Pontifikat mit Ideen-Politik

Johannes Paul II. und die Philosophie
aus OWEP 4/2005  •  von Klaus Müller

Prof. Dr. Dr. Klaus Müller lehrt Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster.

Das drittlängste Pontifikat der Kirchengeschichte war fraglos reich an Innovatorischem, das umso mehr auffällt, da es im Raum einer Institution geschah, die in ihrem Rücken Jahrhunderte von Traditionen weiß. Zu den herausragendsten dieser Neuerungen in der Ära Johannes Pauls II. gehört gewiss die Wahrnehmung des petrinischen Amtes in einer Erste-Person-Perspektive: Ein Papst, der oft, und oft auch im amtlichen Sprechen, „ich“ sagte, der keine Scheu zeigte, eigene Biographie und Subjektivität dem mit objektiver Verbindlichkeit Vorgetragenem zu unterlegen. Das war der Grund, warum viele päpstliche Äußerungen und Lehrschreiben Johannes Pauls II. von einem ausdrücklichen philosophischen Anliegen durchherrscht waren, denn Johannes Paul II. war vor seiner Berufung ins bischöfliche Amt professioneller Philosophiedozent in der Priesterausbildung gewesen. Das tut der Tatsache keinerlei Abbruch, dass er von Anfang seiner reifenden Existenz eine dichterische, besonders fürs Dramatisch-Theatralische empfängliche Ader spürte und dass er ein leidenschaftlicher Seelsorger war.

Im Gegenteil – das Philosophische war in beides unabscheidbar eingewoben. Das merkt man zum einem dem Genus seines poetisch-literarischen Schaffens an: Ich würde nicht zögern, ihn als einen speziellen Repräsentanten der Gestalt des poeta doctus zu charakterisieren, eines Typos, der erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf der Bildfläche der intellektuellen Szene erschien und als dessen erster namhafter Vertreter Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) gelten muss1, der im Kampf gegen den Atheismus bzw. Pantheismus seiner Zeit (oder was er dafür hielt) zum Vertreter einer Glaubensphilosophie avancierte, deren Einfluss sich weniger begriffscharfen Traktaten als literarischen Werken und seinen öffentlichen Wortmeldungen verdankte (der poetische Rang der Dichtungen steht dabei auf einem anderen Blatt). Ich wage diesen im ersten Moment vielleicht absonderlich scheinenden Vergleich auch deshalb, weil er zugleich den Tatbestand abdeckt, dass Johannes Paul II. nicht nur poetisch (und dabei aus den Ressourcen der Kultur seiner Heimat schöpfend), sondern auch theologisch durch und durch etwas war, was er mit Jacobi teilte: Romantiker. Er war überzeugt, dass es um den Menschen ein abgründiges Geheimnis ist, das von einem seinerseits ins Geheimnis gehüllten unverfüglichen Grund her verstanden werden muss (und nicht aufgelöst werden kann). Und er hat der sich verschwendenden, sich hingebenden Liebe zugetraut, in übernatürlicher Kraft den Abgrund des Bösen zu verschließen. Die dezente, gleichwohl nicht übersehbare Zurückhaltung, die Joseph Kardinal Ratzinger (meist durch beredtes Schweigen) dem Überschwang manch päpstlicher Äußerung Johannes Pauls II. entgegen brachte, entspricht der Tendenz nach – fast ein Treppenwitz der Geschichte – dem Vorbehalt, mit dem Immanuel Kant dem Schwärmerischen an Jacobi begegnete, weil er darin ins Unkontrollierbare tendierende Energien am Werk sah, die in Gefahr standen, das soziale und politische Ordnungsgefüge zu beschädigen.

