Russland: Das Ringen um eine nationale Idee

aus OWEP 1/2006  •  von Paul Roth

Prof. Dr. Paul Roth ist Politikwissenschaftler und Professor em. der Bundeswehr-Universität München.

20 Jahre sind seit dem Beginn der Perestroika in Russland vergangen. Vorsichtige Schritte in Richtung auf eine „gelenkte Demokratie“ sind gemacht worden. Die Führungsrolle der KPdSU ist abgeschafft, die Verfolgung der Religionsgemeinschaften ist beendet, die Meinungs- und Pressefreiheit ist teilweise verwirklicht. In der Diskussion sind geblieben die Mängel. Die Sowjetunion ist zerfallen. Einige wenige sind in Russland reich geworden, man nennt sie Oligarchen. Aber rund 30 Prozent der russischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

Man sucht nach einer nationalen Idee, die an die Stelle der Ideologie des Marxismus-Leninismus treten solle, um in der Russländischen Föderation mit 147 Millionen Einwohnern eine gemeinsame geistige – oder auch ideologische – Grundlage zu haben. Die bisherigen Bemühungen, einschließlich eines Preisausschreibens, sind erfolglos geblieben. Auch die Feier zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland hat ihren Platz bei der Suche nach einer „nationalen Idee“. Der russische Publizist Wladimir Ostrogorskij schrieb zu diesem Siegestag: „Was uns wurmt, ist der Niedergang des Heimatlandes. Wir wollten es frei, friedlich, geeint und reich sehen, nicht aber erniedrigt, zerfallen und arm. Deswegen stellt sich den Veteranen die sakrale russische Frage ‚Haben wir etwa dafür gekämpft?‘ “ Ostrogorskij ist Kriegsveteran.

West- oder Ostorientierung?

Die Politik Putins richtet ihren Blick auf den Westen, seine demokratischen Errungenschaften, seine wirtschaftlichen Erfolge. Die alten Feindbilder sind weitgehend verschwunden. Dies war deutlich zu sehen, als man in Moskau den 60. Jahrestag des Sieges feierte. Selbst von der Versöhnung mit Deutschland wurde gesprochen. Russland möchte in Europa wieder mitreden, möchte mit den USA zu einem partnerschaftlichen Verhältnis kommen.

Gleichzeitig geistert jedoch auch die Vorstellung von einer engeren Zusammenarbeit mit China und Indien – als eine Art Gegengewicht – herum. Damit ist auch die Diskussion über Eurasien indirekt verbunden. Ihre Anhänger sehen in Russland ein einzigartiges Land, in dessen Geschichte Politik und Kultur Europas und Asiens miteinander verschmolzen sind. Für die Eurasier ist die Ausrichtung auf den Westen, die Einflussnahme aus dem Westen, ein Verrat an der Identität Russlands. Von ganz anderer Seite – nämlich von Seiten des Moskauer Patriarchates – erhalten sie Argumentationshilfe. Von dort erschallen Stimmen, dass die Sittenverderbnis nach der Perestroika aus dem Westen gekommen sei. Einige Scharfmacher behaupten sogar, diese moralische Zersetzung sei vom Westen gewollt.

Lenin- und Stalinanhänger

Die Entstalinisierung begann unter Chruschtschow im Jahre 1956. Die einbalsamierte Leiche Stalins wurde aus dem Lenin-Mausoleum entfernt, erhielt allerdings nicht weit vom Mausoleum einen Ehrenplatz. Heute kann man ab und an Blumen vor der Stalinstele sehen. Inzwischen konnte „Memorial“ ein Namensverzeichnis jener Personen veröffentlichen, die auf Geheiß Stalins erschossen worden waren. Im Jahre 2003, 50 Jahre nach Stalins Tod, veröffentlichte E. Prudnikowa in Petersburg ihr Buch „Stalin. Die zweite Ermordung“. Darin behauptet sie, dass die Berichte über ihn nach seinem Tod aus Desinformationen westlicher Geheimdienste und Emigrantenorganisationen und aus den Memoiren Trotzkis zusammengefügt worden seien.

