„Wir werden nie wieder schutzlos da stehen ...“
Andrius Navickas (geboren 1972 in Vilnius) ist Magister der Philosophie und der Religionswissenschaft. Zurzeit schreibt er an einer Dissertation im Bereich moderner politischer Philosophie und ist zugleich Chefredaktor der Internetsite www.bernardinai.lt.
Litauen, das größte der baltischen Länder, kann sich nicht nur wegen des einzigartigen Berges der Kreuze rühmen, sondern auch wegen eines Steines, der sich auf einem der Plätze der Hauptstadt Vilnius befindet. Auf dem Stein sind folgende Worte eingraviert „Von jetzt an wird jeder Feind Litauens auch ein Feind Amerikas sein“. George W. Bush, das Oberhaupt des mächtigsten Landes der Welt, hat dies während seines Aufenthalts in Vilnius im November 2002 gesagt. Seine Worte wurden später auf dem Stein verewigt.
Man stellt sich eine offensichtliche Frage – warum drängten zu einer Zeit, in der in weiten Teilen Europas immer stärker eine antiamerikanische Stimmung herrschte, die Litauer ebenso wie die Letten und Esten energisch in die NATO und bezeichneten die USA als ihren Hauptverbündeten? Eine weitere oft gestellte Frage: Warum waren praktisch alle einflussreichen Politiker des Baltikums dazu fähig, dem Eintritt ihrer Länder in die EU zuzustimmen, obwohl sie sonst wegen jeder Kleinigkeit hoffnungslos zerstritten sind? Mit meinem kurzen Beitrag erhebe ich nicht den Anspruch, alle Fragen klar beantworten zu wollen. Dennoch hoffe ich, dass meine Überlegungen zu einem besseren Verständnis dessen führen, was es den baltischen Ländern wirklich bedeutet, ein NATO-Mitglied zu sein.
Ganz allein
In der Geschichte der drei baltischen Staaten gibt es viele Berührungspunkte, allerdings auch nicht wenige Unterschiede. Estland war immer mehr mit Skandinavien verknüpft als mit den anderen baltischen Nachbarn. Litauer und Letten sind sich gegenseitig näher und die einzigen Vertreter ihrer Sprachgruppe. Geschichtlich ist Lettland jedoch mehr mit Deutschland verknüpft, Litauen mit Polen. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bildete Polen-Litauen den mächtigsten Staat Europas. Die baltischen Staaten unterscheiden sich auch wegen ihrer verschiedenartigen religiösen Traditionen. In Lettland und Estland dominierte ein protestantisches Christentum, Litauen hingegen blieb katholisch. Trotz dieser Unterschiede haben einige verhängnisvolle Ereignisse alle diese Länder in ein gemeinsames Prokrustesbett gepresst. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu radikalen politischen Veränderungen, die in die Unabhängigkeit der drei Länder einmündeten. Im Jahre 1940 wurden dann alle baltischen Staaten von der Sowjetunion besetzt, es folgten brutale Repressionen.
Dieser kurze historische Abstecher ist wichtig, um zu verstehen, warum es in den baltischen Ländern heute so viele Menschen gibt, die bejahen, dass die Aufnahme der baltischen Länder in die NATO der Begleichung einer historischen Schuld durch den Westen entspricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg glaubten nämlich viele Menschen in den baltischen Staaten, die westlichen Staaten würden die Balten bei ihren Freiheitskampf unterstützen und militärische Hilfe leisten. Dies wurde in vielen westlichen Radiostationen, die ihre Sendungen in das Baltikum ausgestrahlt haben, versprochen.