Zum anderen bringt sich das Philosophische an Johannes Paul II., angefangen von seinem frühen Umgang mit Studierenden bis in viele seiner päpstlichen Lehrschreiben hinein, sozusagen in pastoraler Funktion stehend zur Geltung: Als Versuch, das Geheimnis menschlichen Daseins so auszuloten, dass es von innen her eine Evidenz zu gewinnen beginnt, der sich niemand mehr zu entziehen vermag. Nur so lässt sich begreifen, wie der Papst auf die singuläre Idee kommen konnte, von September 1979 (also schon gegen Ende des ersten Dienstjahres als Petrusnachfolger) bis November 1984 mit ganz wenigen Unterbrechungen in sage und schreibe 130 Katechesen bei den wöchentlichen Mittwochsaudienzen eine weit ausgreifende „Theologie des Leibes“ zu entfalten, de facto eine metaphysische Anthropologie, die – mit nicht selten weit ins Spekulative gehenden, das Auditorium überfordernden Reflexionen2 – die menschliche Liebe zwischen Mann und Frau von ihrer leiblichen Dimension bis zu ihrer Analogie mit den innertrinitarischen Beziehungen als hermeneutischen Schlüssel für das Ganze der Wirklichkeit beanspruchte.3 Auch für diesen Zug einer Philosophie im Dienst der Pastoral ziehe ich einen Vergleich, der ähnlich aberwitzig anmuten mag, wie der vorhin mit Jacobi gezogene, gleichwohl mindestens ebenso sehr über eine sachliche Legitimität verfügt: eine Pastoralphilosophie im skizzierten Sinne hatte auch niemand anderer als der frühe Karl Rahner beabsichtigt. Er, der mit den frühen Schriften Geist in Welt und Hörer des Wortes ersichtlich einer professionell philosophischen Intention folgt, ist doch auch von Anfang an, mindestens bis zum Grundkurs des Glaubens einschließlich, von der Überzeugung beseelt, dass dem Menschen so etwas wie die Erfahrung von Gnade sozusagen auf den Leib geschrieben ist, und dass sich gerade das neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen durch die faktisch ergangene christliche Offenbarung unmittelbar in seiner Verfassung getroffen wissen darf und dies auch mit philosophischen Mittel erhellt werden kann und muss.4

Diese Konvergenz aber geht weit über das Strukturelle hinaus bis tief ins Inhaltliche: Beide – Johannes Paul II. und Karl Rahner – kommen von der neuzeitlichen Mystik her, der eine beschäftigt sich mit dem Hl. Johannes vom Kreuz, der andere denkt ganz im Geist des Ignatius von Loyola; beide setzen sich intensiv mit Thomas von Aquin auseinander; beide kommen mit dem (alles andere als problemlosen) Denken Max Schelers in Berührung: Bei Rahner finden sich Einflüsse von Scheler im Frühwerk, Johannes Paul II. schreibt gar seine Habilitation über die Frage, ob von Scheler her eine christliche Ethik konzipierbar sei (das Ergebnis ist negativ)5; beide vollziehen eine anthropologische Wende in ihrem Theologietreiben und sind damit beide moderne, dem 20. Jahrhundert verpflichtete Denker; darin manifestiert sich vielleicht der eigentliche Einfluss Schelers noch unterhalb einer spezifischen Motivik und Methodik, sofern dieser (neben Helmut Plessner und Arnold Gehlen) einer von denen war, die nach dem Schock des Ersten Weltkriegs eine nach dem wirklich philosophisch noch Tragfähigem fragende „Neue Anthropologie“ suchten. Die aus diesen Quellen gespeiste „Anthropologische Wende“ meint dabei: Den Menschen in seiner leiblich-geschichtlichen Faktizität als Grammatik und Medium der Selbstmitteilung Gottes begreifen. Rahner führt diese Wende in das Programm seiner so genannten „transzendentalen Theologie“, zu der – wie der Name schon andeutet – eine sehr fundamentale Kantische Dimension gehört im Sinn einer Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eventuell ergehender Offenbarung. Johannes Paul II. dagegen nimmt seinen Weg in einen phänomenologischen Personalismus, der umfassenden Ausdruck in seinem philosophischen Hauptwerk Osoba i czyn (deutsch: Person und Tat)6 findet, im letzten Satz seiner Antrittspredigt am 22. Oktober 1978 –

„(E) con quale venerazione l’apostolo de Cristo deve pronunciare questa parola: uomo!“ [Und mit welcher Ehrfurcht muß der Apostel Christi dieses Wort aussprechen: Mensch!]

– geradezu emphatisch zur Geltung kommt und dann in der ersten Enzyklika Redemptor hominis (1979) gleichsam zur offiziellen Philosophie des Pontifikats und seiner Weise, das Lehramt auszuüben, wird – eine anthropologische Wende der Theologie in petrinischem Vollzug. Nach verlässlichen Quellen soll der Papst später gesagt haben, er habe die Enzyklika sozusagen fertig mit nach Rom gebracht und habe nur noch niederschreiben müssen, was in ihm – gewachsen aus seiner religiösen und intellektuellen Biographie – schon bereit lag. Und es war in der Tat eine so von der Cathedra Petri noch nie vernommene Anthropo-Theologie, gemäß der Christus

