Religion als Konfliktpotenzial im jugoslawischen Zerfallsprozess und während des Krieges in Bosnien und Herzegowina
Mit der Paraphierung des Abkommens von Dayton (Ohio) beendeten die Präsidenten Bosniens, Kroatiens und Serbiens am 21. November 1995 unter Druck und Vermittlung der USA den dreieinhalbjährigen Krieg (1992-1995) in Bosnien und Herzegowina. Ob der bevorstehende zehnte Jahrestag des Abschlusses des Friedensvertrags allerdings auf ein größeres Interesse und Medienecho in Deutschland stoßen wird, darf bezweifelt werden, ist doch Bosnien und Herzegowina weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Denn in einer Zeit des fröhlichen Aktualitätsterrors will niemand mehr mit dem Balkan etwas am Hut haben – wie Rupert Neudeck, der Gründer von Cap Anamur, in seiner Laudatio auf den bosnischen Schriftsteller Dževad Karahasan zur Verleihung des „Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ 2004 anmerkte –, obwohl Europa noch so viel von Bosnien lernen könnte: „Bosnien ist das Land Europas ..., in dem das Experimentum Crucis gelehrt und gelernt werden kann ... Das ist der Lehr- und Lernboden für den Wettkampf und friedlichen Austausch der Religionen.“ Wie das Gros der Forschung sieht Neudeck den Krieg in Bosnien und Herzegowina einerseits nicht als Religionskrieg an, da er weder primär aus Feindschaft zwischen den Glaubensgemeinschaften motiviert war noch explizit religiösen Zielen – etwa der Konversion von Andersgläubigen – diente.1 Andererseits betont er aber die religiösen Dimensionen des Konflikts, sodass sich die Religionsgemeinschaften fragen müssen, wie sie sich dem Experimentum Crucis gestellt haben: Haben sie sich für einen friedlichen Austausch der Religionen engagiert und sich um eine Annäherung der Konfliktparteien bemüht oder waren sie doch so sehr in die innere Dynamik des Konflikts involviert, dass von ihnen kaum friedensfördernde Impulse ausgingen?
Religion als nationsbildender Faktor
Im südslawischen Raum spielte das Phänomen der „Konfessionsnation“ (Emanuel Turczynski) bei der Herausbildung und Entstehung moderner Nationen im 19. und 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Die nationale Differenzierung von Kroaten, Serben und bosnischen Muslimen/Bosniaken basierte nämlich nicht primär auf sprachlichen Unterschieden, sondern auf konfessionellen Merkmalen. Diese enge Verbindung von religiöser und nationaler Identität ist ein Erbe der osmanischen Herrschaft, unter der die Bevölkerung nach ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit in Muslime und Nicht-Muslime in verschiedene Millets, die neben religiösen auch rechtliche, administrative und wirtschaftliche Aufgaben erfüllten, eingeteilt wurde.2 In Bosnien und Herzegowina spaltete sich somit „durch das Prisma der Religionszugehörigkeit die ‚gemeinsame‘ Geschichte zuerst in zwei (eine muslimische und eine christliche), dann in drei Geschichten (eine muslimische, eine katholische und eine orthodoxe Geschichte) auf.“3 Im Zeitalter der „nationalen Wiedergeburt“ wurden die religiösen Kategorien schrittweise in nationale transformiert, sodass es zur Identifikation der kroatischen Nation mit dem Katholizismus und der serbischen Nation mit der Orthodoxie kam. Daher verstanden und verstehen sich die beiden Kirchen auch heute noch als Hüterinnen der jeweiligen nationalen Traditionen und Identitäten. Die muslimische Nationsbildung hinkte lange Zeit der serbischen und kroatischen hinterher und war immer wieder Auslöser für heftige und ideologisch geprägte Kontroversen. Die Existenz einer muslimischen Nation wurde von serbischen und kroatischen Wissenschaftlern (und kirchlichen Vertretern) mit der These bestritten, dass es sich bei den Muslimen in Wahrheit um islamisierte Serben bzw. Kroaten handelte. Um solche Vereinnahmungsversuche und religiöse Konnotationen zu vermeiden, wurde 1993 von einer „Allbosniakischen Versammlung“ die nationale Bezeichnung Muslime (Muslimani), die von der religiösen Bezeichnung nur durch Großschreibung zu unterscheiden war, durch Bosniaken ersetzt.