Vor einigen Jahren haben Litauer einen Film über ihren Widerstand gegen die sowjetische Besatzung gedreht. Der Titel dieses Filmes ist symbolisch – „Ganz allein“. Mit dem Streifen betont man, dass die baltischen Nationen nach dem Krieg „alleine sitzen“ und ohne die Hilfe des Westens auskommen mussten. Symbolisch sind auch die Bemerkungen eines prominenten Politikers während der Grußansprache an die Landsleute aus Anlass der litauischen Aufnahme in der NATO zu verstehen: „Jetzt sind wir nicht mehr ganz allein ...“
Auf der Suche nach einem eigenen Weg
Nationale Befreiungsbewegungen gab es in den baltischen Staaten seit 1988. Bereits zwei Jahre später sind sie – einer nach dem anderen – aus der Sowjetunion ausgeschieden, um ihre eigenen Staaten wiederzubegründen. Dies muss pointiert werden, weil die starke Illusion, es handele sich um eine Restauration, ein Jahr angedauert hat. Man glaubte, man könne an einem Tag einfach vom sowjetischen Alptraum aufwachen, um an der Stelle der eigenen Staatlichkeit vor 1940 weiter zu machen. Es war damals sehr beliebt, möglichst vieles aus der Zeit vor der Besatzung wieder aufleben zu lassen. Parteien und Jugendorganisationen, die vor dem Krieg aktiv waren, ebenso wie Zeitungen aus der Zeit vor der Besatzung wurden nun wieder ins Leben gerufen.
In den ersten Aufbaujahren der Unabhängigkeit gab es keine scharfen Unstimmigkeiten darüber, ob die baltischen Staaten in NATO oder EU einzutreten sollten oder nicht. Diese Organisationen wurden zweifellos als Verbündete begriffen. Absurd war es allerdings, schon über die NATO-Mitgliedschaft zu reden, als sich noch Teile der sowjetischen Truppen im Lande aufhielten. Die Aufnahme in die EU lag damals noch in weiter Ferne. Viele Balten wollten eher neutral bleiben und neue, zu enge Bindungen vermeiden, war es doch genug gewesen, sich aus der vorherigen erzwungenen Union zu befreien. Sehr rasch wurde aber klar, dass sich die Staaten im Vergleich zur Zeit vor fünfzig Jahren stark verändert hatten. Auch ist es nicht so einfach, das zu verändern, woran man sich über Jahrzehnte gewöhnt hatte.
Die wiedererlangte Freiheit war berauschend, machte aber auch Angst. Die meisten Menschen waren daran gewöhnt, dass man sich um sie kümmert; Eigeninitiative war ihnen fremd. Sie gaben sich der Illusion hin, dass nach dem Ende der Planwirtschaft und dem Sturz des totalitären politischen Systems alles von alleine gedeihen würde. Aber Zerstören war leichter als Aufbauen. Die Neugestaltung verursachte auch neue Wunden, etwa wachsende soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Mängel in der medizinischen Fürsorge, fehlende soziale Betreuung und Verfall des Bildungssystem. Die Menschen brachten ihr Geld in die Banken, wo man ihnen fantastische Zinsen versprach. Später klopften sie mit den Fäusten an die ins nirgendwo verschwundenden Türen dieser Banken und schimpften auf das neue System, aber nicht auf ihre eigene Arglosigkeit. Dazu kam, dass die alte Nomenklatur nicht verschwunden war. Die meisten ihrer Mitglieder haben die neuen Veränderungen sehr gut genutzt. Sie verfügten über mehr Information, hatten mehr Geld und weniger moralischer Skrupel. Die alte Elite ist gleich zur neuen geworden.
Wegen jedem Unglück klagten die Exkommunisten die Veränderungen, den Nationalismus und die Fehler der neuen Regierungen an und versprachen Stabilität. 1992/93 stellten sie wieder in allen baltischen Staaten die Regierung. Interessant war: Zwei ihrer Argumente gegen die ihrer Ansicht nach viel zu große Begeisterung für den Westen waren die Radikalität der Reformen und die unmotivierte Angst vor Russland. Damit hat beispielsweise der frühere Vorsitzende der Kommunistischen Partei Litauens, Algirdas Brazauskas, in der Präsidentschaftswahl von 1993 gegenüber dem während der Okkupation im Westen lebenden Diplomaten Stasys Lozoraitis, der die Vorkriegsordnung symbolisierte, den Sieg davon getragen. Einer der Trümpfe von Brazauskas war sein Status als „Einheimischer“.
Die Exkommunisten betonten die Notwendigkeit guter Beziehungen zu Russland; man könne die sowjetische Periode nicht wie eine benutzte Tischdecke wegwerfen, denn es habe auch gute, nicht nur schlechte Entwicklungen gegeben. Dennoch weiteten sich die Kontakte zum Westen aus und führten letztlich dazu, dass in der Rhetorik der Exkommunisten mehr und mehr prowestliche Noten anklangen.