„... in einzigartiger und unwiederholbarer Weise in das Geheimnis des Menschen eingedrungen und in sein ‚Herz‘ eingetreten ist, … dem Menschen den Menschen selbst voll kund (macht) … und sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“7

Dass es sich dabei um keine Fensterreden handelte, sondern um die Grundlegung einer Ideenpolitik des ganzen Pontifikats, wurde in den folgenden Jahren von Enzyklika zu Enzyklika deutlicher (um von den zahllosen Ansprachen bei Audienzen und auf den vielen Reisen zu schweigen), am deutlichsten wohl in den Moralenzykliken Veritatis splendor 1993 und Evangelium vitae von 1995. Die philosophische Anthropozentrik, der sich Johannes Paul II. kategorisch in seiner Theologie verpflichtete, führte zu einer emphatischen Menschenrechtsagenda quer zu allen politischen Lagern und kompromisslos gegen alle Ideologien – zuerst gegen die kommunistische, dann gegen die kapitalistische –, die im Kern darauf hinauslaufen, den Menschen um seine Würde, die in seiner unverfüglichen, gleichsam an die Ewigkeit rührenden und von ihr herkommenden Geheimnishaftigkeit wurzelt, zu betrügen. Der Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert, zunächst mit ihren Katastrophen, dann mit ihrer bis heute andauernden spätmodernen, oft ins Beliebige verschwimmenden und dahinter vom Markt beherrschten Kontur, ließ den polnischen Stellvertreter Christi sich

„(…) als Stellvertreter des Menschen (verstehen), was in der Religion des fleischgewordenen Gottes am Ende ein und dasselbe ist“8

bis dahin, dass Johannes Paul II. um der Dringlichkeit seiner anthropo-theologischen Sendung wegen in teils kühnen – und von der römischen Kurie und strammen Katholiken argwöhnisch beäugten – Grenzgängen, namentlich im Verhältnis zu anderen Religionen, eine Art Rolle eines „Sprecher(s) des homo religiosus schlechthin“ übernahm. Nur so konnte er seiner Überzeugung nach dem ihm auferlegten Dienst an der Wahrheit und der Freiheit, ohne die der Mensch nicht Person, nicht er selbst sein kann, angemessen nachkommen. Aus dieser Anthropozentrik resultiert auch die für Johannes Paul II. einzig angemessene Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube. In dem späten Erinnerungsbuch Auf, lasst uns gehen! von 2004 heißt es dazu:

„In meinem Lesen und Studieren habe ich mich immer bemüht, die Fragen des Glaubens, des Geistes und des Herzens harmonisch miteinander zu vereinen. Es sind nämlich keine getrennten Gebiete. Jedes von ihnen durchdringt und belebt die anderen. In dieser gegenseitigen Durchdringung von Glaube, Geist und Herz kommt ein besonderer Einfluss dem Staunen zu – einem Staunen über das Wunder der Person (…).“9

Genau das ist auch der Horizont, unter dem Johannes Paul II. 1998 überraschend, aber offenkundig von langer Hand vorbereitet, die nach Aeterni Patris von 1879 zweite Enzyklika der Kirchengeschichte über die Philosophie veröffentlichte: Fides et ratio10. Lange hatte es keinen solchen Disput mehr – lebendiger noch außerhalb als innerhalb der Kirche – über ein päpstliches Lehrschreiben gegeben. Auch religiös Unmusikalische (ein bonmot Max Webers, mit dem Gegenwartsphilosophen gern kokettieren) brachten ihm trotz kritischer Anfragen hohe Achtung entgegen. Unerachtet der Wertschätzung der Philosophie des Thomas von Aquin spielt in Fides et ratio, was die Tiefenstruktur der Argumentation betrifft, das dialektische Zuordnungsmodell von Vernunft und Glaube, wie Anselm von Canterbury es konzipierte, die wohl prägendere Rolle. Das macht sich nicht zuletzt darin geltend, wie in dem Lehrschreiben dem Gedanken der Autonomie der Vernunft unübersehbar Respekt gezollt wird, ohne dass daraus freilich eine tiefreichende Versöhnung mit der Philosophie der Neuzeit als solcher würde, für die eben diese Autonomie ja als Dreh- und Angelpunkt fungiert. Auf einen Nenner gebracht wird man sagen müssen, dass sich die Enzyklika nicht nur binnentheologisch, sondern prinzipiell für Vernunft und Philosophie stark macht. Das hatte auch schon Aeterni Patris geprägt, damals gegen die grassierende Verdachtshermeneutik, wie sie in Nietzsche kumulierte und für die die Vernunft derart von Täuschungsquellen durchsetzt war, dass sie sich darüber nicht mehr selbst aufklären konnte und Wahrheit darum als Illusion gelten musste. Fides et ratio stellt der Gegenwartssituation eine ähnliche Diagnose und votiert für die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft in Gestalt der beharrlichen Insistenz auf eine „Philosophie des Seins“, die dem Kontext nach zu urteilen als Gegenmodell zu allen pragmatistischen und kontruktivistischen Denkformen zu verstehen ist. Denn darin sieht die Enzyklika – ganz der anthropo-theologischen Basisoption des Papstes verpflichtet – einen Anschlag auf den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen vorbereitet, der diesen nur in die nietzscheanische Falle des Willens zur Macht oder die der existenzialistischen Einsamkeit zu treiben vermöge.