Als strukturelles Identitätsmerkmal der nationalen Gruppen mussten die Religionsgemeinschaften daher von jedem national verstandenen Konflikt mitbetroffen sein bzw. in ihn involviert sein: „This, then, is a structural, unavoidable role that religion plays, and in so far there are ethnic conflicts in the Balkans, they inevitably have a religious dimension.“4 Dabei muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass es im Zuge von Modernisierungsprozessen und durch die Religionspolitik der Kommunistischen Partei, die auf eine Marginalisierung aller drei Religionsgemeinschaften zielte, nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Rückgang der religiösen Orientierungen bei der Bevölkerung kam. Religionssoziologische Studien belegen, dass Anfang der achtziger Jahre nur noch die Hälfte der Bevölkerung an Gott glaubte und regelmäßig religiöse Praktiken ausübte. Während auf der einen Seite die geringe Religiosität im Vorfeld des Krieges eine Deutung des Konflikts als religiöse motiviert ausschließt, bleibt auf der anderen Seite allerdings festzuhalten, dass Religion als trennendes Identitätsmerkmal präsent blieb und als Ressource nationaler Mobilisierung dienen konnte.
Ethnonationale Mobilisierung im Vorfeld des Krieges
Zu einer Renaissance der Religion im öffentlichen Leben kam es vor dem Hintergrund tiefgreifender wirtschaftlicher Probleme und einer zunehmenden Desintegration des politischen Systems in der zweiten Hälfte der achtziger Jahren. Bei der Suche nach alternativen ordnungs- und nationalitätenpolitischen Lösungskonzepten jenseits des Titoismus setzten die politischen Eliten in den Teilrepubliken alsbald auf die „nationale Karte“; am frühesten in Serbien, wo 1987 nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch Slobodan Milošević die „serbische Frage“ in den Mittelpunkt der politischen Agenda rückte. Die Benachteiligung Serbiens durch die föderative Struktur des Staates sollte beseitigt und die eigene nationale Identität gestärkt werden. Die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK) war dem Regime dabei eine willkommene Bündnispartnerin: Mit wachsendem Engagement und Resonanz beteiligte sie sich an der Konstruktion nationaler Mythen und an der Selbstdeutung der eigenen Geschichte als permanente Opfergeschichte von der osmanischen Eroberung bis in die Gegenwart.
Die Motive der heroischen Selbstaufopferung und Benachteiligung wurden dabei zu Konstanten der serbischen Geschichte stilisiert und religiös-sakral überhöht. Von Politikern und Wissenschaftlern wie auch von Seiten der Kirche wurde immer wieder auf die Verfolgungen der Serben wegen ihres Bekenntnisses zum orthodoxen Glauben seitens der Osmanen und vor allem seitens der kroatischen Faschisten (Ustascha) im 20. Jahrhundert hingewiesen. Das Wachrufen der bis dahin tabuisierten Gräuel des Zweiten Weltkriegs – in symbolischer Form durch Massenausgrabungen und Neubestattungen von Opfern unter Teilnahme hoher Kirchenvertreter – und die immer wieder beschworene Gefahr eines erneuten „Genozids“ an den Serben für den Fall einer Abspaltung Kroatiens von Jugoslawien trugen zu einer diskursiven Verfeindung zwischen Serben und Kroaten bei, die mit der Selbstdeutung von der eigenen permanenten Opferrolle und der Fremddeutung des Anderen als ständiger Bedrohung zur alternativlosen gewaltsamen Lösung der Gegenwartsprobleme anleitete. Somit glichen sich „unabhängig von der Haltung zu Milošević, zur Ökumene und zu radikalen nationalistischen Phrasen alle kirchlichen Lagebeurteilungen darin, dass das eigene Volk angegriffen und daher zur Selbstverteidigung berechtigt angesehen wurde“. Diese Geschichtswahrnehmung ermöglichte die „Rechtfertigung des großserbischen Projekts, welches als Schutzmaßnahme gegen das vermeintlich wiedererwachte kroatische Ustaschatum gesehen wurde.“
Diese Geschichtssicht kollidierte mit der katholischen bzw. kroatischen Vergangenheitswahrnehmung, die von einem diametral entgegengesetztem Geschichtsbild ausging und somit das Ihrige zur diskursiven Verfeidung beitrug: Die Verbrechen des Ustascha-Terrors wurden marginalisiert und als Reaktion auf serbische Untaten im Zweiten Weltkrieg dargestellt. Nicht die Serben und ihre Kirche seien die eigentlich Benachteiligten in Jugoslawien, sondern die katholischen Kroaten, denen die Erfüllung ihres „tausendjährigen Traums“ von der staatlichen Unabhängigkeit der eigenen Nation verweigert würde.
