Katholische Kirche in Litauen
„Land der Kreuze“ – so wird Litauen, das kleine katholische Land an der Ostsee, oft genannt. Und wer Litauen einmal besucht hat, der wird bestätigen können, dass Litauen mit Recht so genannt wird. Nicht nur wegen des Kreuzbergs bei Šiauliai, sondern auch wegen der vielen Wegkreuze und Bildstöcke, denen man in Litauen auf Schritt und Tritt begegnet. Auch der Titel „Land Mariens“ hat seine Berechtigung, nicht nur wegen der Weihe der polnisch-litauischen Adelsrepublik an die Gottesmutter 1656, die durch Litauen 1918 und 1991 erneuert wurde, sondern auch wegen der starken Verehrung der Gottesmutter, die sich in den vielen Marienwallfahrtsorten, Marienkirchen und Marienbildern augenscheinlich zeigt und die ein tragendes Element der Volksfrömmigkeit in Litauen ist.
Historische Streiflichter
Im Jahre 2009 wird Litauen das Millennium seiner erstmaligen urkundlichen Erwähnung begehen. Denn im Jahre 1009 wurde Litauen erstmals in den Quedlinburger Annalen erwähnt – im Zusammenhang mit dem Martyrium des hl. Brun von Querfurt. Als letztes Land Europas nahm Litauen erst 1387 das Christentum an. Daher gab es in Litauen auch kein christliches Mittelalter, die wichtigsten Elemente der litauischen Religiösität entwickelten sich erst in der Zeit der Gegenreformation und des Barock. Bis ins 20. Jahrhundert war der katholische Glaube eine dörfliche Religion ohne größere Bindung zur Stadtkultur.
Die Annahme des abendländischen Christentums orientierte Litauen seither in einer sehr wechselvollen Geschichte auf die abendländische Kultur und ihre Werte. Litauen gehört als integraler Bestandteil zur europäischen abendländischen Kultur und Geschichte. Das hat Litauen auch immer so gewollt. Denn die Entscheidung des litauischen Großfürsten und späteren polnischen Königs Jogaila (polnisch: Władysław II. Jagiełło) für die Annahme des lateinischen Christentums war auch eine eindeutige politische Entscheidung: eine Entscheidung für Rom und Europa und eine Entscheidung gegen Byzanz und Moskau. Die Bedeutung dieser Entscheidung ist in der Tragweite ihrer Auswirkungen nur zu vergleichen mit der heutigen Entscheidung der Länder Mittel- und Osteuropas für den Beitritt zur EU.
Litauen hat eine mehrere Jahrhunderte währende gemeinsame Geschichte mit Polen. Was allerdings bei der Übernahme des lateinischen Christentums über Polen problematisch war, ist die Tatsache, dass die wichtigen Adelsfamilien sehr bald der Polonisierung erlagen und Litauen eher zu einer Randprovinz der „Republik beider Völker“ wurde. Polen blieb für Litauen immer das Tor nach Europa, trotz der spannungsbeladenen politischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere in der Zeit der sowjetischen Okkupation spielte Polen eine enorm wichtige Rolle für Litauen, das vielen Polen besonders am Herzen lag. Kritische kirchliche Gruppen in Polen und die Solidarność haben einen außerordentlich wichtigen Einfluss auf die litauische Freiheitsbewegung ausgeübt.
Wie für andere Länder Mittel- und Osteuropas, so ist auch für Litauen das ausgehende 20. Jahrhundert eine Zeit großer und lange herbeigesehnter gesellschaftlicher und politischer Veränderungen geworden. Nach der Überwindung des kommunistischen Systems stand Litauen vor dem Aufbruch in eine demokratisch geprägte Gesellschaft als Aufgabe und Herausforderung. Die Menschen in diesen Ländern haben das gewollt. Und doch traf sie – vielleicht mit Ausnahme Polens und Tschechiens, wo man sich in kirchlichen und Dissidentenkreisen bereits Gedanken über eine alternative, demokratische Gesellschaftsordnung gemacht hatte – dieser Zusammenbruch unvorbereitet, insbesondere hinsichtlich der Fähigkeit und Bereitschaft zur Übernahme verantwortlicher Positionen im gesellschaftlichen und politischen Leben.