Angesichts der Tatsache, dass – wie Jan Roß treffend formulierte – die Begriffe der Wahrheit, der Freiheit und der Person „eine Art magisches Dreieck“11 in der Mitte des philosophischen Denkens von Johannes Paul II. bilden, möchte man eigentlich vermuten, dass es – etwa im Blick auf die (bei aller Differenz in der Durchführung!) strukturelle Konvergenz dieser Konstellation mit der Architektur des Kantischen Denkens – nur noch ein kleines Stück Weg sein sollte, bis ein wirklicher Dialog auch mit der Philosophie der Moderne einsetzen würde, die doch gerade in ihren größten Gestalten unbeschadet ihrer radikalen Traditions- und namentlich Metaphysikkritik aus der Theologie hervorgeht und auf diese zutiefst bezogen bleibt. Doch genau in diesem Punkt kam es wenige Wochen vor dem Tod Johannes Pauls II. zu einer herben Enttäuschung. Denn Anfang 2005 erschien ein Buch des Papstes, Erinnerung und Identität12, basierend auf vor etlichen Jahren mit den zwei polnischen Philosophen Józef Tischner und Krzysztof Michalski geführten Gesprächen, aber jetzt thematisch so ausgeweitet und bearbeitet, dass manche Rezensenten, gerade auch wegen seines sehr persönlichen Tons und der häufigen Rückbezüge auf die eigene Herkunft und intellektuelle Biographie, von einem philosophischen Vermächtnis Johannes Paul II. sprechen.

In dem Buch wird – anders als in Fides et ratio – ein buchstäblich rabenschwarzes Bild von der Philosophie der Moderne gemalt und diese direkt – gar unter Berufung auf Descartes' „cogito, ergo sum“ – für das Aufkommen der Ideologien des Bösen im 20. Jahrhundert (also Nationalsozialismus und Kommunismus) verantwortlich gemacht. Descartes' „cogito“ habe das Philosophieren auf den Kopf gestellt, und in der Logik dieses Ansatzes sei Gott auf einen Inhalt menschlichen Bewusstseins reduziert und nicht mehr als derjenige betrachtet worden, der das menschliche „sum“ bis zu seinem Grunde erkläre. Ich halte diese Descartes-Auslegung für unzutreffend und für ungerecht, denn man kann sich den Hintergrund dieses berühmt-berüchtigten „je pense, donc je suis“13 gar nicht dramatisch genug vorstellen. In der Zeit davor war Schritt um Schritt alles zusammengebrochen, was theoretisch wie praktisch Halt gegeben hatte: Der Nominalismus hatte die überkommene Metaphysik, die Philosophie der unveränderlichen Wesenheiten, erschüttert und die großen Pestepidemien das Vertrauen auf einen gütigen Schöpfergott; durch das abendländische Schisma verlor die Hierarchie als Rückgrat aller gesellschaftlichen Ordnung ihre Bindekraft, und die Religionskriege als ungewollte Folgen der Reformation brachten die christliche Tradition schier um ihre Glaubwürdigkeit. Einzig durch eine radikale Wendung nach innen lässt sich noch eine Instanz ausmachen, die Halt zu gewähren vermag: Das seiner selbst bewusste Subjekt, das selbst dann, wenn es ein boshafter Lügengott in all seinen epistemischen Leistungen trügen sollte, eben darin nicht getäuscht zu werden vermag, dass es es selbst ist, was da getäuscht wird – ein Gedanke im übrigen, dessen Urform von Augustinus stammt. Das cartesische „cogito“ verdankt sich nicht aufrührerischer Empörung gegen die Tradition (dafür war Descartes viel zu ängstlich), sondern wird vielmehr von einer philosophischen Krise tiefsten Ausmaßes hervorgetrieben.