Blickt man auf die Grundlinien der Veränderung in Litauen, so zeigt sich folgendes Phänomen: Die Achse im politischen Leben Litauens war nicht die Divergenz der politischen Ideale oder der unterschiedlichen Sozialprogramme, sondern die andere Wahrnehmung der Vergangenheit und das daraus entstandene und vorgeschlagene Reformtempo. Die „rechten“ Politiker sind solche geworden, die radikale, prompte Reformen forderten und die Sowjetzeiten als schwere Krankheit bezeichneten. Die „linken“ Politiker sind die, nach deren Meinung in Sowjetzeiten nicht nur schlechte, sondern auch gute Dinge geschahen, man allenfalls manches revidieren müsse und Russland nicht als Feind, sondern als Verbündeter anzusehen sei. So ist durch das Comeback der Exkommunisten in die Regierung der Übergang in die westliche Hemisphäre nicht von Grund auf gestoppt, sondern nur verlangsamt worden. Zeitgleich mit dem idealistischen Motiv („Unser Kommen zurück nach Europa ist wie eine Heimkehr“) verstärkt sich ein pragmatisches („Nach der Vereinigung mit Europa werden wir satter, sicherer und reicher leben“).
Im Jahr 1993 hat sich die sowjetische Armee endgültig aus den baltischen Ländern zurückgezogen. Die baltischen Staaten haben sich noch im gleichen Jahr um die Mitgliedschaft in der EU und der NATO beworben.
Integration, Gefahr aus Russland und „innere Dämonen“
Es wäre falsch zu sagen, dass die Entscheidung, sich nach Westen zu orientieren, keine Diskussionen im Inneren der baltischen Staaten hervorgerufen hat. Wir sollten nicht vergessen, dass nur Litauen weitgehend national homogen ist; in Lettland und Estland leben große russischsprachige Bevölkerungsgruppen. Diese reagierten gegenüber der Westannäherung kritisch und sprachen sich für eine Annäherung an Russland aus.
Zugegebenerweise war die Diskussion um die Öffnung in Richtung Westen sehr oberflächlich. Die rechten Politiker betonten, der Westen sei die einzige Alternative zu Russland, Neutralität stelle in der heutigen Situation eine Selbsttäuschung dar, da man dann noch tiefer in die Einflussnahme Russlands gerate. Die linken Politiker argumentierten, die Integration in das moderne westliche System sei der einzige Weg, die nationalistischen Ambitionen der Rechten abzuwehren. Die religiösen Gemeinschaften spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Im katholischen Litauen warben Amtsträger und Priester rastlos für das Zusammengehen mit dem Westen. Johannes Paul II. wurde sehr oft mit dem Bild Europas, das „seine zwei Lungenflügel braucht“, zitiert. In Lettland und Estland war der Einfluss religiöser Gemeinschaften zwar geringer; dennoch veranlassten viele Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirchen die Bevölkerung dazu, die Idee der Integration zu unterstützen.
Die Argumente der Befürworter kann man in vier Gruppen einteilen:
Das Argument der Heimkehr. Die Restauration der Vorkriegszeit stößt auf ungeheuerliche Schwierigkeiten. Wiederherstellen kann man nur die Fassade, aber nicht das Innere des staatlichen Palastes. Viel lebendiger war die Idee der Heimkehr nach Europa. Die baltischen Staaten wollen nicht nur in eine neue Union hinein, sondern einfach zurück in das Haus, aus dem sie gestoßen wurden. Einer der estnischen Freiheitskämpfer, Tune Kelam, sagte 1993: „Wir sind noch nie aus Europa weg gewesen. Ganz einfach: Europa hat seine traditionellen Grenzen verlassen und war geschrumpft, das sowjetischer Monster hatte es bedrängt. Heute können wir die traditionellen Grenzen wieder herstellen.“
Das Argument der Sicherheit. Die Notwendigkeit, einer Bedrohung aus Russland zu begegnen, trieb die baltischen Staaten zur Integration in den Westen. Immer öfter waren von dort die Worte vom „naheliegendem Ausland“ zu hören, ebenso die Aufforderung an die baltischen Staaten, „zurück zu kommen“. Die Sicherheit wurde das dringendste Argument – Ausgaben für die Bildung hingegen zurück gestellt.