Kirchliche Entwicklungen seit 1989
Für die Kirche ergab sich im Prozess der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens nun die Möglichkeit wichtiger struktureller Veränderungen, die sich zwischen 1988 und 1997 vollzogen. Die Grenzen der litauischen Kirchenprovinz wurden neu festgesetzt, die Hierarchie neu geordnet, eine innere Reorganisation und die Errichtung neuer kirchlicher Institutionen wurden vollzogen. 1988 wurde Vincentas Sladkevičius zum Kardinal ernannt; 1989 wurden vier neue Bischöfe geweiht, durch die Papst Johannes Paul II. die in der Sowjetzeit tätigen apostolischen Verwalter ersetzte. Die neu festgelegte litauische Kirchenprovinz bildeten nun die sechs Diözesen Vilnius, Kaunas, Telšiai, Kaišiadorys, Panevėžys und Vilkaviškis. Die hoch angesehenen Julijonas Steponavičius und Vincentas Sladkevičius wurden zu Erzbischöfen in Vilnius und Kaunas ernannt. 1991 wurden nach Unterzeichnung eines Vertrages zwischen Litauen und dem Vatikan zwei neue Weihbischöfe geweiht und die Erzbistümer Vilnius und Kaunas zu Metropolien erhoben, die je zwei Suffraganbistümer haben. Nach dem Tod des Vilniuser Erzbischofs ernannte der Papst Audrys Juozas Bačkis, der zuvor wichtige Ämter in der vatikanischen Diplomatie inne gehabt hatte, zum neuen Erzbischof. Diese Ernennung zeigt auch, wie wichtig es Johannes Paul II. war, der Rezeption der Konzilsideen in Litauen zum Durchbruch zu verhelfen. Nachdem 1996 Sigitas Tamkevičius, eine der Symbolfiguren der Untergrundkirche, zum Erzbischof von Kaunas geweiht wurde, sind es diese beiden Bischöfe, die das Fundament der Erneuerung der litauischen Kirche im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils bilden. Mit der Errichtung des neuen Bistums Šiauliai 1997 fand die Neuordnung der Diözesangrenzen ihren Abschluss.
Erschwerend ist aber, dass diese Kirche weithin immer noch von einem Klerus verwaltet wird, der lange Zeit gewohnt war, keine andere kirchliche Autorität über sich zu haben, und deshalb eifersüchtig seine Macht verteidigt. Es gibt in Litauen keine feste Besoldung der Priester durch das Bistum. Das hat zur Folge, dass es eine krasse Diskrepanz zwischen sehr reichen und sehr armen Pfarreien gibt. Eine Solidarität zwischen Priestern reicher und armer Gemeinden sucht man in Litauen weithin vergeblich. Deshalb kam einer Reform der Priesterausbildung in Litauen eine große Bedeutung zu. So wurden auch sehr bald Seminare in Telšiai, Vilnius und Marijampolė wiedererrichtet, um dem Priestermangel zu begegnen. Das Fehlen einer genügenden Anzahl von entsprechend ausgebildeten Priestern ist aber nur eines der zu bewältigenden Probleme. Andere Probleme kommen hinzu: das Fehlen von ausreichend qualifizierten Lehrkräften für die Seminare, das durch die Folgen politischer Isolation bedingte Defizit von 50 Jahren theologischer Entwicklung, die sehr verspätete und zögerlich erfolgende Rezeption der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. So müssen in einem gewissen Sinn die Seminare in Litauen immer noch Aufklärungsarbeit für die Akzeptanz des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner richtungsweisenden Beschlüsse leisten. Unter nicht wenigen Amtsträgern ist eine gewisse Furcht und Ablehnung von theologischen und kirchlichen Entwicklungen im Westen verbreitet, ohne diese eigentlich ausreichend zu kennen. Das führte unter anderem auch dazu, dass erst ganz allmählich begabte Theologiestudenten zum Studium nach Rom, Erfurt und Paris geschickt wurden, nicht aber interessanterweise nach Polen, was sicher mit zum Teil immer noch vorhandenen Ressentiments zu tun hat, die aus der jüngeren gemeinsamen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg herrühren.