Die Stalinstatuen wurden nach der Perestroika an vielen Stellen entfernt. Jetzt sind jedoch in Taiginke, Gebiet Tscheljabinsk, und in Ischim, Gebiet Tjumen, Stalindenkmäler wieder aufgerichtet worden. Die Stadtväter von Mirny gaben bei einem Petersburger Betrieb eine Bronzebüste Stalins in Auftrag mit der Inschrift „Von den Veteranen und dankbaren Nachgeborenen“. Der Vorsitzende der Nachfolgeorganisation der KPdSU mit der Abkürzung KPdRF, Gennadi Sjuganow, erklärte auf einer Konferenz der kommunistischen Parteien der GUS-Länder: „Wir haben entschieden, dass der große Stalin keiner Rehabilitation bedarf“, und verwies auf Stalins Beitrag zum Sieg 1945. Jahrzehntelang war das Lenin-Mausoleum das Mekka der Kommunisten. Bis heute kann man ab und zu Majakowskis Worte lesen „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird immer leben“. Ein Plakat aus der Zeit Gorbatschows zeigt diesen als Dirigenten, der nach der Partitur „LENIN“ das Orchester dirigiert.

Im April 1989 äußerte ein Moskauer Regisseur in der Fernsehsendung „Wsgljad“ den Vorschlag, den heidnischen Kult mit der Leiche Lenins zu beenden. Es gab einen Riesenskandal. Die Auseinandersetzung darüber zieht sich bis in die Gegenwart hinein. Als 2004 das Thema erneut diskutiert wurde, kam die Äußerung aus dem Patriarchat, man könne eventuell eine Seelenmesse für Lenin zelebrieren.

Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada von 2003 unterstützen 36 Prozent der Bevölkerung die These „Welche Fehler und Vergehen man Stalin auch zuschreibt, die Hauptsache ist, dass unser Volk unter seiner Führung als Sieger aus dem Krieg hervorging.“

Religion und Monarchie

Als Gorbatschow die Verfolgung der Religionsgemeinschaften beendete, tat er das nicht etwa, weil er sich zum Christentum bekannt hätte. Er erkannte, dass er für seine Perestroika auch die Stimmen der Gläubigen brauchte. Auch war klar, dass in der allgemeinen moralischen Verwirrung nur noch die Religionsgemeinschaften über allgemeingültige Wertmaßstäbe verfügten.

Der „religiöse Boom“ Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre kam vor allem dem Moskauer Patriarchat zugute. Viele – auch zahlreiche Erwachsene – ließen sich taufen. Die Zahlenangaben, die suggerierten, dass die Hälfte der Bevölkerung gläubig sei, sind jedoch dubios. Soziologen stellten fest, dass viele sich taufen ließen, weil das nun einmal „russischer Brauch“ sei, ohne Kenntnis über die Religion, zu der sie sich bekannt hatten. Kritiker meinen, dass eine „Symphonie“ von Staat und Moskauer Patriarchat angestrebt wird, d. h. eine Situation wie zur Zarenzeit. Putin hat sich als getaufter Christ zu erkennen gegeben.

Wer die Sowjetunion bzw. Russland aus verschiedenen Entwicklungsperioden kennt, trifft heute auf zahlreiche wieder eröffnete Kirchen, kann Prozessionen beobachten, kann die Bibel kaufen usw. Die unter Stalin gesprengte Christus-Erlöser-Kirche in Moskau wurde mit öffentlichen Geldern wieder errichtet. Sie ist Gotteshaus und nationales Denkmal, denn einst verherrlichte sie den Sieg über Napoleon. Sie passt also in den großen Rahmen einer „nationalen Idee“.