Angesichts der nur angedeuteten Rolle der Kirchen – hinsichtlich der muslimischen Gemeinschaft ließen sich ähnliche Phänomene beobachten – im Prozess der nationalen Mythenbildung und Mobilisierung5 wird man kaum von einer simplen Instrumentalisierung der Religion für nationalistische Zielsetzungen sprechen können. Sicherlich bedienten sich die nationalistischen Politiker religiöser Rhetorik und verwendeten religiöse Motive, um die eigenen politischen Ziele zu legitimieren, aber dabei handelten sie in Wechselwirkung mit den kirchlichen Eliten, die sich dem Missbrauch religiösen Vokabulars nicht entschieden widersetzen, sondern sich von der wiedererstarkten Propagierung der nationalen Identität neue politische Einflussmöglichkeiten versprachen. Die Frage, ob nun die Politiker die religiösen Führer manipuliert hätten oder umgekehrt, lässt sich daher dahingehend mit Paul Mojzes beantworten, dass beide Prozesse stattgefunden haben, die Politiker jedoch die geschickteren Manipulatoren gewesen seien und größere Vorteile aus dem Verhältnis gezogen hätten.6
Unabhängig davon, wie man dieses Wechselverhältnis genauer bestimmt, trugen die Glaubensgemeinschaften für den kroatischen Soziologen Srdjan Vrcan in zweierlei Hinsicht zur Verschärfung des Konflikts bei: Erstens hätte das religiöse Vokabular die Möglichkeit geboten, die politischen Auseinandersetzungen gleichsam vor einem ontologischen Hintergrund darzustellen – herausgelöst aus seinem politischen und sozialen Kontext konnte der heraufziehende Krieg als jahrhundertealter „Kampf der Kulturen“ interpretiert werden. Zweitens hätten die Religionsgemeinschaften zu „einer offenen Manichäisierung der Konfliktparteien“ beigetragen, indem die eigene Seite mit Begriffen des Guten und Reinen dargestellt wurde, während die andere Seite als Inkarnation des Bösen schlechthin erschien.7 Spielte Religion somit als Identifikationsmerkmal und als den Alltag prägende Glaubenspraxis bis in die achtziger Jahre nur eine geringe Rolle, produzierte die religiös aufgeladene nationale Mobilisierung im Vorfeld des Krieges eine Stimmung, die diesem eine Tiefendimension verlieh, die über einen bloßen säkularen Nationalismus weit hinausreichte. Vor dieser Hintergrundfolie wird auch verständlich, warum der Krieg in Bosnien und Herzegowina massiv von religiöser Symbolik geprägt war.
Religiöse Symbolik im Krieg
Während des Krieges kam es nicht nur zu häufigen gemeinsamen Auftritten von politischen und religiösen Repräsentanten, sondern religiöse Symbolik bestimmte augenfällig auch das äußere Erscheinungsbild des Krieges: Christliche Soldaten trugen an ihren Uniformen Kreuze und Rosenkränze, während sich muslimische Soldaten grüne Stirnbänder mit arabischen Inschriften um den Kopf banden. Religiös konnotierte Schlachtrufe und Kriegslieder, die Übernahme religiöser Verhaltenskodexe durch einzelne Truppenteile sowie Segnungen trugen dazu bei, dass das Kampfgeschehen in einem religiösen Kontext verortet und nicht als Folge ungelöster politischer Konflikte, sondern als Resultat dreier sich unversöhnlich gegenüberstehenden Religionen angesehen wurde. Daneben diente der Gebrauch dieser Symbole vor allem dem psychologischen Zweck, den Einsatz des eigenen Lebens für die nationale bzw. religiöse Gemeinschaft durch Verweis auf jenseitige Belohnung erträglicher zu gestalten.
Religiöse Symbolik spielte noch in einer weiteren Hinsicht eine bedeutende Rolle während des Krieges: Als religiöse Ausdrucksformen der kulturellen Identität der Menschen wurden bevorzugt und systematisch Gotteshäuser zerstört. Hunderte von Moscheen, katholischen und orthodoxen Kirchen, Synagogen sowie Friedhöfen sind im Verlauf des Krieges Opfer mutwilliger Zerstörung geworden. Deren gezielte Beschädigung und Demolierung sollte nicht nur die Religionsausübung verhindern beziehungsweise verunmöglichen, sondern die Funktion der Gotteshäuser als historisch gewachsene und sozial funktionale Kommunikationszentren vernichten. Mit der Zerstörung von Sakralbauten, die die so genannten „ethnischen Säuberungen“ begleitete, versuchte jede Kriegspartei, alle Spuren der Erinnerung an die ursprünglich ansässige Bevölkerung zu eliminieren und ethnokulturelle homogene Gebiete zu schaffen. Die Vernichtung religiöser Gebäude wendete sich somit letztlich gegen die Existenzberechtigung der anderen nationalen Identitäten und sollte stattdessen das eigene nationale Recht auf das Territorium legitimieren.