Das Argument der „inneren Dämonen“. Der Pakt der Unabhängigkeit bedeutete nicht nur ein „Fliehen“ aus dem Einflussbereich Russlands, sondern auch einen endgültigen Sieg gegen die aus der Sowjetzeit noch innewohnenden „Dämonen“. Die ersten Jahre der Unabhängigkeit waren wesentlich für die Übernahme des ökonomischen und politischen „Know-hows“ des Westens. Heutzutage scheint klar zu sein, dass die Korruption das größte Problem in den postkommunistischen Ländern ist. Mit der Hoffnung auf die richtige Rezeptur zur Lösung dieses Problems beginnt man, in Richtung Westen zu schauen.
Argument der Pragmatik. Anfangs war dieses Argument bei den Exkommunisten sehr populär, später wurde es auch offen von der Mehrheit anderer Politiker und Aktivisten des öffentlichen Lebens gebraucht. Die Mitgliedschaft in der EU lockte viele Politiker, da man hoffte, bei dieser Gelegenheit etwas vom großen Strom der Unterstützung zu bekommen. Vor dem Referendum zum EU-Eintritt haben einige Agitatoren allerdings etwas übertrieben versucht, für die EU zu werben, sodass es schien, nach dem Eintritt in die EU sei Litauen ein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Wie sind die Argumente in ihrer Wirkung einzuschätzen? Das ist schwer zu sagen. Richtig ist, dass es sich um einen Komplex aus vielen Argumenten und um einen überzeugenden Komplex handelt. Die baltischen Staaten sind ohne inneren Zweifel geradlinig auf dem Weg der Integration in den Westen marschiert. Schon 2004, viel früher, als die größten Optimisten in den ersten Jahren der Unabhängigkeit zu hoffen glaubten, erreichten die Länder ihre höchsten außenpolitischen Ziele.
Ende der Reise oder Zwischenstation?
Wenn man den zurückgelegten Weg in der Retrospektive betrachtet, kann man eine besondere Enttäuschung erkennen. Es ist schade, dass nach fünfzehn unabhängigen Jahren die baltischen Staaten noch nicht ausdiskutiert haben, wie das zukünftige Europa ihrer Ansicht nach aussehen soll. In den letzten Jahren der Vorbereitung hat man befürchtet, die westlichen Partner seien der Ansicht, die Überzeugung in den Baltischen Staaten für eine Mitgliedschaft sei nicht ausreichend, und so hat man Diskussionen zum Thema „Integration“ von allen Seiten niedergehalten. Ganz bewusst hat man eine „Utopie des Westens“ entworfen. Als Folge bildete sich rasch die Gefahr einer Welle der Enttäuschung heraus. Dass das reale Europa sich von einem idealen Europa unterscheidet, ist nun verstanden worden. Problematisch ist die Rhetorik der „Heimkehr“. Der größte Anteil der Bevölkerung in den baltischen Staaten sieht in den anderen EU-Staaten nicht die Partner, sondern Spender: „Wie viel vom Anteil bekommen wir aus Europa?“ Diese Frage ist leider populärer als: „Welches Europa wollen wir?“
Wie auch immer: Einige kritische Beobachtungen sollen anderseits auf keinen Fall eine der wichtigsten Tatsachen verdecken – die Einigung Europas ist ein Wunder, das wir heute noch nicht adäquat einzuschätzen fähig sind. Noch vor einigen Jahrzehnten schien die heutige Situation utopisch. Der Traum ist Wirklichkeit geworden.
Anderseits sollte man sich schon selbst fragen, ob das Ziel erreicht ist, die Reise schon zu Ende ist – oder es sich nur um das Finish einer Etappe handelt. Den Menschen in den baltischen Staaten wird immer bewusster, dass die Zugehörigkeit zur EU und zur NATO weite Möglichkeiten öffnet, aber nicht garantiert, dass diese ausgenützt werden. Es bedarf vieler Bemühungen, einiger Initiativen und viel Arbeit, wenn man will, dass die Möglichkeiten die erhofften Früchte tragen. Die Reise geht also weiter. Wichtig ist es, dass wir, die Bevölkerung der baltischen Staaten, diese Reise zusammen mit der Unterstützung der „Brüder und Schwestern aus der EU und den NATO-Ländern“ unternehmen. Ich bin davon überzeugt, dass wir ohne diesen Schutz nicht mehr auf der Stelle verharren werden.
Übersetzung aus dem Litauischen von Orinta Z. Rötting.