Pointierter als irgend sonst lässt sich diese Relecture Descartes‘ an der zentralen Passage der dritten Meditation festmachen, gemäß der der Geltungsanspruch des Subjektgedankens durch seinen Rückbezug auf den Begriff des Unendlichen gesichert ist, der seinerseits über die Mangelstruktur des Subjekts erschlossen wird.14 Äußert sich so eine auf unumschränktes Herrschen kaprizierte Instanz, der es darum zu tun ist,

„(...) Gott als Schöpfer und damit als Ursprung der Bestimmung von Gut und Böse (...)“15

zu verwerfen? Unbeschadet vereinzelter zustimmungsfähiger Elemente im modernen Denken wie etwa dem Ansatzpunkt des ethischen Personalismus bei Kant und dem prinzipiellen Vernunftvertrauen wird in dem Buch des Papstes auch die gesamte nachcartesianische Philosophie in das soeben geschilderte Gefälle gestellt: Die Aufklärung, so der Papst, habe sich dem entgegen gestellt, was die Evangelisierung in Europa geformt habe, namentlich dem christologischen Glutkern der theologischen Tradition. Für einzelne radikale Aufklärer vor allem französischer Provenienz (wegen der dortigen Allianz von Thron und Altar) stimmt das, kaum aber etwa für einen deutschen Autor von Bedeutung. Und schon gar nicht trifft das für die großen Namen, angefangen bei Lessing, Kant, Schiller und Jacobi über Fichte, Schelling, Hegel und Hölderlin, zu, die im übrigen ausnahmslos um das wussten, was später M. Horkheimer und Th. W. Adorno Dialektik der Aufklärung nannten. Alle die Genannten wollten vielmehr im Vergleich zu der in ihren Augen weitreichend verschlissenen Tradition unter den gegebenen Herausforderungen der Moderne die besseren Theologen sein. Doch all das würdigt Johannes Paul II. keines Wortes, statt dessen geht er nach der Kritik der Aufklärung unmittelbar zu einer solchen der Postmoderne über, der er vorhält, selbst die positiven Momente ersterer zu verwerfen.

Fragt man nach den tiefsten Wurzeln dieses Neuzeitbildes im Denken Johannes Pauls II., so stößt man auf eine Quelle, die sich in der Beobachterperspektive von außen nur sehr schwer beschreiben und erst recht gewichten lässt, aus der aber zugleich das Pontifikat des polnischen Papstes seine philosophisch-ideenpolitische Kontur gewann: Es ist sein Verhältnis zur Geschichte seines Vaterlandes, auch zur jüngsten, deren Zeitzeuge und mit Mitgestalter er selbst ja in vorderster Reihe war – oder noch pointierter gesagt: Es ist sein kultureller Patriotismus; Johannes Paul II. ist – in durchaus geschichtstheologischer Grundierung – überzeugt gewesen, das sein Heimatland und sein Volk (anders als andere Völker) die Kraft hatten, die Geißel des Kommunismus zu überstehen, weil es in der Lage war,

„… nicht der Propaganda jener Aufklärung nachzugeben, der die Polen in gewissem Maße bereits im 18. Jahrhundert widerstanden haben, wodurch sie im 19. Jahrhundert die nötige Kraft aufbringen konnten, schließlich nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg die Unabhängigkeit wiederzuerlangen …“16

und seine Identität kraft einer dezidiert nicht-westlichen, dem westlichen Denken überlegenen Theologie des Lebenszeugnisses im Sinn der Martyria zu bewahren und sich so durch göttliches Eingreifen gerettet zu erfahren.