Die Kirche Litauens hat heute immer noch eine sehr große Chance. Sie ist für viele, die sich verloren und um die Früchte der Veränderungen betrogen fühlen, zu einem Ort der Zuflucht und der Hoffnung geworden. Die Menschen in Litauen erwarten immer noch etwas von ihr. Wie aber reagiert die Kirche darauf? Spürt sie, dass jetzt nicht nur endgültige Entscheidungen über die politische Zukunft des Landes gefällt werden, sondern dass damit auch eine Entscheidung gefällt wird über die Zukunft der Kirche und über ihren Ort und ihre Bedeutung in der Gesellschaft? Mir scheint, dass die Kirche in Litauen angesichts dieser Herausforderung ratlos und hilflos reagiert. In den meisten Fällen greift man immer noch eher zu den scheinbar bewährten Mitteln und Instrumentarien der Vergangenheit, als es galt, dem Machtanspruch des Kommunismus zu widerstehen. Was unter den Bedingungen des Widerstands ein Positivum war, erweist sich jetzt eher als nachteilig, denn es gelang und gelingt leider nicht in gleichem Maße, die positiven Werte des Christentums in die neue Gesellschaft einzubringen. Weithin herrscht immer noch ein kurzsichtiger Traditionalismus vor. Stimmen wie die des Vilniuser Erzbischofs Kardinal Bačkis („Ich gehe nicht nach Litauen, um das alte katholische Litauen zu restaurieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich eine neue Gesellschaft entwickelt hat. Wir müssen verstehen, dass in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils eine neue Kirche aufgebaut werden muss“) sind eher die Ausnahme. Nicht außer acht gelassen werden darf außerdem die Tatsache, dass es im östlichen Europa – außer in Polen und Tschechien – fast nirgendwo eine gut ausgebildete politisch alternative oder kirchliche Elite gab, die ernstzunehmende Konzepte oder Visionen für die Zukunft anzubieten gehabt hätte, wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass die Kirche in Litauen sehr hohe personelle Verluste durch die kommunistische Unterdrückung zu erleiden hatte. Die scharfe Konfrontation zwischen Kirche und Staat führte als Konsequenz zu einer durch den Klerus dominierten Kirche. In einer Wagenburgmentalität sind aber Meinungsvielfalt, Differenzierung oder gar abweichende Meinungen eher eine Gefahr. Eine Kirche, die sich jedoch nicht ausreichend mit der Welt, in der sie lebt, auseinandersetzt, gerät zunehmend in die Gefahr, nicht mehr gehört und ernst genommen zu werden.
Die Religiosität nahm in der Zeit nach der gesellschaftlichen Wende erst einmal zu. So bezeichneten sich beispielsweise 1990 57 Prozent der Bevölkerung als katholisch, 1995 sogar 85 Prozent, aber bereits 1997 nur noch 68 Prozent. Aber man darf sich nun nicht der Illusion hingeben, dass dieser Prozess ein Dauerphänomen ist, und ebensowenig, dass dies zu einer größeren Offenheit der Kirche geführt hätte. Was von nicht wenigen Protagonisten in der Kirche übersehen wird, ist die Tatsache, dass für sehr viele Menschen und auch viele Christen nicht mehr in erster Linie die Bewahrung der Tradition wichtig ist, sondern der Umgang mit der Freiheit, die Machbarkeit der Zukunft und vor allem eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation im Hinblick auf mehr Menschlichkeit und Lebensqualität. Kirche muss begreifen, dass der Großteil dieser Menschen und auch der eigenen kirchlichen Klientel vor allem von den sich neu ergebenden Möglichkeiten mannigfaltigen Wandels fasziniert ist. Sie muss sich endlich dazu durchringen, sich von einer ängstlich besorgten Sachwalterin der Vergangenheit zur einer mutmachenden Weggefährtin in die Zukunft zu wandeln. Dann wird sie auch weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Gesellschaft Litauens spielen können.
Gesellschaftliche Stellung der Kirche
Die katholische Kirche nimmt in allen soziologischen Umfragen einen außerordentlich hohen Platz ein. Das hat viele Gründe. Das Christentum ist die Religion der Vorfahren. In der Zeit der russischen und der sowjetischen Okkupation hat insbesondere die katholische Kirche die nationale und kulturelle Identität Litauens bewahrt. So fühlen sich nun viele Litauer in einer ziemlich diffusen Weise als Katholiken: „Ich bin Litauer, getauft, esse am Heiligabend Hering und die traditionellen Fastengerichte, bemale zu Ostern Ostereier, ich halte mich an die katholischen Gebräuche – also bin ich ein Katholik!“ Diese weit verbreitete Art von Katholiken hat überhaupt keine Probleme, heidnische Riten zu tolerieren, an die Reinkarnation zu glauben und gleichzeitig die Kinder zu Taufe und Erstkommunion zu bringen oder sich kirchlich trauen zu lassen, da sie die Unvereinbarkeit solch gegensätzlicher weltanschaulicher Positionen nicht wahrnimmt.