Ikonen waren in der Verfolgungszeit entweder vernichtet, ins Ausland verkauft oder in Museumsarchiven unschädlich gemacht worden. Jetzt kann man sie an vielen Orten sehen, die Ikonenmalerschulen dürfen wieder arbeiten. Der Ikonenmaler Sinon erhielt einen Staatspreis, Kosmonauten haben Ikonen mit in den Weltraum genommen, Pressefotos zeigen Putin beim Küssen einer Ikone. Eines scheint allerdings nicht geglückt zu sein, die Verminderung der Kriminalität. Der Sowjetmensch, der über Jahrzehnte, um zu überleben, gelernt hatte zu lügen, zu betrügen, zu unterschlagen, Gewalt anzuwenden – den findet man tagtäglich in Zeitungsmeldungen wieder.

Die „Gemengelage“ spiegelt sich in der Aufzählung der arbeitsfreien Tage wieder: Neujahr (1. und 2. Januar), orthodoxe Weihnacht (7. Januar), Tag der Vaterlandsverteidiger (23. Februar), internationaler Frauentag (8. März), Fest des Frühlings und der Arbeit (1. und 2. Mai), Tag des Sieges (9. Mai), Russlandtag (12. Juni), Jahrestag der Oktoberrevolution/Tag der Eintracht und Versöhnung (7. November), Tag der Verfassung der Russischen Föderation (12. Dezember).

Von orthodoxer Seite wird ab und zu erwähnt, wie gut die Beziehungen zwischen der Monarchie und der Kirche gewesen seien. Es gibt Gruppierungen von Monarchisten, doch haben sie bisher politisch keine Rolle gespielt. Die Wiederauffindung der Überreste der Zarenfamilie, ihre feierliche Beisetzung in St. Petersburg und die Heiligsprechung haben durchweg ein positives Echo in der Bevölkerung hervorgerufen. 1918 war die Zarenfamilie in Jekaterinburg (dem späteren Swerdlowsk) ermordet und im Walde verscharrt worden. Am 11. Juli 1991 wurden auf einem Waldweg fünfzehn Kilometer von Swerdlowsk entfernt die Überreste ausgegraben. 1993 wurde in Zarskoje Selo bei St. Petersburg eine Büste von Nikolaus II. aufgestellt, 1996 wurde im Dorf Tajninskoje bei Moskau ein gewaltiges Denkmal für ihn enthüllt, ein Jahr darauf wurde es allerdings durch eine Sprengladung einer Gruppe „Rote Arbeiter- und Bauernarmee“ zerstört. Am 17. Juli 1998 wurden die sterblichen Überreste der Zarenfamilie feierlich in der Peter-Paul-Kathedrale in St. Petersburg beigesetzt. Sowohl die Russische Orthodoxe Kirche in Russland als auch die Russische Orthodoxe Kirche des Auslands verehren die Zarenfamilie als „Heilige Dulder“. An der Stelle, wo einst das Haus gestanden hatte, in dem die Zarenfamilie ermordet worden war, wurde ein Kreuz errichtet und eine Kapelle gebaut. Mehrmals wurde versucht, sie anzuzünden. Dann entschloss man sich, am gleichen Platz eine Kathedrale zu errichten. Beim Bau der Kathedrale, die inzwischen fertiggestellt sein müsste, wurde der Zweifel, ob es sich bei den in St. Petersburg feierlich Beigesetzten wirklich um die Überreste der Zarenfamilie gehandelt habe, allerdings wieder lebendig.

Auch in den Beziehungen zum Islam, die von Moskau lange vernachlässigt worden waren, scheint sich ein Schwenk abzuzeichnen. Putin hat sich mehrfach mit dem Mufti Tadschudin getroffen; nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 in New York sind die Kontakte vertieft worden. Die „Nesawisimaja gaseta“ (20. August 2003) informierte über eine Begegnung Putins mit dem Premierminister Malaysias. Putin schlug vor, Russland in die „Organisation islamische Konferenz“ aufzunehmen. Diese Organisation hat bisher die Unabhängigkeit Itschkerijas (Tschetscheniens) nicht anerkannt und somit indirekt Moskaus Einsatz von Truppen in Tschetschenien gestützt. Auf einem anderen Blatt steht jedoch die Tatsache, dass in der Bevölkerung Russlands die militärischen Maßnahmen in Tschetschenien teilweise kritisiert werden.