Außenstehende werden einer solchen Selbstauslegung gerade im Blick auf die Opfer der polnischen Freiheitsgeschichte Respekt entgegenbringen, ohne den Kern ihrer Beschreibung der europäischen Kultur, gemäß der diese jenseits der christlichen Werte nur eine einzige, andauernde Krise hervorgebracht habe, zu teilen. Johannes Paul II. hat dieser Selbstinterpretation inklusive ihrer tiefsten spirituellen Quellen – den mystischen Erfahrungen der von ihm heilig gesprochenen Schwester Faustina Kowalska17 – allgemeine, gar weltkirchliche Bedeutsamkeit zugeschrieben. Dass er gleichwohl bereits während seiner ersten Polenreise nach dem Ende des Kalten Krieges 1991 und dann besonders in den letzten Lebensmonaten in deutlicher Häufung geradezu apokalyptische Töne anschlug, verrät wohl, wie brüchig der Stolz darauf geworden sein mag, Repräsentant und Bote einer Freiheit zu sein, die nicht aus der Krise einer Aufklärung hervorgegangen und darum auch nicht durch die Feueresse einer kommunikativen Härtung hindurchgegangen war. Nicht zufällig bemerkt Johannes Paul II., dass die von ihm favorisierte nicht-westliche Theologie „häufig die Grenze des Unausdrückbaren“ überschreite. Ein Satz wie derjenige Joseph Kardinal Ratzingers aus den ersten Tagen des Jahres 2000, im Christentum sei die Aufklärung kraft des ihr immanenten Dynamismus Religion geworden, nicht mehr ihr Gegenspieler18, hätte Johannes Paul II. nie aus der Feder fließen können. Ob sich dahinter der Keim einer erneuten philosophischen Ideenpolitik auch des gegenwärtigen Pontifikats verbirgt, wird mit Spannung zu beobachten sein.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu Dieter Henrich: Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism. Ed. by David S. Pacini. Cambridge, Mass., London 2003, S. 74-112, hier bes. S. 74. ↩︎

  2. Ich bin Ohrenzeuge etlicher dieser Katechesen gewesen und habe dabei immer wieder gehört, wie schwer es (auch für des Italienischen mächtige Zuhörer) war, den Ausführungen zu folgen. ↩︎

  3. Vgl. dazu auch Jan Roß: Der Papst. Johannes Paul II. – Drama und Geheimnis. Berlin 2000, S. 55-57. ↩︎

  4. Vgl. dazu Klaus Müller: Wenn ich „ich“ sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität. (RSTh 46). Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 54-58. ↩︎

  5. Vgl. Karol Wojtyła – Johannes Paul II.: Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in Anlehnung an Max Scheler zu schaffen. In: ders.: Primat des Geistes. Philosophische Schriften. Hrsg. v. Juliusz Stroynowski. Vorwort v. Andrzej Póltawski, Einleitung v. Manfred S. Frings. Stuttgart-Degerloch 1980, S. 35-197. ↩︎

  6. Vgl. Karol Wojtyła: Person und Tat. Endgültige Textfassung in Zusammenarbeit mit dem Autor von Anna-Teresa Tymieniecka. Freiburg, Basel, Wien 1981. ↩︎

  7. Enzyklika „Redemptor hominis“. Hrsg. v. d. Deutschen Bischofskonferenz. (Verlautbarungen d. Apostolischen Stuhls 6). Bonn 1979, Nr. 8. ↩︎

  8. Roß, Papst (wie Anm. 3), S. 175. ↩︎

  9. Johannes Paul II.: Auf, lasst uns gehen. Erinnerungen und Gedanken. 2. Aufl. Augsburg 2004, S. 104. ↩︎

  10. Enzyklika „Fides et Ratio“. Hrsg. v. d. Deutschen Bischofskonferenz. (Verlautbarungen d. Apostolischen Stuhls 135). Bonn 1998, Nr. 8. – Vgl. zum Folgen ausführlich Klaus Müller: Vernunft und Glaube: Eine Zwischenbilanz zu laufenden Debatten. (Pontes 20). Münster 2005, S. 15-30 (mit ausführlichen Literaturhinweisen). ↩︎

  11. Roß, Papst (wie Anm. 3), S. 58. ↩︎

  12. Vgl. Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden. Augsburg 2005. ↩︎

  13. René Descartes: Discours de la méthode. IV,1. Zit. nach: ders.: Philosophische Schriften in einem Band. Mit einer Einführung von Rainer Specht und „Descartes‘ Wahrheitsbegriff“ von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, S. *52. ↩︎

  14. Descartes: Meditationes. III,24. In: ders.: Schriften (wie Anm. 13), S. 82 f. ↩︎

  15. Johannes Paul II., Erinnerung (wie Anm. 12), S. 26. – Vgl. zu Descartes diesbezüglich auch Klaus Müller: Das etwas andere Subjekt. Der blinde Fleck der Postmoderne. In: Zeitschrift für Kath. Theologie 120 (1998), S. 137-163. ↩︎

  16. Johannes Paul II., Erinnerung (wie Anm. 12), S. 69. ↩︎

  17. Ebd., S. 18 f., 74-76. ↩︎

  18. Vgl. Joseph Kardinal Ratzinger: Der angezweifelte Wahrheitsanspruch. Die Krise des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2000, S. I. ↩︎