Friedensbemühungen der Religionsgemeinschaften
Im Verlauf der Kriege in Kroatien sowie in Bosnien und Herzegowina kam es aber auch – oftmals unter Vermittlung internationaler kirchlicher Organisationen – zu einer Reihe interkonfessioneller bzw. interreligiöser Treffen, die mit Blick auf die schlecht ausgebauten ökumenischen Beziehungen in den Jahrzehnten zuvor kaum vorstellbar schienen.8 Das erste Treffen fand im Mai 1991 zwischen dem neu gewählten Patriarchen Pavle und Kardinal Franjo Kuharić von Zagreb in Sremski Karlovci statt. Angesichts der zunehmenden Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen, die bereits erste Todesopfer gefordert hatten, verabschiedeten beide Seiten eine Erklärung, in der sie ihre Kirchen als Schwesterkirchen bezeichneten und zu einer friedlichen Lösung der Probleme in Jugoslawien mahnten. Nachdem die Feindseligkeiten bereits zum offenen Krieg eskaliert waren, trafen sich die beiden Kirchenführer im August 1991 in der kroatischen Stadt Slavonski Brod, dabei riefen sie eindringlich ihre Gläubigen zum Gebet für Frieden und Versöhnung auf.
Obwohl keine institutionalisierte Form ökumenischer Zusammenarbeit existierte, zeigen die Treffen zu Beginn des Krieges, dass die Inanspruchnahme religiöser Motive und Traditionen zur nationalen Mobilisierung und Homogenisierung von kirchlicher Seite nicht gänzlich unwidersprochen blieb. Aber andererseits war die öffentliche Wirkung der gemeinsamen Erklärungen gering, weil sich die meisten Geistlichen und Gläubigen mit den Positionen „ihrer“ Nation identifizierten, die sie als das eigentliche Opfer der Auseinandersetzungen ansahen. Trotzdem kam es im September 1992 in Genf zu einem dritten Treffen, an dem sich auch das Oberhaupt der bosnischen Muslime, Reis-ul-ulema Jakub Selimoski, der aufgrund der Krieghandlungen Sarajevo nicht verlassen konnte, mit einem Diskussionsbeitrag per Fax beteiligte. In der auch von ihm später unterzeichneten Abschlusserklärung riefen die Führer der Religionsgemeinschaften dazu auf, „jede konfessionelle Polemik aus den nationalen Auseinandersetzungen herauszuhalten, um so zu vermeiden, daß die Übereinstimmung von Konfession und Nationalität als Grundlage nationaler oder gar nationalistischer Ideologie mißbraucht wird.“9 Mit der Distanzierung von der Deutung des Krieges als eines religiösen forderten Patriarch Pavle, Kardinal Franjo Kuharić und Reis-ul-ulema Jakub Selimoski die sofortige und bedingungslose Einstellung aller Feindlichkeiten, vor allem die Beendigung der unmenschlichen Praxis der ethnischen Säuberung, von welcher Seite sie auch immer ausgehe, sowie die Rückkehr der Flüchtlinge.
Diesen hoffnungsvollen, um Frieden und Versöhnung bemühten gemeinsamen Stellungnahmen standen jedoch weiterhin Rechtfertigungen der „eigenen“ Kriegspartei“ und Anklagen an die anderen Seiten als den vermeintlichen Aggressoren gegenüber. „Jede Seite ging im Stillen davon aus, der Appell richte sich ‚eigentlich‘ nur an die Vertreter der ‚Anderen‘. Hier zeigt sich wiederum, dass die unterschiedliche Betrachtung der Geschehnisse (und zwar nicht nur der aktuellen, sondern der gesamten gemeinsamen Geschichte) ein wichtiger Faktor der relativen Erfolglosigkeit der kirchlichen Bemühungen im Bosnien-Krieg war.“10 Daher kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Treffen zwischen den Oberhäuptern der Religionsgemeinschaften eher „rituellen“ Charakter gehabt haben und die gemeinsamen Friedenserklärungen und Appelle eher pro foro externo, als „Zeichen guten Willens“ für die ausländischen Vermittler und Beobachter des Konflikts formuliert wurden. Da die Führer der Religionsgemeinschaften solch deutliche Worte und Klarstellungen selten im Umgang mit ihren eigenen Gläubigen benutzt haben, müssen sie sich fragen lassen, ob sie trotz aller positiven Bemühungen um Verständigung sich nicht insgesamt zu unkritisch mit den „nationalen Interessen“ der eigenen Gruppe identifiziert und kaum als Fürsprecher für die Interessen der anderen gewirkt haben.