Der Sieg als Identifikationssymbol Russlands

Die Bürger Russlands leben in einer weitverbreiteten Verwirrung. Allerdings wird der Durchschnittsbürger mehr von Alltagssorgen bewegt als vom Ringen um eine „nationale Idee“. Der Moskauer Soziologe Lev Gudkov vom Lewadazentrum urteilt: „Der Sieg im Krieg, dem Großen Vaterländischen Krieg, ist das wichtigste Identifikationssymbol in Russland. Er ist die einzige positive Stütze für das nationale Selbstbewusstsein der Gesellschaft. Der Sieg im Krieg legitimiert im nachhinein das sowjetische totalitäre Regime ... Bis heute wirkt das Tabu, die Kehrseiten des Sieges aufzuarbeiten.“1

Putins Entscheidung für eine großartige Feier zum 60. Jahrestag des Sieges hat sich dieser Tatsache angepasst. Allerdings verlief nicht alles nach Plan. Ein Grund dafür war die fehlende Bereitschaft Putins zu einer Reueerklärung gegenüber den baltischen Staaten, die von der Sowjetunion annektiert worden waren.

Die russischen Medien widmeten sich dem Feiertag mit angestrengter Aufmerksamkeit. Fotos zeigten Putin beim Händeschütteln mit den Oberhäuptern der GUS-Staaten und den Präsidenten aus dem Ausland. Insbesondere Präsident Bush war mehrfach auf Fotos zu sehen.

Fazit

Die Nennung verschiedener Organisationen und Bewegungen in Russland musste unvollständig bleiben, zumal bei der Größe des Landes zahlreiche kleine oder mittlere Bewegungen unterschiedliche Färbungen erhielten. Der Krieg in Tschetschenien wurde nur gestreift und die Protestbewegung im Januar 2005 nicht einmal erwähnt. Die Regierung hatte eine Reihe von kostenlosen Vergünstigungen für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung, so z. B. für die Kriegsveteranen, abgeschafft. Das hatte zu einer Welle von Protestaktionen geführt. Aus einer Befragung im Februar ergab sich, dass 48 Prozent der Russen meinten, die Situation im Lande würde sich in nächster Zeit normalisieren, 39 Prozent waren der Meinung, dass die Unzufriedenheit zunehmen werde. Die überwältigende Zustimmung zu Putin beruhte vor allem auf der Überzeugung, dass er als Mann der „starken Hand“ Ordnung und Recht schützen oder verwirklichen könne.

Allerdings deutet Putins Politik weniger in die Richtung auf eine Demokratie westlicher Prägung, sondern auf eine autoritäre Herrschaft.

Letzte Meldung

Ein Ereignis am 7. Juni 2005 fügt sich in die Diskussion über eine „nationale Idee“ ein. An diesem Tage wurde gegenüber der Christus-Erlöser-Kirche in Moskau ein Denkmal für Zar Alexander II. enthüllt. Auf dem Sockel des Denkmals wird der Zar als „Zar-Befreier“ und „Zar-Reformer“ bezeichnet. Er hatte 1861 die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft.

An der feierlichen Zeremonie der Denkmalsenthüllung nahm der Bürgermeister von Moskau Jurij Luschkow teil. Die neu errichtete Christus-Erlöser-Kathedrale war auch mit Moskauer Geldern errichtet worden. Ferner kam Patriarch Alexej II. zur Zeremonie. Putin hatte seine Teilnahme zugesagt, kam dann aber nicht. Der Patriarch weihte das Denkmal.


Fußnote:


  1. Lev Gudkov: Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa, Nr.4-6/2005, S. 56-73, hier S. 56. ↩︎