Diese falsche Identifikation von Kirche und Nation hat dazu geführt, dass viele Litauer ihre vermeintlich christlichen Wurzeln und ihr Christsein überschätzen. Andererseits führte das aber auch dazu, dass nicht wenige Priester und Kirchenfürsten sowohl das Gewogensein der Litauer für die Kirche als auch die wirkliche Größe der eigenen Herde beträchtlich überschätzen, denn nur 8-15 Prozent der Litauer sind wirklich regelmäßig praktizierende Katholiken. Die sich aus den soziologischen Umfragen ergebende zahlenmäßige Popularität der Kirche darf nicht zu fehlerhaften Einschätzungen verleiten. Denn der Sturz des Kommunismus hat die Isolation der Kirche in Litauen nicht beendet, sondern nur verändert. Die Jahre der Isolation verhinderten sowohl, dass Katholiken zur Übernahme wichtiger Funktionen und Aufgaben im Leben der Gesellschaft befähigt wurden, als auch dass sie begriffen, dass es notwendig wurde, eine Lobbyarbeit in der Öffentlichkeit zur Vertretung eigener berechtigter Interessen zu betreiben.
Die Kirche ist in Litauen immer noch sehr populär – aber insbesondere auch deswegen, weil man fast nicht mit ihr rechnen muss. Sie mischt sich fast nie in politische Angelegenheiten ein. So hat sie praktisch auch keinen Einfluss auf die Mehrzahl der wirklich wichtigen politischen Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betreffen. Sollte die Kirche versuchen, ihre Autorität zur Intervention bei Fragen von gesellschaftlichem Interesse von der Position der Kirche her zu nutzen, würde sich meiner Ansicht nach nur noch ein ziemlich geringer Teil der heutigen litauischen Gesellschaft von christlichen Werten leiten lassen. Die Diskussion um ein Gesetz, das die künstliche Befruchtung legalisieren soll, und vor allem der ungeschickte Einmischungsversuch der Bischofskonferenz in den Streit um das Absetzungsverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Paksas sind ein augenscheinlicher Beleg dafür.
Ein weiterer Grund, warum die Stimme der Kirche in der Öffentlichkeit Litauens bisher immer noch nur schwach vernehmbar bleibt, liegt nicht nur an ihrer Isolation, sondern auch an einer Scheu der Kirche vor den Massenmedien und an einer fehlenden Konzentration des zahlenmäßig immer noch nicht ausreichenden intellektuellen Potenzials der Kirche. So besitzt die Kirche keine einzige Tages- oder Wochenzeitung. Die Medienpolitik der Bischofskonferenz ist nur schwer nachvollziehbar. Kirchliche Publikationen sind meist eher nur auf die Kirchgänger und nicht auf die ganze Gesellschaft orientiert.
Perspektiven
Die Kirche in Litauen steht an einem Scheideweg: Sie ist immer noch eine starke Kirche. Und ihre Bedeutung für die Gesellschaft wird eher noch zunehmen. Dazu muss sie sich aber im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils noch deutlicher den Fragen und Bedürfnissen der Menschen öffnen und wahrnehmen, dass die katholische Kirche auch in Litauen nur noch eine Kirche der Minderheit ist. Das kann nur gelingen, wenn der Klerus die Laien als eigenständige und kompetente Partner akzeptiert – dies insbesondere auch deshalb, weil die Kirche immer noch viel zu wenige eigene Experten besitzt, um durch sie einen stärkeren Einfluss in den intellektuellen Debatten auszuüben oder um attraktive eigene politische Alternativen formulieren zu können.
Die große Hoffnung dieser Kirche ist ihre Jugend. Das hat auch der Vorsitzende der litauischen Bischofskonferenz, Kardinal Audrys Juozas Bačkis, deutlich bei der Eröffnung der Renovabis-Pfingstaktion im Mai 2003 in Köln zum Ausdruck gebracht. Ich halte diesen Optimismus für berechtigt, da inzwischen eine Generation von Jugendlichen herangewachsen ist, die nicht mehr von der kommunistischen Vergangenheit belastet ist, eine Generation, die nach vorwärts schaut, die die Dinge zum Positiven hin verändern möchte. Nicht ganz ohne Zufall ist es wohl, dass gerade die Jugendseelsorge in allen litauischen Bistümern die erste Sparte war, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt und sehr zur Glaubwürdigkeit von Kirche beiträgt.
Das ist aber immer noch erst ein Anfang, wie auch die Bistumssynode des Erzbistums Kaunas. Eine grundlegende Wende zum Besseren wird es nur dann geben, wenn die Hierarchen und Kleriker der Kirche Litauens ohne alle Befürchtungen und Vorurteile noch mehr und wirklich aufrichtig auf die katholischen Laien in diesem Land zugehen. Denn Kirche hat nur dann eine echte Zukunft, wenn alle bereit sind, miteinander Kirche zu sein.