen ein starkes Engagement bei caritativen Projekten jeder Art ermöglichte. In Deutschland gründete er eine Stiftung für den Cellisten-Nachwuchs. In Argentinien engagierte er sich für die Instandsetzung eines Kinderkrankenhauses. In Moskau stiftete er die erste „Kinderklinik auf Rädern“. Pensionierte Musiker des Moskauer Bolschoi-Theaters dürfen sich über Zuwendungen aus einem von ihm gegründeten Pensions-Fonds freuen, den er mit seinen durchaus stattlichen Gagen füllt. Seit 1998 ist er zudem Friedens-Botschafter der UNESCO. Der deutsche Musikforscher und Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt warf in diesem Zusammenhang alle wissenschaftliche Contenance von sich und geriet in eine fast pathetische Schwärmerei: „Der Geist von Schillers und Beethovens ‚Alle Menschen werden Brüder‘ hat in Mstislaw Rostropowitsch seine moderne Verkörperung gefunden“.

Die Auflösung der kommunistisch geprägten Strukturen im östlichen Europa ließ auch den Bannfluch über Rostropowitsch allmählich dahinschmelzen: Im Februar 1989 wurde er wieder in den sowjetischen Komponistenverband aufgenommen, im Januar 1990 gewährte man ihm auch wieder die russische Staatsbürgerschaft. Zwischendurch war er, im November 1989, einen Tag nach der Maueröffnung, nach Berlin gereist, um direkt vor einem Grenzübergang Bach zu interpretieren. Auf die Frage, was dessen Solosuiten für Violoncello für einen Cellisten bedeuten, antwortete Rostropowitsch einmal: „Dasselbe wie die Bibel für den Gläubigen ... Bach – das Brot für die Welt.“ Und sogar die Ehrungen brachen wieder über ihn herein – diesmal (1993) als, so der Titel, „Verteidiger der Freiheit Russlands“. Es versteht sich von selbst, dass der Künstler nach der osteuropäischen Wende auch wieder in seiner Heimat musiziert. Und Dvořák? Sein Konzert für Violoncello und Orchester h-moll, op. 104, kennt einfach keinen besseren Interpreten als diesen Mann mit dem unaussprechlichen Namen! Eine Referenzaufnahme dieses Konzertes liegt vor in der erwähnten Berliner Einspielung mit Karajan aus dem Jahre 1968. Demgegenüber zeichnen sich jüngere Aufnahmen lediglich hier und da durch die seither erheblich verbesserte Aufnahmetechnik aus.