Neben der Zusammenarbeit auf der Führungsebne gab es aber auch eine Vielzahl weiterer ökumenischer Friedensinitiativen: Viele verschrieben sich dem interreligiösen Austausch und waren um die Fortbildung lokaler religiöser Führer in gewaltfreier Konfliktberatung bemüht. Die von dem Franziskaner Marko Oršolić ins Leben gerufene Initiative „Zajedno“ („Gemeinsam“) setzte sich die Betreuung von gemischt-konfessionellen Ehen und Familien zum Ziel. Auf der Mikroebene konnten von den Religionsgemeinschaften somit auch positive, friedensfördernde Impulse ausgehen; dabei muss allerdings einschränkend bemerkt werden, dass ökumenische und interreligiöse Initiativen, die hergebrachte Strukturen aufsprengen wollten, von der eigenen Führung oftmals marginalisiert wurden.
Eine offene Frage: Übernahme der Verantwortung?
Der Krieg in Bosnien und Herzegowina war kein Religionskrieg, aber seinen religiösen Dimensionen müssen sich die Religionsgemeinschaften selbstkritisch stellen. Dies beinhaltet die Aufgabe, die eigene Rolle während der Auseinandersetzungen vorurteilsfrei aufzuarbeiten und eigene Versäumnisse sowie Schuldigwerden bei fehlendem Engagement für Opfer der eigenen Kriegspartei einzugestehen. Von besonderer Relevanz für einen wirksamen Friedens- und Versöhnungsprozess wird dabei sein, ob es den Religionsgemeinschaften gelingt, sich von den unterschiedlichen nationalen Mythen zu befreien und zu einer annähernden Sicht auf die gemeinsame Geschichte zu gelangen. Um Bosnien und Herzegowina auch in Zukunft als Lehr- und Lernboden für den Wettkampf und friedlichen Austausch der Religionen wahrnehmen zu können, ist es also unumgänglich, dass sich die Glaubensgemeinschaften den skizzierten Aufgaben stellen und somit Verantwortung für eine bleibende und stabile friedliche Nachkriegsordnung in Bosnien und Herzegowina nach Dayton übernehmen.
Fußnoten:
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Zu den wichtigsten Argumentations- und Interpretationsmustern, die zur Erklärung des Staatszerfalls und der Kriege konzipiert wurden, vgl. Wolfgang Höpken: Das Dickicht der Kriege: Ethnischer Konflikt und militärische Gewalt im früheren Jugoslawien 1991-1995, in: Bernd Wegner (Hrsg.): Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten (Krieg in der Geschichte, Bd. 4), Paderborn 2000, S. 319-367. ↩︎
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„Millet“ bezeichnet eine nichtislamische religiöse Gemeinschaft im osmanischen Reich, der gewisse Autonomierechte gewährt wurden (Anm. d. Redaktion). ↩︎
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Holm Sundhaussen: Vom Mythos Region zum Staat wider Willen: Metamorphosen in Bosnien-Herzegowina, in: Philipp Ther/Holm Sundhaussen (Hrsg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 18), Marburg 2003, S. 215-232, hier 222. ↩︎
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Paul Mojzes: The Camouflaged Role of Religion in the War in Bosnia and Herzegovina, in: Ders. (Hrsg.): Religion and the War in Bosnia, Atlanta 1998, S. 74-98, hier S. 80. ↩︎
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Zu den nationalen Mythologien vgl. Mitja Velikonja: Religious Separation and Political Intolerance in Bosnia-Herzegovina (Eastern European Studies, Vol. 20), College Station 2003, S. 239-255. ↩︎
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Mojzes (wie Anm. 4), S. 81. ↩︎
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Vgl. Srdjan Vrcan: Religion und Krieg im ehemaligen Jugoslawien, in: Concilium 31 (1995), S. 517-523, hier S. 517. ↩︎
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Zum Folgenden vgl. Thomas Bremer: Kleine Geschichte der Religionen in Jugoslawien. Königreich – Kommunismus – Krieg, Freiburg/Breisgau 2003, S. 87-108,113-117. ↩︎
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Botschaft von Patriarch Pavle und Kardinal Franjo Kuharić von der Begegnung in Genf am 23. September 1992, zitiert nach: Pax Christi, Deutsches Sekretariat (Hrsg.): Der Krieg auf dem Balkan (Probleme des Friedens 2/92), Idstein/Taunus 1992, S. 152. ↩︎
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Bremer (wie Anm. 8), S. 101 f. ↩︎